Donnerstag, 15. Oktober 2009

Die Geister, die Du riefst


Stöhnend wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Seine Hand traf sie unsanft an ihrer rechten Schulter. Unwillkürlich fasste sie sich an die getroffene Stelle. Ihre Augen blinzelten, während sie sich langsam aufrichtete.
„Was ist...?“, sie brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen.
Mit einem langen Blick starrte sie zu ihm, beobachtete seinen nächtlichen Kampf. Schließlich berührte sie seufzend seine Schulter:
„Schschsch … wach auf, es ist nur ein böser Traum...“
Blitzschnell packte seine Hand ihren Arm, wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wird, schnellten seine Schultern nach oben. Er verdrehte ihr beinahe den Arm, als er sie zur Seite riss. Im nächsten Moment war er über ihr. Seine Augen waren auf einen fernen Punkt fixiert, irgendwo hinter ihrem Kopf. Sein heißer, schwerer Atem blies ihr ins Gesicht. Sie blieb ganz ruhig, während sie versuchte seinen Blick einzufangen.
„Alles ist gut … es war nur ein böser Traum...“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Als er ihr Gesicht dicht vor seinem erkannte, begriff er langsam wo er war. Ihm entfuhr ein leises Grunzen, während er etwas unbeholfen seinen Griff lockerte. Langsam richtete er sich auf, starrte seine Hände an. Er wich ihrem fragenden Blick aus, setzte sich an die Bettkante und vergrub sein Gesicht in seinen großen Händen. Er spürte wie seine Augen feucht wurden und war froh, dass die Dunkelheit es vor ihr verbarg. Mit tiefen Atemzügen suchte er sich wieder zu beruhigen. Er hörte wie sie sich langsam aufrichtete. Sein ganzer Körper spannte sich an. Er spürte, wie sie sich vorsichtig an seinen Rücken schmiegte. Die Berührungen ihrer Fingerspitzen, waren wie Messerstiche auf seiner Haut. Er zuckte.
„Lass mich!“, seine Stimme schnitt laut und scharf durch die Stille.
„Was ist nur los mit Dir? Seit Du zurückgekommen bist, vergeht kaum eine Nacht, in der ich Dich nicht aus diesen schlechten Träumen wecken muss.“, es war mehr ein Schluchzen als ein Sprechen.
Er antwortete nicht. Saß einfach still da, ganz in sich versunken, auf seinen Atem konzentriert.
„Ich halte das nicht mehr aus! Erzähl mir endlich, was es ist, was Dich nachts verfolgt“, und kaum hörbar setzte sie noch hinzu, „bitte...“.
„Wie oft soll ich es Dir noch sagen? Es ist keine Frauensache und geht Dich nichts an!“, er hatte ihr das Gesicht zugewandt.
Seine Augen starrten sie an. Aufgerissen, aber doch seltsam gefühllos, beinahe kalt. Einen Moment lang war es völlig still im Raum, während sie seinem Blick zitternd stand hielt. Eine weinerliche Stimme aus dem Nebenraum durchbrach das Schweigen:
„Mama?“
„Geh, und kümmere Dich um unseren Sohn!“, es war ein Befehl, keine Bitte.
Er wandte sich von ihr ab. Sie zögerte. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie nicht locker lassen wollte. Er spürte Wut in sich aufsteigen und schnaubte. Doch bevor er sich wieder ihr zuwenden konnte, stand sie fast lautlos auf. Mit einem leisen Seufzen verließ sie das Schlafzimmer. Er hörte, wie sie drüben leise mit dem Kind sprach und schloss die Tür. Dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und vergrub sein Gesicht tief in seinen Händen. Jetzt war er wieder alleine, allein mit den Bildern. Mit einem leisen Stöhnen krallten sich seine Finger in seinen Haaren fest.
Wieder sah er das mehrstöckige Hochhaus vor sich, spürte wie der Riemen der Reisetasche tief in seine Schulter ein schnitt. Sah die junge Frau, die ihm mit dem kleinen Kind im Sportwagen entgegen kam. Sie lächelte ihm zu. Es war ein freundliches und gewinnendes Lächeln, er konnte gar nicht anders, als es zu erwidern
„Sind Sie neu hier?“, ihre Stimme klang sanft.
„Nur zu Besuch.“, er erinnerte sich, dass er ihr kaum in die Augen sehen konnte.
„Na dann, angenehmen Aufenthalt! Es sieht hier zwar auf den ersten Blick nicht besonders einladend aus – aber die Gegend hier ist eigentlich gar nicht so schlecht!“, hatte sie ihm zugezwinkert?
Das Kind hielt ihm seinen Lutscher hin und brabbelte etwas. Es schien ungefähr das gleiche Alter zu haben wie sein Sohn. Er liebte seinen Sohn über alles. Beschämt murmelte er etwas in seinen Bart, nickte der Frau zu und steuerte schnell in Richtung der Eingangstür. Sie rief ihm noch etwas hinterher. Was verdammt, hatte sie gerufen? Er hatte sie nicht verstanden. Klingelte, murmelte etwas von Post, so dass die Frau es nicht hören konnte, und nickte ihr kurz zu, ehe er das Haus betrat. Als er wenige Minuten später das Haus ohne Tasche verließ, war von ihr und dem Kind keine Spur mehr. Er stellte sich in die sichere Entfernung einiger hundert Meter auf die gegenüberliegende Straßenseite. Leise zählte er bis hundert. Als er bei fünfundneunzig war, sah er plötzlich die Frau und das Kind an der Eingangstür stehen. Wie hatte er sie übersehen können? Er rief ihr etwas zu. Sie drehte sich zu ihm. Als sie ihn erkannte, winkte sie zu ihm rüber und antwortete etwas. Sie lachte. Im nächsten Moment durchschnitt ein lauter Knall die Luft. Mit hellen Blitzen brach das Hochhaus in sich zusammen. Er wusste, dass er nichts außer der hellen Blitzwelle gesehen haben konnte. Trotzdem wurde er Nacht um Nacht von anderen Bildern geweckt. Das Gesicht der Frau mit dem freundlichen Lächeln verfolgte ihn. Ebenso wie der große, unschuldige Blick des Kindes. Dann veränderten sich die Gesichtszüge, wurden ängstlich, panisch, schmerzverzerrt. Zum Schluss sah er nur noch zwei Augenpaare, die ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrten. Vernichtet, aber doch nicht ausgelöscht. Manchmal vermischten sich die Gesichter mit denen seiner eigenen Frau und seines Sohnes.
Am ganzen Körper zitternd saß er noch immer auf der Bettkante. Die Stimme seiner Frau, die drüben im Nebenraum ein Schlaflied für seinen Sohn summte, drang an sein Ohr.
Sie hielt das Kind fest an sich gedrückt und wiegte es sanft in den Schlaf. Dabei wusste sie nicht, ob sie nicht einfach nur sich selbst wiegen wollte. Der Junge beruhigte sich langsam. Als sie hörte, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde hielt sie inne und hob ihren Kopf. Sie hörte seinen schweren Schritte durch den Flur eilen. Mit einem lauten Knall fiel die Wohnungstür ins Schloss. Dann war es still. Ihr entfuhr ein leises Schluchzen. Fest drückte sie ihren Sohn an ihre Brust.