Donnerstag, 31. Dezember 2009

Wer bist Du?


Blinzelnd öffne ich meine Augen. Grelles Neonlicht blendet mich. Wo bin ich? Ich wende den Kopf, richte mich langsam im Bett auf. Der Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase. Unangenehm. Neben dem Bett ist ein kleines Tischen, Zeitung liegt darauf und ein Stuhl steht davor. Es ist ein großes Fenster im Raum, von dort fällt Licht auf einen Sessel. Er ist leer. Ich bin alleine im Raum. Sein grüner Stoff wirkt abgenutzt. An irgendwas erinnert mich dieser Stoff – nur, an was? Ich komme nicht darauf. Vor dem Sessel ist ein Fernsehapparat. Aus, kein Licht leuchtet an ihm. Vielleicht ist er kaputt? Langsam richte ich mich im Bett auf. Sehe mich um, suche nach etwas Bekannten. Kann nichts finden. Merke wie mein Herz schneller schlägt und ziehe laut hörbar die Luft ein, um mich zu beruhigen. Sehe an mir herunter. Trage meinen alten, abgenutzten Jogginganzug. Die Berührung des Stoffes und der vertraute Geruch beruhigt mich ein wenig. Aber was mache ich hier in diesem fremden, kalten Raum? Höre ein Geräusch. Die Tür öffnet sich. Ich sehe auf.

Ein junger Mann mit wachem Blick und freundlichem Lächeln betritt den Raum. Ich will ihn fragen wo ich hier bin, was los ist, aber er lässt mich nicht zu Wort kommen. Hält ein graues Tier im Arm. Sagt die Robbe bräuchte jemanden, der sie ein wenig aufmuntert und ich hätte doch Zeit. Habe ich Zeit? Ich weiß es nicht, weiß ja immer noch nicht wo ich hier bin und was ich machen soll. Er legt mir das Tier auf den Schoß. Ich betrachte es nachdenklich. Es sieht genauso Orientierungslos aus wie ich. Schaut mich mit großen, dunklen Augen an. Langsam strecke ich meine Hand nach der Schnauze aus – ob es mich beißen wird? Vorsichtig schnuffelt es an meinem Finger. Die Schnauzhaare kitzeln meine Fingerspitzen. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Mit zittrigen Fingern streiche ich der kleinen, grauen Robbe über den Kopf.

„Und?“, eine Krankenschwester mit nach hinten gebundenen Haaren schaut über die Schulter des jungen Pflegers. Beide stehen sie an der halb geöffneten Tür und beobachten den alten Mann mit der Stoffrobbe auf seinem Schoß.
Der Pfleger wiegt seinen Kopf von Seite zu Seite:
„Es scheint zu funktionieren. Er sitzt schon seit Stunden mit dem Tier auf dem Arm da, streichelt es und erzählt ihm Geschichten aus seinem Leben.“
Die beiden sehen sich kurz ins Gesicht. Ein Lächeln, ein Seufzen dann schließt sich die Tür wieder.

Ich bin müde. Muss ein wenig schlafen, bevor ich weiter suche, was ich hier in diesem fremden Zimmer mache. Als ich mich hinlege kuschelt sich mein neuer, pelziger Freund eng an mich an. Mit der einen Hand im Pelz und einem Lächeln auf dem Gesicht wandere ich langsam in die Welt der Träume. Eine sanfte Schwere nimmt Besitz von meinen Gliedern.
Blinzelnd öffne ich meine Augen. Grelles Neonlicht blendet mich. Wo bin ich? Ich wende den Kopf, richte mich langsam im Bett auf. Der Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase. Meine Hand stößt gegen etwas Weiches. Neben mir auf dem Bett liegt eine kleine, graue Robbe. Wie sie wohl hier her kommt? Sieht mich mit großen, dunklen Augen an. Wirkt genauso verloren wie ich. Vorsichtig strecke ich eine Hand zu ihrer Schnauze. Die Barthaare kitzeln mich an den Fingern, als sie an meiner Hand riecht. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Langsam wandere ich mit den Fingern zu dem Kopf des Tieres und streiche ihm über das warme, weiche Fell. Es scheint genauso wenig zu wissen, was es hier in diesem fremden Raum macht, wie ich.

Donnerstag, 24. Dezember 2009

Ich wünsche allen einen wunderschönen Weihnachtsabend & ruhige Festtage!
Erholung, Entspannung & nette Stunden mit Freunden und/oder Familie.

Liebe Grüße

Krypskytter

Donnerstag, 3. Dezember 2009

Bis vielleicht irgendwann...


Mit einem breiten Lächeln und nach hinten gedrückten Schultern hielt die groß gewachsene Frau mit dem leicht welligem, dunklen Haar der Stewardess ihr Flugticket hin. Diese nahm es ihr routiniert aus der Hand, schob es durch eine kleine Maschine, teilte es in zwei Hälften. Die Kleinere gab sie der Frau mit einem Nicken zurück. Unschlüssig stand sie da und drehte das Papier in ihren Händen. Das Lächeln war verschwunden. Ein Mann hinter ihr stieß ein paar unfreundlich klingende Worte in einer fremden Sprache aus. Mit seiner Schulter stieß er sie im Vorbeigehen ein Stück bei Seite. Eine Weile stand sie so, rieb sich ihren Arm und beobachtete die anderen Passagiere. Alle verschwanden sie mit dem kleinen Papier in der Hand in dem Gang hinter dem Kontrollschalter. Seufzend zuckte sie mit den Achseln und schloss sich der Karawane an.

Ein Schlauch führte sie bis zur Tür des Flugzeuges. Mit großen Augen starrte sie das Gebilde an. Immer wieder drängelten sich andere Menschen an ihr vorbei. An der Tür drückte sie einem Steward ihr kleines Papier in die Hand. Der warf einen kurzen Blick darauf, gab es ihr zurück und deutete mit seiner Hand nach rechts. Sie folgte der Anweisung, blieb aber nach einigen Metern wieder stehen und sah sich um.
„Kann ich Ihnen helfen?“, ein adrett gekleideter Mitvierziger sah sie mit einem offenen Lächeln an.
Sie beugte sich zu ihm und flüsterte beinahe:
„Ich weiß nicht wo ich sitze...“
Lachend deutete er auf das Papier in ihren Händen:
„Fliegen Sie zum ersten Mal? Lassen Sie mal sehen...“
Nickend überreichte sie ihm den Zettel. Er führte sie zu ihrem Platz.
„Sie haben Glück, sie sitzen am Fenster. Sie werden sich über die Sicht von oben sicher freuen.“
Mit leichtem Bedauern stellte sie fest, dass der nette Herr sich vier Reihen entfernt ebenfalls ans Fenster setzte. Nach einer Weile quetschte sich ein Pärchen auf die beiden Sitze neben ihr. Dem Aussehen nach waren wohl beide schon in Rente. In ihrem kleinen Rucksack kramte sie nach einer Papiertüte und ihrem Stift.
„Wollen Sie den Rucksack behalten?“, der Rentner sah sie an.
„Wieso?“
„Na, sie können den doch während dem Start nicht einfach auf dem Schoß lassen! Geben Sie mal her!“
Zögernd reichte sie ihm das gute Stück. Er verstaute es in einem Fach über ihren Köpfen.
„Das hier auch?“, sie hielt ihre Papiertüte und den Stift hin.
„Nein, nein, schaun Sie mal: Das können Sie hier vorne in die Lasche im Sitz stecken.“, die ältere Dame hatte sich neben Sie gesetzt und lächelte ihr zu, „Sie fliegen nicht oft?“
„Nein, leider nicht.“
„Wenn Sie nach dem Start noch was aus Ihrem Rucksack brauchen, dann sagen Sie Bescheid, gell?“, der Mann lies sich ächzend in seinen Sitz fallen.
„Ja, danke.“
Mit zitternden Händen griff sie in die Papiertüte und zog eine Postkarte hinaus. Sie drehte und wendete die Karte. Es waren mehrere Bilder des Flughafens und von verschiedenen Flugzeugen darauf abgebildet.
„Ist unser Flugzeug mit auf der Karte?“, sie hielt sie der Dame hin.
Deren Begleiter beugte sich beinahe sofort ebenfalls über die Ansichtskarte.
„Nein, aber das da ist sozusagen der große Bruder von unserer Maschine.“, mit seinem dicken Finger deutete er auf eines der Bilder, im Nagel hing Dreck.
„Für wen ist die Karte denn?“, die Dame reichte sie ihr zurück.
„Für meine Kinder und natürlich auch für meinen Mann.“
„Ach, wie alt sind sie denn?“
„Neun und zwölf.“
„Und sie können nicht mit fliegen?“
„Es sind doch keine Ferien. Außerdem bin ich auf so was wie einer Geschäftsreise...“, die Frau mit dem welligem Haar lächelte ein rätselhaftes Lächeln.
„Ah, verstehe, wie schade.“, murmelte die Dame und wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu.
Die Frau klappte das Tischchen vor sich aus, drehte die Karte um und schaute auf dem Stift kauend aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie ein paar Männer die Koffer in die Maschine luden. Weiter entfernt setzte sich ein anderes Flugzeug langsam in Bewegung. Es wirkte schwerfällig. Die konnte sich kaum vorstellen, dass sich dieses große Ding in die Luft erheben konnte. Schließlich setzte sie ihren Stift an und begann zu schreiben:

Hallo, ihr Lieben!
Ich hoffe Euch geht es gut! Tut mir leid, dass ich so Hals über Kopf aufgebrochen bin.
Aber als ich heute Nacht in den Badspiegel gesehen habe, hat ein Fremde zurückgestarrt.
Ich weiß noch nicht, wann ich wieder komme, aber ich werde Euch von jedem Ort, den ich besuche, eine Karte schreiben, versprochen!
Tausend Küsse
Marion

P.S.: ...


„Sie müssen den Tisch für den Start wieder hoch klappen und sich anschnallen.“, die Dame nickte ihr zu.
„Achso, ja ja, kein Problem. Ich bin sowieso fertig mit schreiben.“
Sie verstaute die Postkarte und den Stift in der Lasche des Vordersitzes. Während die Maschine sich langsam in Bewegung setzte, lehnte die Frau sich in ihrem Sitz zurück und schloss ihre Augen. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Die Geister, die Du riefst


Stöhnend wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Seine Hand traf sie unsanft an ihrer rechten Schulter. Unwillkürlich fasste sie sich an die getroffene Stelle. Ihre Augen blinzelten, während sie sich langsam aufrichtete.
„Was ist...?“, sie brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen.
Mit einem langen Blick starrte sie zu ihm, beobachtete seinen nächtlichen Kampf. Schließlich berührte sie seufzend seine Schulter:
„Schschsch … wach auf, es ist nur ein böser Traum...“
Blitzschnell packte seine Hand ihren Arm, wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wird, schnellten seine Schultern nach oben. Er verdrehte ihr beinahe den Arm, als er sie zur Seite riss. Im nächsten Moment war er über ihr. Seine Augen waren auf einen fernen Punkt fixiert, irgendwo hinter ihrem Kopf. Sein heißer, schwerer Atem blies ihr ins Gesicht. Sie blieb ganz ruhig, während sie versuchte seinen Blick einzufangen.
„Alles ist gut … es war nur ein böser Traum...“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Als er ihr Gesicht dicht vor seinem erkannte, begriff er langsam wo er war. Ihm entfuhr ein leises Grunzen, während er etwas unbeholfen seinen Griff lockerte. Langsam richtete er sich auf, starrte seine Hände an. Er wich ihrem fragenden Blick aus, setzte sich an die Bettkante und vergrub sein Gesicht in seinen großen Händen. Er spürte wie seine Augen feucht wurden und war froh, dass die Dunkelheit es vor ihr verbarg. Mit tiefen Atemzügen suchte er sich wieder zu beruhigen. Er hörte wie sie sich langsam aufrichtete. Sein ganzer Körper spannte sich an. Er spürte, wie sie sich vorsichtig an seinen Rücken schmiegte. Die Berührungen ihrer Fingerspitzen, waren wie Messerstiche auf seiner Haut. Er zuckte.
„Lass mich!“, seine Stimme schnitt laut und scharf durch die Stille.
„Was ist nur los mit Dir? Seit Du zurückgekommen bist, vergeht kaum eine Nacht, in der ich Dich nicht aus diesen schlechten Träumen wecken muss.“, es war mehr ein Schluchzen als ein Sprechen.
Er antwortete nicht. Saß einfach still da, ganz in sich versunken, auf seinen Atem konzentriert.
„Ich halte das nicht mehr aus! Erzähl mir endlich, was es ist, was Dich nachts verfolgt“, und kaum hörbar setzte sie noch hinzu, „bitte...“.
„Wie oft soll ich es Dir noch sagen? Es ist keine Frauensache und geht Dich nichts an!“, er hatte ihr das Gesicht zugewandt.
Seine Augen starrten sie an. Aufgerissen, aber doch seltsam gefühllos, beinahe kalt. Einen Moment lang war es völlig still im Raum, während sie seinem Blick zitternd stand hielt. Eine weinerliche Stimme aus dem Nebenraum durchbrach das Schweigen:
„Mama?“
„Geh, und kümmere Dich um unseren Sohn!“, es war ein Befehl, keine Bitte.
Er wandte sich von ihr ab. Sie zögerte. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie nicht locker lassen wollte. Er spürte Wut in sich aufsteigen und schnaubte. Doch bevor er sich wieder ihr zuwenden konnte, stand sie fast lautlos auf. Mit einem leisen Seufzen verließ sie das Schlafzimmer. Er hörte, wie sie drüben leise mit dem Kind sprach und schloss die Tür. Dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und vergrub sein Gesicht tief in seinen Händen. Jetzt war er wieder alleine, allein mit den Bildern. Mit einem leisen Stöhnen krallten sich seine Finger in seinen Haaren fest.
Wieder sah er das mehrstöckige Hochhaus vor sich, spürte wie der Riemen der Reisetasche tief in seine Schulter ein schnitt. Sah die junge Frau, die ihm mit dem kleinen Kind im Sportwagen entgegen kam. Sie lächelte ihm zu. Es war ein freundliches und gewinnendes Lächeln, er konnte gar nicht anders, als es zu erwidern
„Sind Sie neu hier?“, ihre Stimme klang sanft.
„Nur zu Besuch.“, er erinnerte sich, dass er ihr kaum in die Augen sehen konnte.
„Na dann, angenehmen Aufenthalt! Es sieht hier zwar auf den ersten Blick nicht besonders einladend aus – aber die Gegend hier ist eigentlich gar nicht so schlecht!“, hatte sie ihm zugezwinkert?
Das Kind hielt ihm seinen Lutscher hin und brabbelte etwas. Es schien ungefähr das gleiche Alter zu haben wie sein Sohn. Er liebte seinen Sohn über alles. Beschämt murmelte er etwas in seinen Bart, nickte der Frau zu und steuerte schnell in Richtung der Eingangstür. Sie rief ihm noch etwas hinterher. Was verdammt, hatte sie gerufen? Er hatte sie nicht verstanden. Klingelte, murmelte etwas von Post, so dass die Frau es nicht hören konnte, und nickte ihr kurz zu, ehe er das Haus betrat. Als er wenige Minuten später das Haus ohne Tasche verließ, war von ihr und dem Kind keine Spur mehr. Er stellte sich in die sichere Entfernung einiger hundert Meter auf die gegenüberliegende Straßenseite. Leise zählte er bis hundert. Als er bei fünfundneunzig war, sah er plötzlich die Frau und das Kind an der Eingangstür stehen. Wie hatte er sie übersehen können? Er rief ihr etwas zu. Sie drehte sich zu ihm. Als sie ihn erkannte, winkte sie zu ihm rüber und antwortete etwas. Sie lachte. Im nächsten Moment durchschnitt ein lauter Knall die Luft. Mit hellen Blitzen brach das Hochhaus in sich zusammen. Er wusste, dass er nichts außer der hellen Blitzwelle gesehen haben konnte. Trotzdem wurde er Nacht um Nacht von anderen Bildern geweckt. Das Gesicht der Frau mit dem freundlichen Lächeln verfolgte ihn. Ebenso wie der große, unschuldige Blick des Kindes. Dann veränderten sich die Gesichtszüge, wurden ängstlich, panisch, schmerzverzerrt. Zum Schluss sah er nur noch zwei Augenpaare, die ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrten. Vernichtet, aber doch nicht ausgelöscht. Manchmal vermischten sich die Gesichter mit denen seiner eigenen Frau und seines Sohnes.
Am ganzen Körper zitternd saß er noch immer auf der Bettkante. Die Stimme seiner Frau, die drüben im Nebenraum ein Schlaflied für seinen Sohn summte, drang an sein Ohr.
Sie hielt das Kind fest an sich gedrückt und wiegte es sanft in den Schlaf. Dabei wusste sie nicht, ob sie nicht einfach nur sich selbst wiegen wollte. Der Junge beruhigte sich langsam. Als sie hörte, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde hielt sie inne und hob ihren Kopf. Sie hörte seinen schweren Schritte durch den Flur eilen. Mit einem lauten Knall fiel die Wohnungstür ins Schloss. Dann war es still. Ihr entfuhr ein leises Schluchzen. Fest drückte sie ihren Sohn an ihre Brust.

Samstag, 26. September 2009

Bin kurz Abgetaucht

Werde in den nächsten zwei Wochen kein Update machen. Mache eine kleine Denkerpause in sonnigen Gefilden & hoffe dass es anchließend mit neuem Elan und einer neuen Idee weitergeht!

Bis dahin, liebe Grüße

Kryps

Auf den Feldern I - der Vorhang fällt zum Ende des ersten Aktes


Bernd schlenderte mit gesenkten Kopf weiter von der Straße weg in Richtung der Felder. Bei schlechtem Wind konnte man von hier schon die Hunde aus dem Tierheim kläffen hören. Ihm kamen dann immer Bilder in den Sinn von erbärmlich dürren Kreaturen, die mit zurückgeworfenen Kopf ihr Klagelied anstimmten. Heute stand der Wind günstig, alles blieb still. Zum Glück. Sein Handy hatte er eben wieder in die Tasche gesteckt. Er war gespannt, wie Lasse auf die Nachricht reagieren würde. Ein stilles Lächeln huschte bei diesem Gedanken über sein Gesicht. Es gab einen leisen Summton von sich. Er sah auf die Uhr. Na bitte, Lasse hatte sich selbst übertroffen eine Antwort innerhalb von vier Minuten. Unglaublich wieso der Kerl sonst so gut wie nie antwortete. Er zögerte einen Augenblick, bevor er in seine Tasche griff.

Das Stupsen einer feuchten Schnauze an seiner Wange lenkte ihn einen Augenblick ab.
„Ja, ja, ist ja schon gut, Du bist ja gleich dran...“, mit seiner Hand griff er zu dem flauschigen Wesen, was es sich auf seiner Schulter bequem gemacht hatte.
Das Tier drückte seinen schlanken Körper gegen gegen die Handfläche. Es war in etwa so groß wie eine Katze, nur von den Proportionen her länger und schlanker. Er warf einen prüfenden Blick die dunkle Straße entlang, bevor er mit einem leisen Klicken die Leine löste. Wie auf ein stilles Kommando hin setzte das Frettchen sich in Bewegung. Mit schnellen, kurzen Sprüngen rutschte es von Bernds Schulter zu Boden. Wenige Augenblicke später war es in der Dunkelheit verschwunden. Nur ein Rascheln im Feld lies ahnen, wo es sich befand.
Bernd warf einen prüfenden Blick auf das Display seines Handys. Na Lasse, wie fühlt es sich an wenn die Herzensdame mit dem Schwarzfahrer anbandelt?
Ein Schrei gefolgt von einem hellen Gekläffe unterbrach ihn. Der älterer Herr stand wie angewurzelt am Rand des Weges und starrte mit aufgerissenen Augen zu seinen Füßen. Bernd folgte dem Blick. Zwei Fuß breit vor dem Mann sprang ein Dackel bellend hin und her und zerrte an einer dünnen Leine, die ihn untrennbar mit seinem Herren verband. Direkt vor dem Hund, wenige Zentimeter aus dessen Reichweite stand das Frettchen, den Schwanz buschig aufgestellt die Zähne bleckend.
„Was, was ist das?“, der lange Schnauzer des Herren zitterte bei jedem Wort.
Bernd musste sich bei diesem Anblick ein Grinsen verkneifen. Er stieß einen leisen Pfiff zwischen seinen Zähnen aus. Einen Moment lang geschah nichts. Dann entspannte sich der Körper des Frettchens. Ohne den Hund aus den Augen zu lassen bewegte es sich ganz langsam auf Bernd zu. Ein kurzes Schnippen mit den Fingern und wenige Augenblicke später saß es auf seiner Schulter, als wäre nichts gewesen. Je weiter das Frettchen sich entfernte, umso mehr zerrte der Dackel an seiner Leine. Er spürte wie sich der Körper des Frettchens wieder anspannte. Es fauchte von seiner Schulter aus. Mit einer routinierten Bewegung lies er die Leine wieder im Gestell des Tieres einrasten.
„Ganz ruhig, Fritz, ist doch bloß ein kleiner Hund...“, er raunte es leise zu dem Tier hin, vermied dabei aber es zu berühren.
Seufzend steckte er sein Handy unangesehen wieder in die Tasche und wandte sich dem Herrn mit dem lustigen Schnauzer zu.

Donnerstag, 3. September 2009

Begegnung im Dunklen II


Bastian hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Den Kopf gesenkt schlenderte er die Straße entlang. Auf seiner Stirn zeichnete sich eine schmale Falte ab.
„Maria...“, murmelte er.
Die Falte auf seine Stirn vertiefte sich, als er langsam seinen Kopf schüttelte. Etwas zischte um die Ecke. Noch bevor er aufstehen konnte jagte ein Schmerz wie ein heißer Blitz durch seinen rechten Arm.
„Au!“, Bastian fuhr sich mit der anderen Hand zu der schmerzenden Stelle. Seine Knie gaben leicht nach.
Ein Geräusch von auf dem Asphalt schleifenden Metall zerriss die Stille der Nacht.

Bastian wandte sich um, sein Arm fühlte sich taub an. Eine dunkelgekleidete Gestalt schlitterte mit ihrem Fahrrad über den Gehsteig, bevor sie nach wenigen Metern zum liegen kam. Der zierlichen Statur nach zu urteilen handelte es sich wohl um eine Frau. Mit zusammengekniffenem Mund beobachtete er sie. Er rieb sich den rechten Arm und bewegte die Hand, in die das Leben langsam, mit einem unangenehmen Kribbeln, zurückkehrte. Die Frau blieb regungslos liegen. War sie mit dem Kopf aufgeschlagen? War sie bewusstlos? Bastian machte einen schnellen Schritt auf sie zu, so dass er ihr Gesicht von Vorne erkennen konnte. Die Augen waren geöffnet. Mit einem leisen Ächzen begann sie sich aufzusetzen. Er folgte ihren Blick zu den mit einer weißen Strumpfhose bedeckten Beinen.
„Scheiße!“, sie fasste sich an ihr eines Bein.
„Bist Du verletzt?“, in seiner Stimme schwang Besorgnis mit.
Er ärgerte sich darüber, immerhin hatte sie ihn angefahren – warum sollte er sich Sorgen um sie machen? Trotzdem folgte er ihrem Blick. Ein dunkler Kreis zeichnete sich auf der hellen Strumpfhose ab und sickerte langsam das Bein entlang.
„Scheiße, Du blutest ja!“, mit einer schnellen Bewegung ging er in die Hocke und betrachtete die Wunde aus der Nähe, ohne jedoch ihr Bein zu berühren.
Er blickte ihr ins Gesicht:
„Scheinen nur ein paar Schürfwunden zu sein – tut es weh?“
Sie starrte ihn an. Ihre Augenfarbe war in der Dunkelheit schwer zu definieren, aber sie wirkten im Vergleich zu dem pechschwarzen Haar ungewöhnlich hell. Nachdem sie nicht antwortete nutzte er die Gelegenheit sie noch ein wenig näher zu betrachten. Mit der blasen Haut, den tiefschwarz umrandeten Augen und dem blauen Lippenstift wirkte sie wie eine lebende Tode. Bastian schüttelte sich bei diesem Gedanken.
Ihre Augen wirkten leer, er begann sich Sorgen zu machen. Vielleicht war sie tatsächlich am Kopf verletzt, oder sie stand unter Schock? Er tastete nach seinem Handy und atmete auf, als seine Finger die Plastikschale in seiner Hosentasche berührten. Zögernd fasste er ihren Arm, schüttelte sie leicht und versucht ihren Blick einzufangen.
„Tut Dein Bein weh? … Oder irgendwas anderes?“, er bemerkte, dass seine Stimme laut geworden war.
Sie starrte ihn an, ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Mechanisch schüttelte sie den Kopf. Mit einem Seufzer kam er auf die Füße, streckte ihr seine linke Hand hin – der rechte Arm fühlte sich immer noch etwas seltsam an – und zog sie auf ihre Füße. Er probierte es mit einem Lächeln:
„Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt! Rast um die Kurve – hättest mich beinahe umgefahren! Und ...naja, wundert mich, dass Dir Deine Schulter nicht weh tut – war ein ganz schöner Rums!“
Er rieb sich wieder seinen rechten Arm, während er ihr zuzwinkerte. Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als er bemerkte wie ihre Augen sich mit Tränen füllten:
„Was, was ist denn jetzt los?“
Er beobachtete wie sie zu zittern begann. Als ihr eine Träne die Wange hinunter rollte berührte er leicht ihre Schulter. Irgendwo bellte ein Hund. Jemand pfiff.
„Ey, ist ja gut, ist doch alles nicht so Schlimm … was ist denn los?“, Bastian wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Wo war er da nur hineingeraten?
Plötzlich legte sie ihren Kopf auf seine Schulter. Er nahm seine Hände zur Seite und wich einen kleinen Schritt zurück, ohne jedoch den Kontakt ihres Kopfes mit seiner Schulter zu brechen.
„Was soll das denn jetzt? Geht es Dir nicht gut? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, er bemerkte wie seine Stimme zitterte.
Als sie den Kopf schüttelte gab er es auf. Seufzend legte er sachte seine Arme um ihren Körper und strich ihr sanft über die Schulter. Während er darauf wartete, dass sie sich beruhigte lies er seinen Blick auf die andere Straßenseite schweifen. Drüben bemerkte er einen jungen Mann mit muskulösem Körper und langem, dichten, blonden Haar. Der Kerl tippte etwas in ein Gerät, was er in Händen hielt. Etwas Kleines sprang an seinem Bein hoch. Bastian zog die Stirn kraus, es sah aus wie ein kleiner Hund, aber irgendwie passte der Hund nicht zu dem Typen. Als sich ihre Blicke trafen wandte der Kerl sich ab und verschwand hinter ein paar Bäumen auf dem angrenzenden Gelände. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, aber er erinnerte sich nicht woher.
Ein leises Schniefen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder hin zu dem Mädel in seinen Armen. Sanft schob er sie ein ein Stückchen von sich weg.
„Was ist denn eigentlich los?“, er fing mit seinem Finger eine ihrer Tränen auf und wischte sie fort.
Jetzt konnte er die grünen Sprenkel in ihren grauen Augen erkennen. Eine schöne Farbe war das. Mit der vielen, jetzt verwischten Schminke kam sie aber kaum zur Geltung. Er fasste sich kurz an die Schulter, dort war ein kleiner, feuchter Fleck. Ob sein Jacke wohl dort jetzt schwarze Flecken hatte? Während er ihr in die Augen sah, viel ihm plötzlich ein woher er den Kerl kannte. Natürlich! Das war doch der Kumpel von diesem Typen den er heute Nachmittag mit Agnes gesehen hatte! Er wandte den Blick noch einmal zur anderen Straßenseite, aber dort stand niemand mehr. Er spürte, wie das Mädel seinen Kopf berührte und sanft zu sich hinzog. Bevor er ganz begriff was eben geschah spürte er ihre Lippen auf seinen. Einen Moment lang verspannte sich sein ganzer Körper. Die Gedanken flogen durch seinen Kopf, aber er bekam sie nicht zu fassen. Dann spürte er die sanfte Berührung ihrer Fingerspitzen in seinem Nacken. Ein Kribbeln ging von seinem Nacken aus durch seinen ganzen Körper. Er nahm die Wärme und Feuchtigkeit ihrer Lippen wahr und bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte übernahm sein Körper die Kontrolle. Er zog sie näher zu sich, schloss die Augen und erwiderte ihren Kuss. Was für eine verrückte Frau! Jeder Gedanke an den Typen auf der anderen Straßenseite oder an Agnes war weg.
Er zog sie noch einen Moment an sich heran, bevor er sie langsam los lies, um ihr Fahrrad aufzuheben. Sie schmiegte sich eng an ihn, als er mit ihr langsam die Straße entlang lief. Er drückte sie fest und genoss die Wärme ihres Körpers. Unmerklich beschleunigte er etwas seinen Schritt.

Donnerstag, 30. Juli 2009

Begegnung im Dunklen I


Nach fünf Metern hatte Janina die Alte Frau schon fast wieder vergessen. Lasses breites Grinsen, mit dem er ihr im Kinosaal die zehn Euro überreichte, war nach der kurzen Unterbrechung wieder aufgetaucht. Sie biss ihre Zähne zusammen. Ihre Kiefermuskulatur trat hervor, was ihr einen leicht trotzigen Gesichtsausdruck verlieh. Sie kniff ihre Augen zusammen und trat noch etwas kräftiger in die Pedale. Wortfetzen flogen durch ihren Kopf, unaufhörlich, aber ohne dass sie sie zu greifen bekäme oder stoppen hätte können:
Arschloch! Ich – nicht – Nein! Käuflich!?!
An der nächsten Abzweigung bog sie nach rechts ein. Mit einem Affenzahn raste sie um die Kurve und hatte Mühe ihr altes, klappriges Fahrrad auf der nassen Fahrbahn zu halten. Plötzlich spürte sie einen Ruck an ihrer rechten Schulter. Im nächsten Moment verlor sie die Kontrolle über das Rad. Mit einem lauten Knall landete sie auf der Straße. Durch den Schwung schlitterte sie noch ein ganzes Stück, ehe Stille eintrat.

Als sie sich langsam hochrappelte sah sie, dass ihre Strumpfhose einen Riesenschnitt hatte.
„Scheiße!“
„Bist Du verletzt?“, die Stimme tauchte völlig unerwartet neben ihr auf.
Verwirrt und leicht überfordert sah sie auf. Sie blickte direkt in zwei hellblaue Augen, die sie unter hochgezogenen Augenbrauen ansahen. Eine Hand fasste nach ihrer und zog sie das letzte Stück nach oben.
„Scheiße, Du blutest ja!“, mit einer schnellen Bewegung beugte sich der der Typ mit den blauen Augen zu ihrem Bein.
Sie folgte ihm mit ihrem Blick. Sie sah, wie sich am Rand des Risses ihre Strumpfhose dunkel verfärbte. Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und rot wie Blut. Woher kannte sie diesen Vergleich? Sie zog ihre Stirn in Falten.
„Hmm, sieht nur nach Schürfwunden aus. Tut es weh?“, der blonde Schopf wandte ihr wieder seinen Blick zu.
Sie starrte ihm in die Augen. Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Der Typ erhob sich wieder. Er griff nach ihrem Arm und rüttelte leicht:
„Sag, tut Dein Bein Dir weh? Oder irgendwas anderes?“
Mechanisch schüttelte sie ihren Kopf. Sie spürte gar nichts im Moment, außer der Kälte. Wieder fingen diese hellblauen Augen ihren Blick auf. Sie starrte in seine Augen und konnte ihren Blick nicht mehr abwenden.
„Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt! Rast um die Kurve – hättest mich beinahe umgefahren! Und ...“, mit einem breiten Grinsen rieb er sich seine rechte Schulter, „naja, wundert mich, dass Dir Deine Schulter nicht weh tut – war ein ganz schöner Rums!“
Janina starrte ihn an, hatte aber Mühe ihm zuzuhören. Sein Grinsen hatte etwas Verschmitztes. Immer noch hielt sie der Blick dieser blauen Augen. Lasse hat braune Augen – dunkel und warm. Der Gedanke war plötzlich da, sie wusste nicht wieso. Im nächsten Moment sah sie alles verschwommen. Das Bild von Lasses braunen Augen war wie eingebrannt in ihren Kopf. Auf der anderen Straßenseite hörte sie einen Hund bellen. Jemand pfiff.
„Was, was, was ist denn jetzt los?“, der Blondschopf lockerte leicht seinen Griff an ihrem Arm und trat von einem Bein auf das andere.
Janina fing an zu zittern. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Der Typ vor ihr sah sie mit großen Augen an. Ihr war so kalt. Vorsichtig klopfte er ihr auf die Schulter. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber sie hörte nicht was er sprach. Mit einer sanften Bewegung näherte sie sich ihm und legte vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter. Sie spürte, wie er einen kleinen Schritt zurückwich und seine Arme nach hinten nahm. Irgendetwas sagte er zu ihr. Sie schüttelte ihren Kopf und drückte sich fest an ihn. Langsam spürte sie wie er sanft seine Arme um ihren Oberkörper legte und ihr mit einer Hand beruhigend auf die Schulter klopfte. Sie hörte sein Murmeln und lächelte leise. Die Wärme seines Körpers tat gut. Sie schloss ihre Augen und dachte an Lasse. Sie stellte sich vor er würde sie hier so halten. Neue Tränen suchten sich ihren Weg über ihr Gesicht und sie drückte sich noch fester an diesen fremden Kerl mit seinen blauen Augen, von denen sie sich wünschte sie wären braun. Nach einer Weile drückte er sie sanft ein Stück von sich weg und blickte ihr wieder ins Gesicht.
„Was ist denn los?“, es war mehr ein Flüstern. Ein leichtes Zittern schwang in seiner Stimme mit.
Mit einer Hand strich er ihr sachte über ihr Gesicht und wischte eine ihrer Tränen weg. Janina schloss ihre Augen und spürte seiner Berührung nach. Sie öffnete ihre Augen wieder. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. Auf die Entfernung konnte sie in der Dunkelheit seine Augenfarbe nicht mehr erkennen. In Gedanken malte sie sie braun an. Mit einer Hand berührte sie seinen Hinterkopf und zog ihn langsam aber bestimmt auf sich zu. Als ihre Lippen seine berührten spürte sie wie sein ganzer Körper sich anspannte und sein Kopf ein kleines Stück zurückwich. Einen Augenblick später erwiderten seine Lippen ihre Berührung. Janina schloss ihre Augen und spürte der Wärme seines Körpers und der Feuchtigkeit seiner Lippen nach. Lasses Gesicht war jetzt ganz nah.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Fahrradunfall II


Constanze warf einen prüfenden Blick in ihre Handtasche während sie ihren Autoschlüssel langsam rausfischte. Dabei kam ihr ihr Handy zwischen die Finger. Sie schaute kurz auf das Display bevor sie es mit einem Seufzer wieder in ihre Tasche gleiten lies. Sie hatte Rainer doch schon vor fast vier Stunden eine Nachricht hinterlassen! Wieso war er eigentlich nicht ran gegangen? Sagte er nicht, dass er den Rest des Nachmittags mit dem Einkaufen von Weihnachtsgeschenken beschäftigt wäre? Tief atmete sie ein. Das war wiedermal so typisch für ihren kleinen Bruder! Nicht einmal die Hälfte von dem, was er einem erzählte konnte man glauben. Beim Quietschen einer Fahrradbremse zuckte sie zusammen. Schnell sah sie nach vorn. Ein dumpfer Schlag folgte dem Bremsgeräusch. Sie atmete aus, als sie feststellte, dass das Fahrrad noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war. Während sie sich langsam der Szenerie näherte zogen sich ihre Augenbrauen mehr und mehr zusammen. Unbemerkt ließen ihre Finger den Autoschlüssel wieder in die Tasche fallen.

Sie sah, wie eine kleine Gestalt mit einem dunklen, dreieckigen Kopftuch sich unsicher zur Seite beugte und mit ihrem Gleichgewicht rang. Etwas fiel ihr aus der Hand und sie stieß einen leisen Schrei aus. Constanzes Herz krampfte sich bei diesem Anblick zusammen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Die Radfahrerin, ein Mädchen, so um die zwanzig, dessen auffälligsten Kleidungsstücke eine weiße Wollstrumpfhose und ein oranger Schal waren, wendete ihr Fahrrad und wandte sich mit erhitztem Gesicht der Gestalt zu. Obwohl sie nur noch wenige Schritte entfernt war verstand Constanze nicht, was die junge Frau sagte. Aber sie sah, wie die kleine Gestalt zu zittern begann. Ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen, dunkelbrauner Faltenrock, braune Halbschuhe und graue Wolljacke, schien sie schon älter zu sein. Constanze legte ihr sanft ihre Hand auf die Schulter, während sie sich nach unten bückte, um den Gegenstand aufzuheben.
„Was ist denn hier los?“, die Frage schoss ihr aus dem Mund während sie noch die Schachtel beäugte, die sie soeben aus einer Pfütze gefischt hatte. Vogelfutter.
Als sie wieder stand sah sie der Gestalt ins Gesicht. Ohne Überraschung sah sie in das alte und faltige Gesicht einer Frau.
„Ist das Ihre?“, sie hielt ihr die Schachtel hin.
Die Frage war eigentlich sinnlos, Constanze hatte ja gesehen wie der Frau das Futter aus der Hand gefallen war. Aber deren Gesicht war so blass und die Augen immer noch weit aufgerissen, dass sie hoffte sie mit ihrer Frage irgendwie beruhigen zu können. Die Alte riss ihr die Tiernahrung so heftig aus der Hand, dass sie kurz zusammen zuckte. Automatisch tätschelte ihre Hand die Schulter der Alten. Constanze war sich nicht sicher, wen sie damit beruhigen wollte – sich selbst oder die alte Frau? Ihr Herz geriet für ein paar Schläge außer Takt, als sie beobachtete, wie diese mit zitternden Fingern die Schachtel prüfte und sie dann fest an ihre Brust drückte.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen!“, die junge Frau schob sich vor sie beide. Ihre Stimme hatte einen beschwichtigenden Tonfall.
Einen Moment lang starrte Constanze dem Mädchen direkt ins Gesicht. Was hatte sie denn mit ihren Augen gemacht? Völlig schwarz umrandet verlieh die Schminke den ansonsten sehr sanften Gesichtszügen etwas Hartes. Und der Lippenstift! Dunkelblau. Sah aus, als wären ihre Lippen nicht durchblutet. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen:
„Du kannst ja auch nicht einfach so den Fahrradweg entlangrasen...“
Tiefe Falten erschienen auf der Stirn der jungen Frau. Um ihren Mund verspannte sich die Haut für einige Augenblicke. Dann holte sie tief Luft:
„Hallo? Sie sagen es! Das hier ist ein Radweg. Wieso läuft die Frau ohne zu gucken einfach los? Dann ist sie auch noch total dunkel angezogen – wie hätte ich sie denn rechtzeitig sehen sollen?“
Einen Moment lang starrte Constanze wie gebannt in das Flackern dieser Augen, die für das pechschwarze Haar viel zu hell wirkten. Dann sah sie von dem Mädchen hin zu der alten Frau und zu sich selbst. Waren Schwarz oder dunkelbraun die Modefarben diesen Winters? Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht:
„Gut, dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Die Worte klangen versöhnlich, im ersten Augenblick starrte die junge Frau sie an. Plötzlich schien sie zu verstehen und erwiderte Constanzes Grinsen.
Nachdem sie sich ausführlich entschuldigt hatte und Constanze versprochen hatte sich um die alte Frau zu kümmern, schwang sich die junge Frau auf ihr Rad. Constanze sah ihr noch einige Augenblicke hinterher, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Mit langsamen Schritten begleitete sie die Alte auf die Mitte der Straße, zu der Haltestelle der Straßenbahn. Diese stützte beinahe ihr ganzes Gewicht auf Constanzes linke Seite. Die Hand der Alten, die fest ihren Arm umklammert hielt, zitterte noch immer. Sie beäugte die kleine Frau aus den Augenwinkeln. Ohne Unterlass presste diese das Vogelfutter an ihre Brust. Erleichtert atmete Constanze auf, als sie das Gewicht der Frau an die Bank abgeben konnte. Dort angekommen strich die Alte mit zitternden Fingern wieder über die Packung. Ein seltsamer Anblick war das. Da wurde sie von einer Fahrradfahrerin beinahe umgefahren und das Einzige, was sie zu kümmern schien, war diese Schachtel.
„Geht es wieder?“, irgendwie wirkte die Frau leicht verwirrt.
„Ja, ja vielen Dank...“, für einen kurzen Augenblick sah sie auf und lächelte Constanze zu.
„Haben Sie es weit?“
„Nur drei Haltestellen.“
Constanze überlegte einen Augenblick. Vielleicht stand die Frau ja unter Schock? Dann wäre es sicher nicht gut sie alleine hier auf der Bank sitzen zu lassen. Wer weiß, ob sie sich überhaupt orientieren konnte? Einen Moment lang überlegte sie die Alte nach dem Datum zu fragen. Aber dann hatte sie eine bessere Idee.
„Kommen Sie, ich fahr Sie schnell nach Hause. Bevor Sie noch länger hier in der Kälte auf die nächste Bahn warten müssen.“, sie bot der Alten erneut ihren Arm an und lächelte ihr zu.
Zögernd sah diese sie an.
„Sie haben doch bestimmt einen Schreck gekriegt, als die junge Frau Sie angefahren hat. Es macht mir keine Umstände, ich muss sowieso in diese Richtung.“, das war glatt gelogen.
Sie musste irgendwie seriös wirken. Sonst kam die Frau vielleicht noch auf den Gedanken, dass sie sie überfallen wollte. Das war nun wirklich nicht ihre Absicht. Sie alleine hier sitzen lassen, ging aber auch nicht. Wenn sie einen Krankenwagen rufen würde, dann würden die von der Rettungsstelle sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Die alte Frau schien ja völlig unverletzt.
„Aber nein, das ist doch nicht nötig...“
„Doch, doch! Kommen Sie die drei Stationen sind mit dem Auto ein Katzensprung!“, aufmunternd hackte sie sich bei der alten Frau unter.
Als diese mit langsamen Schritten wieder mit ihr die Straße überquerte bemerkte sie, dass sie ihr rechtes Bein leicht nachzog.
„Haben Sie sich verletzt?“, sie warf der Alten einen besorgten Blick zu.
„Nein, nein...“, diese schüttelte nur murmelnd ihren Kopf.
Dafür presste sie Packung Vogelfutter, wie einen Schatz, noch ein wenig fester an ihren Körper. Constanze seufzte leise.

Donnerstag, 2. Juli 2009

Fahrradunfall I


Gertrud schlürfte leicht gebückt aus dem Laden hinaus. Ihre Hand schloss sich fest um eine Pappschachtel, die sie an ihre Brust gedrückt hielt. So fest, dass man das Weiß ihrer Fingerknöchel sehen konnte. Mit der anderen zupfte sie ihr Kopftuch zurecht, als Schutz gegen den Nieselregen. Das Tuch hatte sie in Manier einer Bäuerin gebunden, auch wenn sie längst nicht mehr auf dem Feld arbeitete. Vor ein paar Jahren war sie auf das Anraten ihrer Kinder in eine kleine Wohnung in der Stadt gezogen. Das Einzige was ihr von Haus und Hof geblieben war war Hansi, ihr blauer Wellensittich.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als die Schachtel mit jedem Schritt leise klapperte. Sie hielt sie sich erneut vors Gesicht, vielleicht zum fünfzehntenmal seit die freundliche Verkäuferin sie ihr in die Hand gedrückt hatte.
„Die Vital-Nahrung, die Ihrem kleinen Liebling ein langes und unbeschwertes Leben garantiert!“
Sie blieb kurz stehen und schüttelte die Packung. Mit geschlossenen Augen lauschte sie auf das Geräusch. Das Lächeln lag immer noch auf ihren Lippen und lies ihr Gesicht strahlen. Das Klappern verklang, sie drückte die Pappschachtel wieder fest gegen ihre Brust und setzte sich in Bewegung. Langsam, denn ihre Füße fanden kaum sicheren Halt auf den vom Regen durchnässten Pflastersteinen. Ihre Beine zitterten bei jedem Schritt. Dennoch benutzte sie keinen Gehstock. Sie lief über den Parkplatz und wollte eben auf den Gehweg einbiegen. Etwas streifte sie hart an ihrem linken Arm. Sie stieß einen leisen Schrei aus, geriet ins Stolpern, machte hastig einige Schritte zur Seite bevor sie wieder zum Stehen kam. Ihr rechter Fuß knickte leicht um. Ein stechender Schmerz, schoss ihr Bein hinauf. Sie beugte sich hinunter. Dabei glitt ihr die Schachtel aus den Händen. Mit großen Augen beobachtete sie, wie die Pappe in einer Pfütze Wasser landete und sich sehr schnell mit Wasser voll sog. Ein zweiter Schrei entfuhr ihr und sie streckte ihre Hand nach dem Futter aus.
„Mensch, Sie müssen schon aufpassen, wenn Sie auf den Gehweg einbiegen!“, es war eine sehr junge Stimme, die neben ihr erklang.
Aber Gertrud achtete nicht weiter auf die Stimme. Vielmehr versuchte sie die Pappschachtel zu Greifen zu bekommen, bevor sie sich gänzlich auflöste.
„Was ist denn hier los?“, Schritte von hinten und erneut die Stimme einer Frau, aber deutlich älter als die erste.
Eine Hand berührte Gertrud an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Im Augenwinkel sah sie wie eine Frau mit langem, blondem Haar im dunklen Kostüm sich neben ihr hin kniete und die Futterschachtel aus der Pfütze fischte.
„Ist das Ihre?“, die Frau sah sie an und hielt ihr die Schachtel hin.
Gertrud nickte, riss ihr fast das Futter aus den Händen und drückte es fest gegen ihre Brust. Die Frau lächelte ihr zu.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen...“, ein Mädchen schob sich vor die Beiden.
Gertrud zuckte zusammen, als sie in das Gesicht des Mädchens blickte. Ihre Augen waren dunkel umrandet, sie sah aus wie eine Teufelin! Zitternd drückte sie sich an die blonde Frau. Diese legte sanft ihren Arm um sie.
„Trotzdem musst Du Dich umsehen und kannst nicht einfach so den Fahrradweg entlang rasen!“
„Hallo? Genau wie Sie sagen, dass hier ist der Fahrradweg. Wie soll ich bitte damit rechnen, dass mir plötzlich die alte Frau vors Rad läuft? Und dann ist sie auch noch total dunkel angezogen.“
Die andere musterte das Mädchen von oben bis unten:
„Ja, gut dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Ein Lächeln sprang zwischen dem Mädchen und der Frau hin und her. Schließlich streckte das Mädchen ihre Hand zu Gertrud:
„Ey, tut mir wirklich leid! Ich hab Sie echt nicht gesehen. Haben sie sich wehgetan?“
Gertrud schüttelte schnell ihren Kopf und wich noch ein Stück mehr in den Arm der blonden Frau. Diese schaute sie prüfend an, bevor sie sich wieder an das Mädchen wandte:
„Ich kümmere mich um die Dame. Denke Du kannst weiter fahren.“
„Meinen Sie echt?“
Die Frau nickte, das Mädchen zuckte mit den Schultern und blickte noch einmal zu Gertrud:
„Okay, also es tut mir leid und ich hoffe Sie sind nicht zu sehr erschrocken. Aber Sie haben mir auch einen Riesenschreck eingejagt!“
Gertrud nickte nur. Das Mädchen streckte ihr erneut ihre Hand hin. Nachdem sie sie nicht ergriff, zuckte sie mit den Schultern, murmelte einen Gruß und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.
„Müssen Sie mit der Bahn fahren?“
Gertrud sah zu der blonden Frau und nickte erneut.
„Kommen Sie, ich begleite Sie rüber zur Haltestelle, dann können Sie sich auf die Bank setzten, okay?“
Als sie gemeinsam die Straße überquerten spürte sie wieder das Stechen in ihrem Bein. Ihr Herz klopfte ihr noch immer bis zum Hals, aber der Arm der Frau hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Auf der Bank angekommen betrachtete sie eingehend die Futterschachtel. Hoffentlich hatte das Futter keinen Schaden genommen!
„Gehts wieder?“
„Ja, ja, vielen Dank...“, es war nicht mehr als ein leises Flüstern, was über Gertruds Lippen kam.
Trotzdem lächelte sie der blonden Frau zu, während sie mit einer Hand über die feuchte aber unversehrte Pappschachtel strich.

Donnerstag, 25. Juni 2009

Stille


Es gibt Momente, die sind so still, dass Du es kaum aushalten kannst.
Dann wird sie lauter und lauter, ganz plötzlich.
Du fährst zusammen und horchst auf.

Aber da ist nichts.
Nichts, außer der Stille, die Dich umgibt, sich sanft über Dich legt,
Dir mit süßer Stimme ins Ohr säuselt, Dich langsam taub und müde macht.
Schließlich gibst Du den Kampf auf.
Lässt Dich von ihr ganz durchdringen.
Du wirst ruhig, Dein Atem geht langsamer.
Bis mit einem Mal ein Laut die Stille zerreist.
Du horchst auf.
Aber er kommt nicht von draußen.
Nein, er wabert aus den Untiefen Deines Inneren langsam auf Dich zu.
Dein Atem setzt für einen winzigen Augenblick aus.
Hältst Du es aus?
Kannst Du zulassen, wie dieser Laut von tief Innen langsam auf Dich zugleitet?
Wirst Du still dasitzen und lauschen?
Dir selbst zuhören?
Oder wirst Du aufspringen, schnell ein Geräusch machen, etwas sagen und mit Deiner Hektik den Augenblick zerspringen lassen?
Was wirst Du tun in dem Moment, in dem es so still um Dich wird, dass Du es kaum aushalten kannst?
Wird es das Richtige sein?
Wirst Du überhaupt eine Wahl haben?

Donnerstag, 18. Juni 2009

Putzaktion II


Hanna strich sich seufzend durchs Haar. Eigentlich war es eine ziemliche Schnapsidee gewesen ihrem Chef die Sache mit der Putzaktion vorzuschlagen. Sie sah auf die Uhr. Zehn vor halb acht. Erneut glitt ihr ein Seufzer über die Lippen. Der würde ja in spätestens einer Stunde nach Hause gehen. Das könnte sie auch, wenn sie nicht heldenhaft die beiden Jungs gerettet hätte. Sie beugte sich hinunter zu ihren Füßen und massierte sich kurz ihre Waden. Mit einem dritten Seufzer richtete sie sich wieder auf. Ihr Blick wanderte kurz durch das Stockwerk zu – wie hieß er noch gleich? Ach genau – Vladimir. Der war damit beschäftigt das Regal mit dem Kleintierzubehör aufzufüllen. Seine Augen waren starr auf die Heuballen geheftet. Sie beobachtete ihn kurz, zuckte schließlich mit den Achseln und wandte sich der Treppe zu. Als sie um die letzte Windung kam stockte sie.
„Das gibt’s doch nicht!“, mit tiefen Furchen auf ihrer Stirn starrte sie zum Koibecken.

Da stand ihre Tochter direkt vor diesem Victor, der knallrot angelaufen war und unruhig von einem Bein auf das andere trat. Er war nicht einmal in der Lage den Blickkontakt aufrecht zu erhalten. Immer wieder wichen seine Augen zu seinen Händen oder Füßen hin aus. Hanna warf einen Blick zu ihrer Kollegin an der Kasse. Diese hob fast entschuldigend ihre Schultern. Sie spürte wie ihr ganzer Körper sich anspannte, als sie auf die beiden Turteltauben zu ging.
„Mona Du kannst schon mal nach Hause gehen. Wir brauchen hier noch eine Weile.“, ihre Stimme zitterte leicht und klang nicht annähernd so scharf, wie sie es sich gewünscht hätte.
Prompt wandte Mona sich ihr mit einem Lächeln zu:
„Aber ich kann euch auch helfen...“
Der kurze Blick, den Mona bei ihren Worten Victor zuwarf gab Hanna einen Stich ins Herz. Verdammt Mädel, kannst Du nicht einen besseren Geschmack haben? Du bist doch meine Tochter, oder etwa nicht? Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Schnell packte sie Mona an den Schultern und schob sie weg von dem Jungen. Wenn sie sich wenigsten den anderen rausgesucht hätte, der war immerhin im Ansatz schon männlicher.
„Du gehst jetzt schon mal.“, diesmal klangen ihre Worte bestimmter.
Mona sah ihr direkt in die Augen. Sie widerstand der kurzen Versuchung weg zu sehen. Stattdessen nickte sie mit dem Kopf Richtung Ausgang.
„Soll ich dann alleine laufen?“
„Du kannst Deinen Vater anrufen und ihn fragen ob er Dich abholt, wenn es Dir zu weit ist.“
Sie beobachtete wie ihre Tochter kurz die Stirn runzelte sich mit einem Kopfnicken umdrehte und langsam Richtung Ausgang schlenderte. Der kurze Blickkontakt zu Victor entging ihr dabei keineswegs. Als sie sah wie Mona ihre Hüften betont von links nach rechts schwang fühlte sie Wut in sich aufsteigen. Sie unterdrückte den spontanen Impuls ihr nachzulaufen und sie kräftig durch zu rütteln. Dafür baute sie sich direkt vor Victor auf und versperrte ihm mit ihrem Körper den Blick auf das Becken ihrer Tochter.
„Bist Du fertig?“
Kritisch beäugte sie sein Werk. Der gröbste Dreck war im Putzeimer. Sie glaubte zu spüren, wie er leicht den Oberkörper zur Seite lehnte, um um sie herum sehen zu können. Instinktiv bewegte sie sich in die selbe Richtung. Das leise Hüsteln von ihm zauberte ihr ein leichtes Lächeln auf die Lippen. Als sie ihn ansah blickte er zu Boden.
„Naja, den Rest können die Putzfrauen später machen.“
Nachdem sie Victor gezeigt hatte wo er seine Hände waschen konnte bugsierte sie ihn nach oben zu seinem Freund. Sie stöhnte leise auf, als sie sah, dass dieser von einer alten und ziemlich dattrig wirkenden Frau in ein Gespräch verwickelt worden war. Warum tat hier eigentlich niemand das was er tun sollte? Sie schob sich neben Vladimir, sah ihn kurz an:
„Zeig Deinem Kumpel wie das mit den Regalen funktioniert.“, als der ihr zunickte schob sie sich zwischen ihn und die Frau.
Mit dem strahlendsten Lächeln, zu dem sie im Moment noch fähig war wandte sie sich der Alten zu:
„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
„Ja, wissen Sie ich suche dieses Spezialfutter für meinen Wellensittich. Der junge Mann da meint er könne mir nicht helfen. Aber er arbeitet doch hier, nicht wahr?“
Hanna legte behutsam ihre Hand auf den Arm der Dame, am Besten nicht auf die Sache mit dem jungen Mann eingehen:
„Kommen Sie, ich zeig Ihnen wo das Vogelzubehör steht und dann suchen wir in Ruhe nach dem Futter, dass Ihr kleiner Liebling braucht.“
Vertraulich hackte sie sich bei der alten Dame unter und verschwand mit ihr um die nächste Ecke.

Donnerstag, 11. Juni 2009

Du willst es doch auch!


Das junge Punkermädchen sitzt mit ein paar von ihren Freunden im Park. Den ganzen Nachmittag schon erzählen sie sich Geschichten, vom Leben, von ihren Träumen, von Lustigem und Traurigem. Eben hat Mickey seine Geschichte von seinem geplatzten Urlaubstraum mit einer ausschweifenden Geste beendet und dabei die Tüte mit dem Orangensaft zum Kippen gebracht. Lachend wirft sie ihren Kopf in den Nacken. Als sie sich wieder aufrichtet bleibt ihr ihr Lachen im Hals stecken. Ihr Blick heftet sich starr auf zwei Punkte, die langsam um eine Kurve des Parkweges schlendern und in Richtung ihrer Wiese steuern. Ihr ganzer Körper spannt sich an. Ihr Mund steht offen und sie vergisst für eine halbe Ewigkeit weiter zu atmen.

„Ich bin ein paar Tage bei meinen Großeltern. Meiner Oma geht es nicht besonders. Ich meld mich bei Dir, wenn ich wieder zurück bin, okay?“, seine Worte erklingen wieder in ihrem Ohr. Deine Großmutter sieht aber verdammt jung aus, denkt sie während sie mit einem lauten Schnaufen die restliche Luft aus ihren Lungen presst. Mit zusammengepressten Augen mustert sie das Mädchen in seinem Arm. Langes, blondes Haar, schlank wie eine Gazelle und unglaublich lange, dünne Beine, die auf hohen Stöckelschuhen vor sich hin staksen. Blondes Gift! Ihr Herz klopft heftig während ihr Blick zwischen den beiden hin und her wandert. Ein schönes Paar geben sie ab – er mit seinem dunklen, kurzen und wuscheligem Haar gibt den richtigen Kontrast zu seiner Begleiterin.
Sie sieht an sich herunter. Buntgebatikte Bluse auf weiter, dunkler Stoffhose. Unförmiger Körper, grüne Strähne im halblangen, stumpfbraunem Haar. Nicht besonders attraktiv. Ich würde an seiner Stelle mich auch lieber mit dieser eleganten Schönheit verabreden. Von wegen Großeltern! Lügner! Ein Stich fährt ihr ins Herz. Sie glaubt ein leises klirren zu hören – tief in ihr drin. Fühlt es sich so an, wenn einem das Herz bricht? Ihre Augen füllen sich mit Wasser. Sie fährt sich mit beiden Händen über ihr heißes, feuchtes Gesicht.
„Ist was mit Dir?“, jemand hält ihr eine Flasche unter die Nase und legt eine Hand auf ihre Schulter. Sie greift nach der Flasche und nimmt einen tiefen Schluck. Es schmeckt bitter und scharf, sie muss sich beherrschen es nicht gleich wieder auszuspucken. Wie Feuer brennt sich die Flüssigkeit langsam einen Weg durch ihren Körper, bis sie sich in einem wohlig-warmen Gefühl in der Magengegend auflöst. Sie schließt kurz ihre Augen und spürt der Wärme nach. Hastig nimmt sie noch einen zweiten Schluck.
„Ich muss los.“, schnell steht sie auf und nickt den anderen kurz zu. Bevor sie sich abwendet begegnet sie seinem Blick. Kurz. Es ist nicht so wie Du denkst, scheinen seine Augen zu sagen. Nein, sicher nicht, nichts ist so wie ich gedacht habe, dass es ist, antworten ihre.
Schnell läuft sie den Weg entlang. Sie rennt fast. Ganz weit weg. Möglichst viel Raum zwischen sich und dieses Traumpaar bringen. Sie presst ihre Hände an die Schläfen. Versucht die Bilder aus ihrem Kopf zu bekommen, aber es gelingt ihr nicht. Sie spürt seinen heißen Atem auf ihrer Haut. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Sie zittert. Spürt seine feuchten Küsse auf ihren Lippen, ihren Augen, ihrem Hals. Noch einmal hört sie seine Stimme leise flüsternd an ihrem Ohr, fordernd:
„Du willst es doch auch“
Schwer atmend lehnt sie sich an die Mauer des Parks. Die Kühle der Steine beruhigt sie ein wenig. Ihre Knie geben nach und sie gleitet langsam zu Boden. Tränen laufen ihr über die heißen Wangen. Immer noch presst sie ihre Hände gegen ihr Gesicht.
„Nein,“, murmelt sie leise, „DAS will ich nicht!“

Donnerstag, 4. Juni 2009

Putzaktion I


Leise pfeifend schlenderte Victor hinter dieser Frau Schnittindingens und Vladimir her. Die war schon cool drauf. Ohne sie hätte der dicke Kerl bestimmt die Polizei gerufen. Bei einer kleinen Kammer blieb sie stehen und drückte ihm einen Schrubber und einen Eimer Wasser in die Hand. Victor realisierte sofort wozu diese beiden Instrument gedacht waren. Mit hängenden Kopf und schweigend folgte er in Richtung Koi-Becken. Jemand hatte den Bereich mit Hilfe zweier Holzpfosten abgetrennt. Die Kunden starrten angewidert auf den Boden und machten einen großen Bogen um die Sauerei. Der Geruch des Erbrochenen löste einen Würgereiz bei ihm aus. Schnell schob er sich seinen Pulli über die Nase. Mit einem langen Blick sah er Vladimir nach, der der großgewachsenen Frau mit den grauen Augen die Treppe hinauf folgte. Aber sein Freund schaute nicht mehr zu ihm runter sondern fixierte mit zusammengezogenen Augenbrauen die Schultern vor sich. Einige Augenblicke stand Victor unschlüssig vor dem Fischbecken, als wisse er nicht was er nun tun sollte. Schließlich tauchte er seufzend den Schrubber in das lauwarme Wasser.

So sehr er sich auch bemühte mit dem Erbrochenen nicht in Berührung zu kommen, wollte es ihm einfach nicht gelingen. Spätestens wenn er den Lappen mit spitzen Fingern aus dem Wasser zu fischen suchte berührte er ein paar der Brocken. Schnell zog er den Lumpen raus und lies ihn auf den Boden fallen. Im Augenwinkel sah er wie die zwei Verkäuferinnen an der Kasse ihre Köpfe zusammensteckten und ihn mit abschätzigen Blicken beobachteten. Blöden Kühe!
„Tschüß“
Eine helle Stimme riss ihn aus seiner Konzentration. Als er aufsah stand das süße Mädel von der Tierarztpraxis fast vor ihm. Ihr Gruß hatte allerdings nicht ihm sondern den beiden Ziegen gegolten. Den Blick noch abgewandt stieß sie mit ihrem Fuß gegen seinen Eimer.
„Huch! Was...“, sie fuhr herum und starrte ihn an.
Victor merkte wie er knallrot anlief. Er lies den Lappen ins Wasser gleiten und kam auf seine Füße.
„Hey...“, er senkte seinen Blick und trat von einem Fuß auf den anderen.
Sein Pulli rutschte von seiner Nase.
„Hey...“, ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Hatte sie ihn erkannt? Er war sich nicht sicher was er sich wünschen sollte. Er sah wieder zu ihr hin. Mann, sah die gut aus! Super Figur – weiter kam er nicht. Frau Schnittingens stand plötzlich zwischen ihnen.
„Mona Du kannst schon mal nach Hause gehen. Wir brauchen hier noch eine Weile.“
„Aber ich kann euch auch helfen...“
„Nein, Du gehst jetzt schon mal.“, sie schob das Mädel von Victor weg.
Er beobachtete wie die Beiden kurz miteinander diskutierten. Dann kam Frau Schnittingdingens auf ihn zu. Bevor Mona in der Dunkelheit draußen verschwand lächelte sie ihm noch zu. Er zwinkerte grinsend. Sie senkte schnell ihren Kopf und war im nächsten Moment verschwunden.
„Bist Du fertig?“, Frau Schnittingdingens begutachtete sein Werk, „Naja, das Gröbste ist weg, den Rest können die Putzfrauen später machen.“
Sie zeigte ihm wo er seine Hände waschen konnte und bugsierte ihn dann nach oben.
„Bis Ladenschluss hilfst Du Deinem Freund Regale einzuräumen. Dann kümmern wir uns ums Koi-Becken.“
Oben redete eine alte Frau auf Vladimir ein.
„Ja, aber Sie müssen mir doch helfen können...“
„Zeig Deinem Kumpel das mit den Regalen.“, ihre Stimme klang beinahe beiläufig bevor sie sich der alten Frau zuwandte und ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht erschien, „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
„Ja, wissen Sie ich suche dieses Spezialfutter für meinen Wellensittich. Der junge Mann da meint er könne mir nicht helfen. Aber er arbeitet doch hier, nicht wahr?“
Frau Schnittingdingens legte behutsam ihre Hand auf den Arm der Dame:
„Kommen Sie, ich zeig Ihnen wo das Vogelfutter steht und dann suchen wir in Ruhe nach dem Futter, dass Ihr kleiner Liebling braucht.“
Schwups, waren beide hinter dem nächsten Regal verschwunden. Was für ein Quatsch: Dann suchen wir das Futter, dass Ihr kleiner Liebling braucht! Victor schnaubte laut und unterdrückte ein Lachen.
„Hier“, Vladimir drückte ihn eine Packung Heu in die Hand.
Victor starrte die Packung an.
„Was soll ich damit?“
„Ja was wohl? Sie dort in das Regal räumen – so wie die anderen zehn Packungen auch?“, Vladimirs Stimme klang gereizt.
„Ey, weißt Du wen ich eben unten getroffen habe?“
Victor stieß den Freund an und grinste breit. Als der nicht reagierte verschwand das Grinsen langsam von seinem Gesicht.
„Was´n los?“
Vladimir hielt inne, wandte den Kopf zu ihm und fixierte ihn mit seinen hellen Augen. Victor wich dem Blick aus, tippte mit dem Fuß und sah den Freund dann von unten herauf an.
„Glaubst Du es macht mir Spaß hier Regale einzuräumen nur weil der Herr Scheiße gebaut hat?“, die Stimme klang scharf und bissig.
„Ey, Mann, ey … Scheiße! Ey, ich habs doch nicht mit Absicht gemacht, Mann!“
Er starrte Vladimir an.
„Wenn mans nicht verträgt sollte man auch nicht saufen, verdammt!“, er sagte es so leise, dass nur Victor es hören konnte.
Dann wandte er sich wieder den Heusäcken zu. Victor stand mit zusammengekniffenen Lippen da. Wasser stand in seinen Augen. Er trat wieder von einem Bein auf das andere.
„Scheiße!“, murmelte er während er seinen ersten Heusack ins Regal stopfte.
Im Augenwinkel beobachtete er Vladimir und hoffte dass dieser vielleicht etwas sagen würde. Aber er sagte nichts.

Donnerstag, 28. Mai 2009

Herzlich Willkommen!



Gestern war es endlich soweit:
Daphnes kleine Schwester ist sicher bei uns angekommen. Sie ist noch etwas schüchtern, ihren Namen hat sie uns noch nicht verraten, aber wie man sieht hat sie sich schon mit den anderen Badewannenbewohnern ein wenig angefreundet. :)

Vielen Dank an DiVa, Daphne und das restliche Plattenladenteam für das Geschenk des Geschichtenwettbewerbs.
Wir werden gut auf Ihre kleine Freundin aufpassen - versprochen!

Viele Grüße

Krypskytter

Donnerstag, 21. Mai 2009

Geschäftsleiterbüro II


„Danke Frau Schnittinger.“, Hans-Friedrich Bohner nickte seiner Angestellten zu. Mit einer Hand wies er auf die beiden schmucklosen Holzstühle vor seinem Schreibtisch. Irgendwann würde er endlich bessere Stühle beantragen, mit denen er Geschäftskunden empfangen konnte. Er besah sich die beiden Jungs, die zögernd seiner Aufforderung Folge leisteten. Für diese beiden Lümmel reichten die unbequemen Stühle allemal. Hans-Friedrich holte tief Luft, bevor er zum Sprechen ansetzte. Er nahm einen säuerlich-scharfen Geruch wahr und war für einen Moment irritiert. Er roch das Erbrochene, aber da schwang noch eine andere Note mit. Das Räuspern eines der Jungen lenkte ihn ab. Er fixierte die Beiden.
„So, so, ihr seid also die Beiden, die eben unser schön angelegtes Koi-Becken verunreinigt haben?“
Keine Reaktion.

Der schlaksige Kerl mit dem strähnigen braunen Haar fixierte angestrengt den Fußboden und warf nur gelegentlich einen schnellen, kurzen Blick in seine Richtung. Hans-Friedrich unterdrückte ein Grinsen. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben - Recht so! Er wandte seinen Blick dem anderen zu. Dieser sah schon etwas männlicher aus, hatte nicht mehr den unförmigen Körperbau eines Jugendlichen. Seine hellen, grauen Augen fixierten Hans-Friedrichs Blick. Unverschämt! Hans-Friedrich sog hörbar die Luft ein, seine Augen formten sich zu kleinen Schlitzen. Was glaubte der denn, wer er war?
„Habt ihr eigentlich irgendeine Ahnung wie teuer so ein Koi ist?“, er spukte die Worte aus.
Der junge Kerl vor ihm hielt weiter seinen Blick fest. Seine Stimme war ruhig. Hans-Friedrich war aber als würde ein aggressiver Unterton mitschwingen.
„Wir können Ihnen den Schaden bezahlen.“
Sein Mund klappte leicht auf und er starrte den Kerl auf der anderen Seite des Schreibtisches an. Aufrecht saß der auf seinem Stuhl, in den Schultern glaubte er eine leichte Anspannung zu sehen. Die Art wie der seinen Blick festhielt sollte vielleicht selbstbewusst wirken, Hans-Friedrich machte das allerdings eher aggressiv. Er hatte das Gefühl als versuche dieser junge Kerl ihn nieder zu starren. Wären da nicht die zusammengebissenen Zähne und die krause Stirn gewesen, die dem jungen Gesicht einen kindlich-trotzigen Ausdruck verliehen, hätte er sich tatsächlich herausgefordert gefühlt. Aber dieser Gesichtsausdruck bestätigte ihm, dass eindeutig er Herr der Lage war. Er streckte seinen Rücken, erwiderte auffordernd den Blick.
„Einen Dreck könnt ihr! Bezahlen – das ich nicht lache!“, sorgsam achtete er darauf, dass er die folgenden Worte ganz ruhig und leise aussprach, „Hast Du eine Ahnung was nur der günstigste Koi in diesem Becken kostet?“
Er unterdrückte ein Lächeln, als er sah wie sich der Mund des Jungen noch mehr verspannte. Na bitte, ging doch! Der Junge hob seinen Kopf noch ein Stückchen mehr an.
„Sagen Sie uns, was der Schaden kostet und wir werden dafür sorgen, dass Sie Ihr Geld bekommen.“
Hans-Friedrich musterte ihn einen Moment. Schließlich lies er seinen Blick zu dem Freund wandern. Dieser sah seinen Kumpel mit großen Augen an. Nur kurz, bevor er seinen Blick bemerkte und wieder zu Boden sah. Aber lang genug, um ihm die Bestätigung zu geben, dass der Kerl große Sprüche klopfte. Was war es? Er suchte nach dem passenden Wort. Überheblichkeit? Nein. Arroganz? Nicht ganz. Seine Augen blitzten einen Moment auf, er hatte es gefunden: Stolz. Ja, genau, ganz schön stolz war der. Dem Alter und der Situation unangebracht! Mal sehen, ob er ihn diesen falschen Stolz nicht ein wenig austreiben konnte:
„Wie alt bist Du?“
Einen kurzen Augenblick fiel die Anspannung von dem Gesicht. Für diesen einen Moment war es Hans-Friedrich als säße ihm ein kleiner Junge gegenüber, der völlig aus dem Konzept gebracht war. Dann fing sich der Junge und Hans-Friedrich sah sich wieder dem Halbstarken gegenüber sitzen.
„Warum?“
Er seufzte. Schade. Wobei – wie war er wohl in diesem Alter gewesen? Plötzlich sah er sich selbst mit den Augen des Jungen. Er sah einen Mitvierziger mit Halbglatze und leicht zusammengekniffenen Augen. Der Alte konnte wohl schon nicht mehr richtig gut sehen, schien aber zu eitel zu sein eine Brille aufzusetzen. Er erschrak über den Gesichtsausdruck des Mannes: Das leicht vorgeschobene Kinn und dieser Blick von oben herab verlieh ihm etwas Oberlehrerhaftes. In den Gesichtszügen lag Bitterkeit. Er schnaubte. Nein, von so einem hätte er sich als Jugendlicher auch nichts sagen lassen wollen! Hätte er sich auch kein Blöße gegeben. Wie, wie, ja genau, wie der Halbstarke hier vor ihm. Mit einem Mal schämte er sich. Dummheit! Eigentlich müssten die Jungs sich schämen! Dennoch schlug er einen versöhnlicheren Ton an:
„Man beantwortet eine Frage nicht mit einer Gegenfrage. Also: Wie alt bist Du?“
Der Junge schaute ihn an. Auf seine Stirn bildeten sich Falten. Hans-Friedrich hob seine Augenbrauen und versuchte ein leichtes Lächeln. Er bemerkte gar nicht wie er im selben Moment seine Hände, die er auf den Schreibtisch gelegt hatte, öffnete. Der Junge erwiderte sein Lächeln. Kurz. Na also!
„Siebzehn.“
Hatte er es doch gewusst! Benimmt sich wie ein Erwachsener, ist aber eigentlich noch grün hinter den Ohren. Beinahe wäre ihm ein anerkennender Pfiff entfahren. Aber er riss sich zusammen.
„Und Dein Freund?“, mit den Augen wies er auf den Schlaksigen Typen.
Wäre der alleine hier gesessen hätte er sich wahrscheinlich nach seiner geplanten Standpauke die Personalien geben lassen, Anzeige erstattet und dem jungen Kerl eine saftige Rechnung präsentiert. Er konnte diesen schlaksigen Jungen nicht wirklich ernst nehmen. Der bot keinerlei Widerstand. Wozu also ihn selbst fragen? Die Jungs tauschten einen kurzen Blick. Mit einiger Überraschung nahm Hans-Friedrich zur Kenntnis, dass der Schlaksige sich kurz aufrichtete und selbst antwortete.
„Ich bin sechzehn.“
„So, so...“, er dehnte die Worte während er langsam von einem zum anderen sah, „siebzehn und sechzehn...“
Jetzt war es ein Spiel für ihn. Es gefiel ihm die Jungs ein wenig zappeln zu lassen und in die Falle zu locken. Ganz beiläufig fragte er weiter:
„Arbeitet ihr?“
Sie tauschten wieder einen kurzen Blick. Hans-Friedrich tippte darauf, dass der Große wieder antworten würde, und er behielt Recht.
„Stundenweise.“
„So, so, Stundenweise.“, er machte eine kurze Pause, um die Schlinge richtig auszulegen, „Und eure Eltern, was arbeiten die?“
Die Augen des Jungen blitzten auf. Das Gesicht spannte sich wieder an.
„Ey, hörn Sie, ich weiß nicht was das hier soll. Ich hab Ihnen eben schon gesagt wir zahlen Ihnen Ihr Geld!“
Oh, gut gebrüllt Löwe. Hans-Friedrich zog seine Augenbrauen leicht hoch. Er bemerkte gar nicht, wie er immer mehr wieder in die Rolle dieses Oberlehrers abglitt.
„Gut, dann sag ich Dir mal, was der günstigste Fisch in dem Becken kostet: 850,- €! Der teuerste, der im Moment darin schwimmt kostet 4.500,- € - glaubst Du immer noch, Du kannst das mal eben so locker, flockig bezahlen, falls einer der Fische krepiert? Von der Reinigung des Beckens mal ganz abgesehen.“
Der Junge starrte ihn an und sagte lange nichts. Hans-Friedrich schaute ihm tief in die Augen und lies seine Worte wirken. Er hatte Zeit. Schließlich holte der Kerl tief Luft.
„Nein.“, es war fast nur gehaucht.
Zum ersten Mal in diesem Gespräch sah der Junge auf den Boden. Hans-Friedrich seufzte. Hatte er es doch gleich gewusst. Er lehnte sich zurück. Seine Hand griff nach der Schreibtischschublade. Dann eben doch das normale Prozedere. Personalien aufnehmen, Anzeige erstatten und Rechnung stellen. Er holte tief Luft. Plötzlich war da wieder dieser Geruch. Er begann zu schnüffeln. Natürlich! Da lag Alkohol in der Luft! Deshalb hatte der eine sich übergeben – zu viel getrunken!
„Hier riechts doch nach Alkohol – habt ihr zwei was getrunken?“, sein Blick fiel auf seine Angestellte, „Riechen Sie das auch?“
Frau Schnittinger hatte die ganze Zeit an der alten Schrankwand gelehnt und gewartet. Jetzt stieß sie sich ab und stellte sich hinter den Großen, legte ihm beide Hände auf die Schultern. Fast wie – ja wie? Er suchte wieder nach dem passenden Wort – genau! Fast wie eine Mutter. Ihm fiel ein, dass Frau Schnittinger ja selbst Kinder hatte, wohl ungefähr im Alter der beiden Jungs. Stirnrunzelnd hörte er sich ihren Vorschlag an. Abarbeiten sollten die Beiden die ganze Sauerrei, die sie angerichtet hatten. Naja, wenn er ehrlich war, dann würde wohl keiner der Kois wirklich bleibenden Schaden davontragen – Fische kotzten wahrscheinlich auch ins Wasser, in so fern. Aber wollte er die Beiden wirklich so einfach davon kommen lassen? Wo blieb da die erzieherische Maßnahme? Er sah lange in die hellen Augen seiner Angestellten. Er konnte sich schon die Pausengespräche der Kollegen vorstellen – egal ob er ihren Vorschlag an nahm oder nicht. Schließlich willigte er seufzend ein.
Als die drei sein Büro verlassen hatten schaute er sich noch mal die Zettel mit den Namen und Adressen an. Victor und Vladimir. Es waren unterschiedliche Nachnamen, also keine Brüder. Ihm kam wieder dieser Geruch in die Nase. Das war garantiert Alkohol, da war er sich ganz sicher! Hoffentlich übergab sich der andere nicht auch noch. Seufzend stand er auf und lüftete sein Büro.

Donnerstag, 14. Mai 2009

Geschäftsleiterbüro I


Hanna lehnte sich seufzend an die Schrankwand ihres Chefs und beobachtete die Szenerie. Die beiden Jungs saßen zusammengesunken auf den harten Holzstühlen, während Herr Bohner es sich auf seinem ledernen Schreibtischstuhl bequem gemacht hatte. Seine Stirn lag in tiefen Falten, sein Blick wanderte von einem zum anderen.
„Habt ihr eigentlich irgendeine Ahnung wie teuer so ein Koi ist?“
Hanna zuckte bei der Schärfe seiner Stimme leicht zusammen.

Der größere der Beiden, der der an der Treppe zusammen gesackt war, ergriff das Wort:
„Wir können Ihnen den Schaden bezahlen.“
Er setzte sich aufrecht und sah Herrn Bohner mit seinen hellen Augen direkt ins Gesicht. Hanna musste lächeln. Sie sah wie sich die Nasenflügel ihres Chefs weiteten. Das war kein gutes Zeichen, bedeutete es doch erfahrungsgemäß, dass man ihm jetzt besser aus dem Weg gehen sollte. Unwillkürlich spannte sich ihr Körper an. Herr Bohner atmete betont langsam und hörbar aus:
„Einen Dreck könnt ihr! Bezahlen – das ich nicht lache! Hast Du eine Ahnung was nur der günstigste Koi in diesem Becken kostet?“
Sie beobachtete wie der Junge sich noch ein Stück gerader hinsetzte und seinen Kopf leicht anhob. Mein Gott, dachte sie bei sich, das ist doch nicht der richtige Moment, um stolz zu sein! Dennoch beeindruckte sie diese Unverfrorenheit.
„Sagen Sie uns, was der Schaden kostet und wir werden dafür sorgen, dass Sie Ihr Geld bekommen.“, seine Stimme klang fest.
Herr Bohner fixierte den jungen Kerl nun mit einem stechenden Blick:
„Wie alt bist Du?“
„Warum?“
„Man beantwortet eine Frage nicht mit einer Gegenfrage. Also: Wie alt bist Du?“
Hanna konnte sehen wie es in dem Kopf des Jungen arbeitete. Nun mach schon, sei ein wenig kooperativ. Plötzlich lächelte er:
„Siebzehn.“
„Und Dein Freund?“
Die beiden Jungs tauschten einen kurzen Blick. Der Schlaksigere richtete sich ein wenig auf.
„Ich bin sechzehn.“, er sah nur kurz auf, um gleich darauf seinen Blick wieder auf den Boden zu heften.
Hanna zog ihre Stirn in Falten. Was war das für ein Akzent? Bei dem Zweiten hörte man ihn deutlicher. Die Sprache klang hart, ein wenig abgehackt.
„So, so, siebzehn und sechzehn. Arbeitet ihr?“
Wieder tauschten die Beiden einen kurzen Blick.
„Stundenweise.“, antwortete schließlich der Große.
Hanna schloss ihre Augen, um den Akzent besser zu hören und sich vorzustellen in welchem Land diese Sprache gesprochen werden könnte.
„So, so, Stundenweise. Und eure Eltern, was arbeiten die?“
„Ey, hörn Sie, ich weiß nicht was das hier soll. Ich hab Ihnen eben schon gesagt wir zahlen Ihnen Ihr Geld!“, wie um das Gesagte zu unterstreichen schlug sich der Große mit seiner Hand auf den Oberschenkel.
Hanna lies die Worte auf sich wirken. Vor ihrem geistigen Auge tauchten verschneite Berge auf und ganz klein dazwischen Holzhütten. Die Schweiz? Nein Schweizerdeutsch klang anders, niedlicher. Französischer oder Italienischer Akzent auch. Viel weicher und romantischer. Es musste eher ein Land sein in dem nicht viele Worte gemacht werden.
„Gut, dann sag ich Dir mal, was der günstigste Fisch in dem Becken kostet: 850,- €! Der teuerste, der im Moment darin schwimmt, kostet 4.500,- € - glaubst Du immer noch, Du kannst das mal eben so locker, flockig bezahlen, falls einer der Fische krepiert? Von der Reinigung des Beckens mal ganz abgesehen.“, Herr Bohner starrte den Großen mit zusammengekniffenen Lippen an.
Der Schlaksige stieß einen Pfiff durch seine Zähne aus und schaute Hannas Chef offenem Mund an.
„Nein.“, er sprach es ganz ruhig aus, als wäre es die natürlichste Antwort der Welt.
Herr Bohner schnaubte. Hanna öffnete ihre Augen wieder und bemerkte, dass der große Kerl mit den hellen Augen sie ansah. Diese Augen erinnerten sie an ihre eigenen. Seltsam, sie hatten fast die selbe Farbe. Sie zwinkerte ihm kurz zu. Er hielt noch einen kurzen Moment ihren Blick, bevor er sich wieder ihrem Chef zu wandte. Dabei sah er zum ersten Mal kurz auf den Boden. Sie musste lächeln. Bist eben doch noch sehr jung. Wenn er siebzehn war, dann war er gerade mal zwei Jahre älter als ihre Tochter. Ihr Chef zog plötzlich mehrmals geräuschvoll durch die Nase Luft ein:
„Hier riechts doch nach Alkohol – habt ihr zwei was getrunken?“
Nachdem keine Reaktion von den Beiden kam sah er zu ihr auf, zum ersten Mal seit sie die beiden Jungs in sein Büro gebracht hatte:
„Riechen Sie das auch?“
Hanna stieß sich von der Schrankwand ab. Sie zuckte leicht mit den Achseln und stellte sich hinter den Stuhl des Großen. Einen kurzen Moment überlegte sie und entschied sich ihrem Chef nichts von ihrer Beobachtung zu erzählen. Sie legte dem Großen ihre Hände auf die Schultern und spürte wie der sich kurz anspannte sich die Berührung aber gefallen lies.
„Seien wir ehrlich: den Fischen wird das Erbrochene wahrscheinlich nichts ausmachen.“
Sie unterbrach kurz da ihr Chef seine Augenbrauen leicht hochzog. Als sie sah, dass er den Mund öffnete, sprach sie schnell weiter.
„Aber die Reinigung des Beckens wird tatsächlich aufwendig und kostspielig werden. Wie wäre es, wenn die beiden hier“, jetzt legte sie ihre rechte Hand auf die Schulter des anderen Jungen, der sah mit fragenden Gesicht zu ihr hoch, „dazu verpflichten uns nach Ladenschluss bei der Reinigung zu unterstützen. Und das Erbrochene müssen sie natürlich auch wegwischen.“
„Sie meinen im Sinne von Sozialstunden?“
Sie nickte.
„Dann könnten wir von einer Anzeige absehen. Natürlich vorausgesetzt keiner der Fische trägt einen Schaden davon.“
Ihr Chef stützte sich mit seinen Ellbogen auf dem Schreibtisch auf und beugte sich nach vorne. Er sah abwechselnd von einem zum anderen. Dann holte er Papier und Stift aus seiner Schublade und schob es den beiden hin.
„Gut. Meinetwegen. Ich bin ja kein Unmensch. Zeigt mir eure Ausweise und schreibt hier euren Namen und Adresse auf – falls doch noch was wäre. Dann geht ihr mit Frau Schnittinger mit. Sie zeigt euch wo ihr euch bis Ladenschluss nützlich machen könnt.“
„Danke, Mann!“, der Schlaksige sah von Hanna zu ihrem Chef und zurück.
Er strahlte übers ganze Gesicht. Hanna sah zu dem Anderen. Dessen Gesicht blieb unbeweglich. Sie zog ihre Stirn in Falten und drückte kurz seine Schulter, bevor sie ihn wieder los lies. Seufzend nahm er den Stift in die Hand und schrieb. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er hatte ja auch nicht seinen Mageninhalt im Becken hinterlassen. Wenn sie ehrlich war hätte sie an seiner Stelle auch keine Lust auf Arbeitsstunden.

Donnerstag, 7. Mai 2009

In der Zoohandlung II


Flynns Herz klopfte wie wild, als er an der Hand seines Vaters quälend langsam die geschwungene Treppe nach oben ging. Immer wieder sprang er eine Stufe voraus, nur um dann am Ende seiner Armeslänge angekommen wieder stehen bleiben zu müssen.
„Jetzt zerr doch nicht so!“, die Stimme seines Vaters klang gepresst und seine große Pranke umschlang Flynns Hand wie ein Schraubstock.
Flynn warf einen schnellen Blick nach hinten, blieb stehen und lies seinen Kopf hängen. Angestrengt musterte er seine Fußspitzen, bis er endlich die großen Schuhe neben seinen sah. Er kniff seine Lippen zusammen, während er sich darauf konzentrierte im Takt seines Vaters seinen linken Fuß auf der nächsten Treppe abzusetzen.
„Was ziehst Du denn jetzt schon wieder für ein Gesicht? Ich dachte ich mache Dir eine Freude mit der Zoohandlung?“, die Stimme war jetzt genau über seinem Kopf. Sie klang scharf und schneidend.
Flynn zuckte zusammen.

„Ich freu mich ja...“, er sprach es so leise aus, dass man es kaum hören konnte.
Und es war gelogen. Vor fünf Minuten wäre es noch wahr gewesen, aber jetzt war es gelogen. Warum passierte das immer? Er rieb sich mit der freien Hand über die Nase und schniefte. Im nächsten Moment spürte er einen Klaps an seinem Hinterkopf.
„Habe ich Dir nicht gesagt, dass Du ein Taschentuch verwenden sollst? Hat Dir Deine Mutter das denn nicht beigebracht?“
„Doch!“, Flynn war stehen geblieben und sah seinem Vater direkt ins Gesicht.
Dieser sah ihn mit zusammengekniffenen Augen kurz an, bevor er ihm ein Taschentuch hinhielt:
„Hier, nimm!“
„Danke...“, er presste die Worte heraus, er wollte das dämliche Taschentuch überhaupt nicht.
Aber er wusste, dass es klüger war es einfach zu nehmen und sich damit die Nase zu schnäuzen. Warum machte er immer alles verkehrt? Dabei war er so stolz gewesen als Papa gestern anrief und verkündete er würde mit ihm heute in die Zoohandlung gehen und er dürfe sich ein Tier aussuchen. Ganz alleine er und Papa, selbst Patrick hat Papa zu Hause gelassen. Der musste sonst immer mit. Und der war ja auch viel schlauer. Nicht so wie er, der ja selbst zum Nase putzen zu doof war. Was war Flynn aufgeregt gewesen und was hatte er für Angst, dass der Papa im letzten Moment vielleicht wieder absagen, oder doch mit Patrick vor der Tür stehen würde. Aber er hatte Wort gehalten und war pünktlich, wie verabredet. Flynn hatte zum Schluss schon Angst gehabt, dass er nicht rechtzeitig von Tante Biggi nach Hause käme. Und trotzdem hatte er es wieder geschafft und binnen 10 Minuten seinen Vater enttäuscht. Patrick wäre das nicht passiert, da war sich Flynn sicher. Er hasste Patrick! Wieder starrte er angestrengt auf seine Füße und wartete, darauf dass dieses eklige Gefühl verschwinden und er sich wieder so wie eben auf der Treppe fühlen würde.
„Na dann wollen wir uns mal umsehen – was meinst Du?“, die große Pranke klopfte ihm auf die Schulter.
Als er aufsah lächelte sein Vater ihm kurz zu, bevor er sich in Richtung der Kleintiere wandte. Sein Herz machte einen kleinen Sprung und seine Augen begannen zu strahlen. Ungeduldig sprang er von einem Bein auf das andere und bemühte sich im langsamen Tempo seines Vaters zu bleiben.
„Was willst Du eigentlich für ein Tier?“
„Ein Chinchilla!“
„Ein was?“
„Ein Chinchilla“, Flynns Stimme zitterte ein klein wenig – hatte er wieder etwas falsch gemacht?
„Ich dachte Du willst ein Zwergkaninchen oder einen Hamster?“
„Nein.“
Unschlüssig stand sein Vater vor den Käfigen.
„Wie wär´s, wenn Du Dir selber ein Haustier anschaffst?“, zwei große Jungs kamen den Gang entlang und boxten sich abwechselnd in die Seiten.
Flynn kniff die Augen zusammen und legte seinen Kopf schief. Die sahen aus wie die beiden Jungs beim Karussell, von denen Tante Biggi sie so schnell weggezogen hatte.
„Tolle Idee!“, feixte der schlaksigere der Beiden und sah sich suchend bei den pelzigen Tieren um, „Nur was für eines?“
Flynn holte tief Luft und stellte sich dann direkt vor den Großen:
„Nimm ein Chinchilla!“
„Ein Chin-was?“, er sah Flynn an und brach dann in Gelächter aus.
Flynn spürte die Hände seines Vaters auf seinen Schultern.
„Guck, da“, er beugte sich vor und flüsterte.
Der große Kerl beugte sich zu ihm runter, ein säuerlich scharfer Geruch schlug ihm entgegen. Er rümpfte die Nase und wandte sein Gesicht leicht ab.
„Warum flüsterst Du?“
„Weil die Chinchillas tagsüber schlafen! Guck.“
Der Große folgte Flynns Finger und besah sich mit gerunzelter Stirn die pelzigen Tiere.
„Die sind aber ganz schön dick!“
„Das ist nur das Fell. Die haben ganz flauschiges Fell!“
„Echt?“
„Ja.“
Er schien beeindruckt zu sein und Flynn strahlte übers ganze Gesicht. Der Große schwankte leicht und stieß beinahe mit seinem Kopf gegen das Gitter. Plötzlich stand der Andere wieder hinter ihnen:
„Ich bin fertig, wir können gehen.“
„Ey, Alter, zeig mal Dein Schlangenfutter!“
Flynn sah erschrocken zu seinem Vater:
„Papa, will der Mann die Tiere töten?“
Er hatte keine Ahnung was für Tiere in der Pappschachtel waren, aber der Größe nach zu urteilen konnten sie nicht besonders groß sein, jedenfalls waren es keine Chinchillas, soviel stand fest. Der Andere Kerl zwinkerte Flynn kurz zu:
„Aber nein, die Schlange sucht nur jemanden zum spielen!“
Dann packte er seinen Kumpel und zog ihn schnell fort. Sie wankten leicht, wie sie so den Gang zur Treppe entlang gingen.
„Papa?“
„Ja?“
„Meinst Du so eine Schlange versteht sich mit einem Chinchilla?“
„Nein, sicher nicht.“
„Ich will auch eine Schlange...“, Flynn flüsterte es so leise, dass sein Vater es nicht hören konnte.
„So sehen also die Chinchillas aus?“, sein Vater ging vor dem Käfig in die Hocke, „so ein Tier willst Du?“
„Hmm...“, Flynn wusste nicht so recht wie er jetzt die Schlange ins Spiel bringen sollte.
Plötzlich hörten sie vom Erdgeschoss einen spitzen Schrei. Er sah seinen Vater an. Was war das? Neugierig lief er zur Treppe und sah nach unten. Er sah eine Verkäuferin, die ihre Hand an ihren Mund gepresst hatte und mit schnellen Schritten auf das große Fischbecken am Eingang zu lief. Er folgte ihrem Blick und hielt die Luft an. Neben dem Becken standen die beiden Jungs. Der Schlaksige übergab sich. Gebannt beobachtete Flynn wie die Verkäuferin etwas zu den beiden sagte, sie dann grob an den Schultern packte und wegführte.
„Papa, meinst Du der Große da ist krank?“

Donnerstag, 30. April 2009

In der Zoohandlung I


Vladimir hakte Victor beim Aussteigen aus der Straßenbahn fest unter, um den lallenden und torkelnden Freund besser unter Kontrolle zu haben. Er selbst sah die Welt um sich auch nicht mehr ganz klar. Wie viele Glühweine hatten sie eigentlich getrunken? Er musste aufstoßen. Das Brennen im Rachen, welches folgte, war unangenehm. Hastig schluckte er, um den Geschmack wieder zu vertreiben.
„Guck mal, da oben!“, Victor riss sich los und deutete mit seiner Hand die Straße entlang.

Er folgte dem Finger seines Freundes. An der nächsten Straßenecke, einige hundert Meter entfernt, stand, unter einer Straßenlaterne, ein Pärchen mit einem Kinderwagen. Er blinzelte, durch den Regen war kaum etwas zu erkennen. Was wollte Victor mit den Beiden?
„Ey! Wo hast Du die Banane gelassen?!?“, Victor brach in schallendes Gelächter aus, sah dann noch mal hin und stutzte, „oder ist das eine andere Verrückte?“
Im ersten Moment begriff Vladimir nicht, dann erinnerte er sich an den blonden Kerl, der so rührend die Verrückte angesprochen hatte. Er blinzelte und schob seinen Kopf nach vorne. Hmm, das könnte schon dieser Kerl sein.
„Huhuuu!“, Victor hob ausgelassen seinen Arm und winkte zu dem Pärchen, „Ich kenn euch! Huhuu!“
„Idiot!“, Vladimir konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
Trotzdem schnappte er sich seinen kichernden Freund und steuerte mit ihm in Richtung der Zoohandlung. Es waren mit ihnen nur wenige Menschen aus der Bahn gestiegen, er bemerkte, wie sie ihnen auswichen und sie argwöhnisch beäugten. Er unterdrückte den Impuls einer alten Frau die Zunge raus zu strecken. Stattdessen drückte er Victors Arm und schüttelte sich vor Lachen, alleine bei dem Gedanken es zu tun.
Als sie durch die Tür der Zoohandlung gingen zog Victor ihn zu dem großen Koi Becken am Eingang.
„Krass, guck mal wie groß die sind!“, mit offenen Mund stand er da und starrte in das Becken.
„Los komm jetzt erst mal weiter. Die ollen Karpfen können wir uns nachher noch ansehen.“, er schob den Freund weiter die Treppe nach oben zu den Kleintieren.
Die warme Luft im Laden machte ihn schläfrig. Mitten auf der Treppe wurde ihm schwindlig. Um ein Haar wäre er gestürzt, doch im letzten Augenblick gelang es ihm das Geländer zu fassen. Langsam glitt er auf die Stufen. Dort blieb er schwer atmend sitzen.
„Ey Alter, was ist los?“, er sah auf in die weit aufgerissenen Augen von Victor, der sich über ihn gebeugt hatte.
Der rüttelte ihn an der Schulter.
„Laß das, geht schon wieder.“, mit einer bestimmten Bewegung schob er die Hand seines Freundes fort.
„Brauchst Du Hilfe? Ist Dir nicht gut?“, eine Verkäuferin kam von unten die Treppe hinauf gelaufen.
Vladimir sah sie an, sie war in etwa im Alter seiner Mutter. Im ersten Moment stutzte er, als er ihre grauen Augen sah, dann musste er lächeln.
„Geht schon, alles okay.“, mit einem leisen Seufzer stand er auf.
„Habt ihr was getrunken?“, mit gerunzelter Stirn musterte die Verkäuferin sie beide.
Vladimir schüttelte den Kopf:
„Nein, gar nicht. Danke für Ihre Hilfe!“
Er vermied es der Frau direkt in die Augen zu sehen und beeilte sich endlich die gewundene Treppe hoch zu gehen. Kurz vor dem ersten Stock wandte er leicht den Kopf und sah aus dem Augenwinkel, dass sie immer noch dort unten an der halben Treppe stand und ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher sah. Mit schnellen Schritten durchquerte er die Abteilung in Richtung der Kleintiere. Er bemerkte, dass Victor ihn immer wieder verstohlen beäugte.
„Ist schon okay, Alter – mir geht’s gut.“, er gab ihm einen freundschaftlichen Stoß.
„Du hast mir nen ganz schönen Schrecken eingejagt, dachte Du krepierst da auf der Treppe!“
„Ja, schon klar...“, Vladimir seufzte, warum musste er nur immer so maßlos übertreiben?
„Ey, was ist das denn?“, Victor blieb stehen und deutete auf einen extra abgetrennten Raum mit einer Theke am Ende.
Vladimir musste lachen, als er seinen Freund leise durch die Zähne pfeifen hörte. Hinter der Theke stand ein Mädel, ungefähr in ihrem Alter. Sie trug einen weißen Kittel.
„Wer lesen kann ist klar im Vorteil: Tierarztpraxis!“, er deutete auf ein Schild an der Wand.
Victor runzelte die Stirn:
„Ich dachte dass hier ist ne Zoohandlung?“
„Klar, aber wie Dir vielleicht auffällt gibt es in ner Zoohandlung ne Menge Tiere.“
„Kannst Du mit Deiner Schlange hier auch hingehen?“
Vladimir runzelte die Stirn:
„Wenn sie krank wäre bestimmt, wieso?“
„Ey, dann komm ich mit! Wann gehst Du hin?“, Victor zwinkerte dem Mädchen zu, diese grinste zu ihnen hinüber.
„Spinner!“, Vladimir zog seinen Kumpel weiter zu den Kleintieren, „Wie wärs wenn Du Dir selbst ein Tier kaufst und dann damit dort auftauchst?“
„Tolle Idee!“, Victor schien Feuer und Flamme zu sein.
Vladimir seufzte. Während sein Kumpel sich eifrig nach einem Haustier umsah suchte er sich zwei Mäuse für seine Schlange aus. Ein Vater besah sich mit seinem kleinen Sohn die Tiere. Victor verwickelte die Beiden in ein Gespräch über das Für und Wider der einzelnen pelzigen Hausgenossen. Vladimir lies sich währenddessen von einem Verkäufer die beiden Mäuse einpacken und wandte sich mit der Pappschachtel in der Hand zu seinem Kumpel:
„Ich bin fertig, wir können wieder gehen.“
„Zeig mal Dein Schlangenfutter“, Victor streckte seine Hände nach der Schachtel aus.
Der Junge quiekte auf.
„Papa, will der Mann die Tiere töten?“
Na super! Vladimir stöhnte leise auf.
„Danke!“, zischte er Victor ins Ohr, dann wandte er sich lächelnd an Vater und Sohn, „aber nein, die Schlange sucht nur jemanden zum spielen!“
Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an. Bevor sein Vater ihm was erwidern konnte packte er Victor am Arm und steuerte in Richtung der Treppe. Bei der Tierarztpraxis verlangsamte Victor seinen Schritt und verdrehte sich den Kopf nach dem Mädchen.
„Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, dass wir mit den Mäusen zum Arzt gehen...“
„Wieso nicht? Stell Dir vor die haben ne ansteckende Krankheit?“
„Schnauze!“, es sollte aggressiv klingen, aber irgendwie musste Vladimir lachen.
Lachend gingen sie die Treppe hinunter Richtung Kasse.
„Ich geh jetzt zu den Fischen!“, Victor stapfte in Richtung des Koi Beckens und beugte sich tief darüber.
Von der Kasse aus konnte Vladimir sehen, wie sein Kumpel zu zittern begann. Mit gerunzelter Stirn nahm er das Wechselgeld entgegen und ging in schnellen Schritten auf ihn zu.
„Was ist los?“, er fasste Victor am Arm.
„Mir ist schle-“, weiter kam er nicht.
Victors Körper bäumte sich auf und mit einem Mal kam ein ganzer Schwall Vorverdautes aus ihm heraus. Vladimir versuchte ihn vom Becken weg zu zerren. Aber zu spät. Ein Teil des Mageninhaltes fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser. Er sah wie die Fische blitzartig zum Grund tauchten. Hinter ihnen stieß jemand einen Schrei aus.
Scheiße! Mehr dachte er nicht während er beobachtete, wie sich der restliche Mageninhalt seines Freundes vor dem Becken verteilte. Er roch den scharf-säuerlichen Geruch des Erbrochenen und unterdrückte ein Würgen.

Donnerstag, 23. April 2009

Im Regen IV


Marie verharrte einige Augenblicke und legte ihren Kopf schief. Sie hörte die leisen Laute aus dem Kinderwagen nicht mehr. Stattdessen vertiefte sie sich ganz in den Anblick dieses Kerls, der sie vor ungefähr zwanzig Minuten am Arm gerempelt hatte und kurz darauf einen Auffahrunfall verursacht hatte. Er sah immer noch wie weggetreten aus mit stierem Blick. Den Regen schien er nicht zu bemerken. Sein blondes Haar klebte in nassen, dunklen Strähnen auf seinem Kopf. Als ihm ein Tropfen von der Nase fiel bemerkte sie, dass seine Lippen leicht zitterten. Wie ein gehetztes Tier steht er da, schoss es ihr durch den Kopf. Der Gedanke rührte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht als sie den Kinderwagen beherzt auf ihn zu schob.

„Du hast eben einen Unfall verursacht.“, sie zog ihre Stirn in Falten.
War das zu vorwurfsvoll gewesen? Das hatte es nicht sein sollen. Es sollte sachlich klingen, aber nicht vorwurfsvoll. Sie wollte nicht, dass er wieder in Panik geriet. Gespannt beobachtete sie wie sein Blick ganz langsam klarer wurde, als er den Kopf drehte und sich ihr zu wandte. Er musterte sie von oben bis unten. Sie wich einen kleinen Schritt zur Seite und lenkte ihren Blick an ihm vorbei. Sie hasste es, dieses Gefühl abgeschätzt und bewertet zu werden.
„Was sagst Du?“, seine Stimme klang leise, beinahe bedrohlich.
Im Augenwinkel sah sie, wie er sein Kinn für einen Moment nach vorne schob und sein ganzes Gesicht in die Länge zog. Sie sah ihn jetzt wieder direkt ins Gesicht. Ein leichtes Funkeln lag in ihren Augen. Was wollte er? Wollte er ihr drohen und auch noch so tun als könne er sich nicht erinnern? Andererseits – vielleicht war er einfach durchgeknallt? Nicht ganz zurechnungsfähig? Scheiße! Warum hatte sie ihn angesprochen? Ihre rechte Fußspitze tippte unruhig auf den Asphalt. Wenn sie eine Sache in ihrem Leben gelernt hatte, dann war es, dass Angriff immer noch die beste Verteidigung war. Ausnahmslos, in jedem Fall! Sie machte einen kleinen Schritt auf ihn zu.
„Machst Du Witze? Du hast mich genau verstanden!“, ihre Stimme klang jetzt hart und abgehakt. Die Stirn war in tiefe Falten gezogen.
Sie spürte mehr, als dass sie es sah, dass er mit seinem Oberkörper ein kleines Stück zurückwich. Für einen kurzen Moment hielt sie inne. Ein Lächeln erschien um ihre Mundwinkel, nur um im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden. Sie bemerkte, dass er ihren Blick nicht mehr hielt. Sie musste weiter sprechen, um seine Aufmerksamkeit wieder zu erhalten. Aber sie merkte, dass ihre Worte ihn nicht erreichten. Um den Unfall zu verdeutlichen klatschte sie in ihre Hände. Direkt vor seiner Nasenspitze. Tatsächlich schien ihn das wach zu machen. Er wich mit dem Kopf zurück und starrte sie an.
„Wie Wumms?“
„Na Wumms eben!“, sie wiederholte das Klatschen, wenn auch nicht mehr genau vor seinem Gesicht.
Er zog die Stirn in tiefe Falten, schüttelte den Kopf und hob leicht seine Hand. Das Klatschen begann ihr Spaß zu machen. Sie wiederholte es, nachdem sie weitergesprochen hatte.
„Achso, ja, okay, ich verstehe!“, wieder hob er seine Hand. Diesmal wirkte es fast als wolle er sie fort schupsen.
Kein Wort hast Du verstanden, gibs doch zu! Willst nur, dass ich aufhör vor Deiner Nase zu klatschen. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und bemerkte, dass eine weitere Straßenbahn von der Haltestelle los fuhr. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanke einen neuen Anlauf zu starten. Sie sah in sein müdes Gesicht und lies es bleiben. Achselzuckend folgte sie seinem Blick zur Haltestelle. Dort standen zwei Jugendliche. Ihr Lachen drang die Straße hinauf. Einer hob die Hand und winkte. Mit gerunzelter Stirn suchte sie die Straße ab. Meint der uns? Direkt neben ihnen bremste ein Auto. Als sie hinsah blieb ihr beinahe das Herz stehen.
„Scheiße!“
Sie starrte den Fahrer mit aufgerissenen Augen an. Nur kurz. Fühlte sich in die Enge getrieben und sah sich mit einer schnellen Kopfbewegung um.
„Laß uns abhauen!“, leicht stupste sie ihn in der Drehung mit ihrem Ellenbogen an.
An seinem Blick merkte sie, dass er immer noch nichts kapierte. Da stand eines der kaputten Autos vor ihm - an deren Unfall er Schuld war und er tat so als ginge ihn das alles nichts an! Als sie einige hundert Meter gelaufen waren, ohne dass das Auto ihnen folgte, fiel die Spannung langsam von ihr ab. Was mache ich jetzt eigentlich mit ihm? Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und sah wie sein Blick in den Kinderwagen fiel. Oh nein, bitte, frag mich jetzt nichts wegen dem Baby...
„Ist das eigentlich Deines?“
Sie blieb stehen, nur kurz, und schloss die Augen. Er hats getan. Der Gedanke hallte durch ihren Kopf und sie verspürte nicht die geringste Lust ihm eine Antwort zu geben.

Montag, 20. April 2009

Blogfrequenz

Sodele,
nachdem nun ein kleiner Grundstock vorhanden ist & ich meine Leser nicht mit zuvielen Geschichten verscheuchen will, werde ich für die nächsten Wochen die Blogfrequenz auf einmal pro Woche runtersetzen.
Der Blog wird also ab dieser Woche immer Donnerstags eine neue Geschichte dazu bekommen. Die Montagsgeschichte fällt also erst mal weg. Habe mir gedacht, dass zum Wochenende hin der geneigte Leser sicherlich mehr Zeit haben wird :D. Rückmeldungen & Meinungen sind willkommen!

Grüße
Kryps

Donnerstag, 16. April 2009

Im Regen III


„Du hast eben einen Unfall verursacht!“, die Stimme drang wie aus weiter Ferne an Bastians Ohr.
Er zwinkerte mit den Augen und wandte den Kopf zur Seite. Ein Mädel, so Anfang zwanzig, stand vor ihm und fixierte ihn mit festem Blick. Er trat von einem Bein auf das andere und kratzte sich am Kopf. Was hatte sie da eben gesagt? Ein Unfall? Auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Falten ab und er erinnerte sich plötzlich wieder an ein Quietschen und die Hupe eines Autos, die schrill die Stille der Nacht zerriss. Aber was hatte das Ganze mit ihm zu tun?
„Was sagst Du?“, er unterdrückte ein Gähnen.

Jetzt legte ihre Stirn sich in Falten. Sie starrte ihn aus großen Augen an.
„Machst Du Witze? Du hast mich genau verstanden -“, sie betonte jedes der folgenden Wörter einzeln, „als Du eben über die Straße gelaufen bist ohne Dich umzusehen hätte Dich der Typ mit dem dicken Audi beinahe umgefahren. Verstehst Du? UMGEFAHREN“
Nein, er verstand nicht. Welcher Typ in was für einem Audi? Angestrengt suchte er nach einer Erinnerung, die in irgendeiner Weise etwas mit dem zu tun hatte, was diese junge Frau ihm erzählte. Nachdem er schwieg schien sie sich berufen zu fühlen weiter zu sprechen:
„Du hast verdammtes Glück gehabt, der Typ hätte fast nicht mehr bremsen können und wäre um ein Haar über Dich drüber gerollt! Dass Du einfach weitergelaufen bist ohne Dich um ihn zu kümmern hat ihn völlig aus der Fassung gebracht. Naja, und dann: Wumms!“
Sie klatschte in die Hände und sah ihn bedeutungsvoll an.
„Wie Wumms?“, er hatte Mühe zu begreifen, was sie ihm deutlich machen wollte.
Am Rande bemerkte er, dass eine neue Bahn an der Haltestelle stehen blieb. Er beobachtete wie sie ihre Augenbrauen nach oben zog und laut seufzte.
„Na Wumms eben!“, sie wiederholte das Händeklatschen. Als er keine Reaktion des Verstehens zeigte holte sie erneut tief Luft, „Er stand da und hat Dir hinterher gebrüllt und währenddessen ist ihm ein zweites Auto hinten reingeknallt!“
Wieder das Klatschen. Es begann ihn zu nerven.
„Ach so, ja, okay, verstehe...“, schnell kamen die Worte über seine Lippen und er hoffte inständig, dass sie aufhören würde in die Hände zu klatschen.
Die Bahn fuhr wieder los. Zurück blieben zwei Jugendliche. Bastian kniff einen Moment seine Augen zusammen, aber durch den Regen und die Dunkelheit war kaum mehr als die Umrisse zu erkennen. Trotzdem kam der eine ihm irgendwie bekannt vor. Sie lachten laut, zumindest der eine, und als sie sich in Bewegung setzten kam es ihm so vor als würden sie leicht schwanken.
„Scheiße!“, ihre Stimme brachte seine Aufmerksamkeit wieder zurück.
Er folgte ihren Blick. Auf der Straße direkt neben ihnen fuhr ein Auto langsam auf die grüne Ampel zu. Aber das eigentlich Ungewöhnliche war, dass es Vorne völlig eingedellt war. Er wunderte sich wie es überhaupt möglich war, dass das Ding noch fuhr.
„Lass uns abhauen!“, sie bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung ihr zu folgen und stemmte dabei den Kinderwagen auf die Hinterräder.
Er folgte ihr und sein Herz, das sich vor kurzem erst wieder beruhigt hatte, begann wieder wie wild zu klopfen. Da war so ein Zittern in ihrer Stimme gewesen, fast schon eine leichte Panik. Bastian zwang sich nicht los zu rennen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass das Auto ihnen den Weg abschneiden würde und zwei Bewaffnete raus springen würden. Er kam sich vor wie in einem schlechten Gangsterfilm. Aber nichts passierte. Nachdem sie einige hundert Meter schweigend zurückgelegt hatten ohne dass das Auto ihnen gefolgt wäre, begann er langsam an ihrer Geschichte zu zweifeln. Er beäugte sie aus seinem Augenwinkel auf irgendein Anzeichen, dass ihm Auskunft über den Zustand ihrer geistigen Gesundheit geben könnte. Aber er konnte nichts Auffälliges ausmachen. Sein Blick fiel auf den Kinderwagen.
„Ist das eigentlich Deines?“, mit dem Kopf deutete er in Richtung des Babys, das unter den dicken Decken kaum zu erkennen war.
„Quatsch, meine Mutter hatte noch einen Spätzünder.“, auffordernd hob sie ihr Kinn und wandte ihm ihr Gesicht zu.
„Echt?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen grinste sie ihn breit an, bevor sie ihren Blick wieder auf die Straße richtete. Bastian zog seine Brauen zusammen und hatte keine Ahnung was er ihr überhaupt noch glauben wollte. Sie war komplett durchgeknallt! Er schüttelte den Kopf und verlangsamte seinen Schritt.