Montag, 30. März 2009

Im Regen I


Die Straßenbahn war längst um die nächste Kurve gefahren, aber Marie stand immer noch wie angewurzelt im Regen. Ein Tropfen lief ihr über das kurze Haar in den Nacken. Sie schüttelte sich und zog ihre Kapuze über. Das Schreien aus dem Kinderwagen war inzwischen etwas leiser geworden. Dennoch dröhnte es ihr immer noch unangenehm in den Ohren.
„Wenn Du nicht still bist, lass ich Dich hier stehen!“

Der kleine Wurm im Inneren des Wagens ließ sich von der Drohung nicht beeindrucken. Er krähte einfach weiter. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Sie berührte ihren linken Oberarm, der immer noch leicht schmerzte. Was war mit dem Kerl eigentlich los gewesen? Ist aus der Bahn gerannt als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Das Quietschen von Bremsen und die Hupe eines Autos zerrissen plötzlich die abendliche Stille. Als sie herum fuhr sah sie wie dieser Kerl einfach so über die Straße marschierte, als würde sie ihm alleine gehören. Er hob nicht einmal den Kopf, als das Auto nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen zum Stehen kam. Der Fahrer, ein Mann im Anzug so zwischen vierzig und fünfzig, riss seine Tür auf und sprang aus dem Auto.
„Hast Du keine Augen im Kopf?!?“, er brüllte, aber der Angebrüllte schien ihn nicht zu hören sondern lief einfach weiter.
Der Mann stand da und starrte mit offenen Mund. Er wirkte irgendwie hilflos als er ihrem Blick begegnete. Sie versuchte ein schiefes Lächeln und zog ihre Schultern kurz nach oben. Ein weiteres Quietschen, dann ein lauter Knall. Mit aufgerissenen Augen beobachtete sie wie der Wagen des Mannes sich einige Meter nach vorne bewegte. Einen Augenblick hielt sie die Luft an. Aus der Ferne drang das Schreien des Babys an ihr Ohr. Mechanisch schüttelte sie wieder den Griff des Wagens. Ein zweiter Mann, allerdings deutlich jünger, stieg aus dem Auto, welches in den Wagen des Mannes geknallt war. Aus der Beifahrertür stieg eine Frau, Anfang dreißig. Der ältere Mann war inzwischen um sein Auto gerannt und brüllte den jüngeren an. Der versuchte diesen mit einer Handbewegung zu beschwichtigen. Marie sah wie die Frau die hintere Tür aufmachte und mit zwei Mädchen auf der Rücksitzbank sprach. Der ältere Mann kam mit hochrotem Kopf auf Marie zu und packte sie am Arm, genau an der Stelle an der der blonde Kerl sie angerempelt hatte.
„Ey!“, mit einer heftigen Bewegung riss sie sich los und machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Du hast alles gesehen! Du bleibst hier als Zeuge, bis die Polizei kommt!“, er versuchte erneut sie zu packen. Zum Glück kam der jüngere Mann hinzu.
„Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal und zerren Sie nicht so an dem Mädchen herum!“
Marie schnaubte. Mädchen! Das sie nicht lachte! Sie wusste, dass sie mit ihrer Stupsnase und den großen Augen immer wesentlich jünger geschätzt wurde, als sie war. Aber seit sie den Kinderwagen vor sich her schob war sie von niemanden mehr als Mädchen bezeichnet worden. Sie registrierte plötzlich, dass das Kleine immer noch laut brüllte, nahm mechanisch das schreiende Bündel aus dem Wagen und drückte es fest an ihre Brust. Es war warm und weich. Die Berührung beruhigte ihren Herzschlag.
„Ich weiß nicht von welchem Mädchen Sie sprechen!“, sie hob ihre Nasenspitze und blitzte die beiden Männer an.
Der jüngere lächelte und nickte ihr zu:
„Oh, Verzeihung! Ich meinte selbstverständlich die junge Dame.“
Marie lies sich nicht dazu herab sein Lächeln zu erwidern, aber sie nickte ihm zu.
„Jedenfalls bleibt sie als Zeugin!“, der Ältere mischte sich wieder ein. Das stille Übereinkommen zwischen seinem Unfallgegner und ihr schien ihm nicht zu behagen.
Mit Erleichterung stellte sie fest, dass das Baby sich langsam beruhigte. Der Strampelanzug wurde feucht vom Regen.
„Scheiße!“, schnell legte sie das Kleine wieder in den Wagen und packte es fest ein. Ein Niesen aus dem Inneren lies ihr kurz den Atem stocken.
„Ich muss nach Hause ins Trockene, sonst holt sich die Kleine hier noch den Tod!“
Mit festem Griff umfasste sie den Kinderwagen und wollte ihn eben an den beiden Männern vorbei schieben.
„Halt! Das geht jetzt nicht – Sie müssen warten bis die Polizei da ist!“
„Einen Scheiß muss ich! Wenn Sie mich jetzt nicht sofort in Ruhe lassen zeige ich Sie wegen Körperverletzung an!“
Der Angeschriene starrte sie mit offenem Mund an.
„Aber...“
„Die junge Frau hat Recht, das Baby sollte wirklich nicht so lange in der Kälte bleiben. Geben Sie uns doch einfach Ihre Adresse, dann kann die Polizei sich bei Ihnen melden, wenn noch Fragen oder Unklarheiten aufgetaucht sind. Beziehungsweise wir können Ihre Daten an unsere Versicherungen weiterleiten.“, die Stimme des Jüngeren klang sehr freundlich.
Marie bemerkte, wie er versuchte zu vermitteln. Sie hatte kein Interesse daran in diesen Unfall mit hineingezogen zu werden. Sollten sie doch nach dem blonden Kerl suchen!
„Ich habe überhaupt nichts gesehen...“
„Natürlich! Sie standen doch da!“, der Ältere hob die Hand, schien es sich dann aber doch im letzten Moment anders zu überlegen, als er ihrem Blick begegnete und lies sie wieder fallen.
Der Andere hielt ihr Papier und Stift unter die Nase, zog aufmunternd die Augenbrauen nach oben und lächelte.
„Schreiben Sie sie doch einfach hier auf mit Telefonnummer.“, an den Älteren gewandt, „wir müssen die Straße räumen.“
Mittlerweile hatte sich schon eine Schlange von Autos gesammelt. Einige hupten ungeduldig. Marie seufzte und kritzelte etwas auf das Papier. In der Ferne waren Sirenen zu hören. Sie hoffte inständig, dass das nicht die Polizei für diesen Unfall sein möge. Sie faltete das Papier sorgfältig und drückte es mit einem Lächeln dem jüngeren Mann in die Hand. Dieser nickte ihr zu und steckte den Zettel ungesehen in seine Tasche. Sie murmelte etwas und setzte sich mit einem schnellen Schritt in Bewegung.
Wie gut, dass er den Zettel erst später auspacken wird, dachte sie still bei sich. Leise summend, mit einem Lächeln auf den Lippen überquerte sie die Straße. Plötzlich stutze sie. Stand dort vorne an der Ecke nicht der blonde Kerl? Einen Moment zögerte sie, drehte sich noch einmal zu den beiden Männern um, die mittlerweile in ihre Autos eingestiegen waren und diese mit Warnblinker an den Straßenrand fuhren. Dann schien sie es sich anders zu überlegen. Achselzuckend wandte sie sich wieder nach Vorne. Mit festem Schritt lief sie auf den blonden Kerl zu.

Donnerstag, 26. März 2009

In der Straßenbahn IV


Bernd zog sich seinen Haargummi aus den Haaren und band seinen Zopf fester. Lasse pfiff und grinste ihn breit an. Bernd musterte ihn betont abschätzig von oben bis unten.
„Sehr witzig.“
Lasse grinste noch breiter, legte den Kopf schief und zwinkerte ihm zu. Er begann mit seinen Fingern auf seinem Bein einen Rhythmus zu trommeln. Bernd hielt einen Moment inne, lächelte und begann zu pfeifen. Nach einigen Taktschlägen brach er ab und trommelte nun selbst einen neuen Rhythmus auf seinem Oberschenkel. Lasse legte seine Stirn in Falten, schloss für einen kurzen Moment die Augen, lächelte und pfiff die passende Melodie zu Bernds Takt.

Würde mich aber jetzt trotzdem interessieren wer dieses Mädel heute Nachmittag war. Bernd entschloss sich den Gesprächsfaden noch einmal aufzunehmen und holte Luft. Im Augenwinkel nahm er eine Bewegung war. Er schaute auf und sah wie dieser Schwarzfahrer – wie hieß er noch gleich? Bastian? – auf sie zukam. Er zog die Augenbrauen hoch und hielt mit dem Trommeln inne. Dieser Bastian sah ganz schön fertig aus. Hochrotes Gesicht, Schweiß auf der Stirn, kurzer, flacher Atem und die Augen weit aufgerissen. Was war los mit dem? Sieht irgendwie krank aus, überlegte Bernd. Mit einem Kopfnicken in Bastians Richtung machte er Lasse auf ihn aufmerksam. Der wandte den Kopf nach hinten. Er entzog so sein Gesicht Bernds Blicken.
„Warum hast Du Dich eingemischt?“, die Stimme des Blondschopfs klang abgehackt und heiser.
„Keine Ahnung. Hat so ausgesehen als könntest Du ein wenig Unterstützung gebrauchen.“, Lasses Stimme klang so ruhig, so allwissend.
Sein Tonfall erinnerte Bernd an seinen Vater. Der hatte auch immer so mit ihm gesprochen, wenn er ihm klar machen wollte dass er keine Ahnung hatte. Bernd sah wie Bastians Augen kurz aufblitzten und konnte diese Wut gut verstehen. Er stupste Lasse unauffällig mit dem Fuß an, aber der zog ihn einfach weg und achtete nicht weiter auf ihn.
„Sag mal, geht’s Dir nicht gut?“, Lasses Stimme klang jetzt ein wenig besorgt.
Ein Ruck ging durch die Bahn. Bastian sah auf. Bernd war sich nicht sicher, aber er hatte irgendwie das Gefühl, dass die ganze Spannung aus ihm wich. Im Augenwinkel sah er wie eine sehr junge Frau einen Kinderwagen zur Tür schob. Dabei stieß sie gegen den Haltebügel und aus dem Wagen kam ein ohrenbetäubendes Schreien. Sie fluchte und schüttelte im schnellen Takt den Griff des Kinderwagens, aber erfolglos. Bernd zog eine Augenbraue hoch. Sie sah gerade mal aus wie neunzehn, wenn überhaupt und sie schien ordentlich überfordert zu sein.
„Ich muss hier raus. Jedenfalls danke für Deine Hilfe.“, Bastian klang wie ein gehetztes Tier und genauso drehte er sich um und stürmte aus der Bahn.
Dabei rannte er die junge Frau beinahe um. Mit einem Satz war er aus der Bahn gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden. Bernd sah seinen Kumpel an:
„Hast Du ne Ahnung was mit dem los ist?“
Lasse setzte gerade zu einer Antwort an, als die Stimme der jungen Frau ertönte:
„Kannst Du mir mal helfen?!?“
Bernd hatte keine Ahnung mit wem sie sprach, sie starrte nach draußen, aber da schien niemand zu stehen. Seufzend stand auf, sah zu Lasse und zuckte mit den Schultern als wolle er andeuten, dass ihr Samaritertum an diesem Abend wohl kein Ende finden würde. Er ging zu ihr und half ihr den Wagen mit dem schreienden Kind raus zu heben. Dann würde wenigstens wieder Ruhe in die Bahn einkehren. Regen empfing ihn und er fröstelte. Seine Jacke hatte er auf seinem Sitz liegen lassen. Er trug immer noch das T-Shirt vom Feuerspucken.
„Danke.“, es war nicht mehr als ein Hauchen.
Sie lächelte ihn an und zwinkerte. Bernd stockte für einen Augenblick der Atem. Was für coole Augen!
„Kein Problem.“
Im letzten Moment sprang er in die Bahn. Er drehte sich noch mal zur Tür als diese ruckelnd wieder losfuhr. Das Mädchen winkte ihm zu und er hob kurz die Hand während er mit offenem Mund nach draußen starrte. Zum zweiten Mal an diesem Abend hielt ein Blick ihn fest.

Montag, 23. März 2009

Strassenbahn III


Bastian fuhr sich durch seine blonden Locken. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Er hielt sich die kalte Colaflasche an die Wange, aber auch das half nicht gegen die Hitze, die in seinem Inneren war. Er konnte den Blick nicht abwenden von dem dunkelhaarigen Typen, der sich längst wieder zu seinem Kumpel gesetzt hatte. Lässig sah er aus, wie er so dasaß, breitbeinig in den Sitz gelehnt, eine Hand locker auf dem Oberschenkel gestützt, die andere in den Schoß gelegt. Jetzt lachte er wieder mit seinem Kumpel. Worüber lachten die eigentlich die ganze Zeit? Hatte der Kumpel gerade zu ihm hingesehen? Lachten sie etwa über ihn? Bastian spürte ein Kribbeln in der Magengegend, ihm wurde heiß. Er biss seine Zähne zusammen, bis sein Kiefer völlig angespannt war. Er bemerkte nicht, dass er die freie Hand zur Faust ballte. Die Straßenbahn kam mit einem leichten Ruck an der nächsten Haltestelle zum Stehen. Er sah wie die beiden Kontrolleure ausstiegen. Die Frau sah kurz zu ihm hin, sie sagte etwas zu ihrem Kollegen. Die Bahn bimmelte, setzte sich ruckelnd in Bewegung und Bastian verlor Beide aus dem Blick. Ohne darüber nachzudenken stand er plötzlich auf seinen Füßen, ergriff mit der freien Hand seinen Rucksack und bewegte sich auf den Dunkelhaarigen zu.

Der Blonde bemerkte sein Kommen zuerst und machte seinen Freund mit einer Kopfbewegung auf ihn aufmerksam. Als dieser seinen Kopf in seine Richtung drehte stockte Bastian für einen Moment der Atem. Was tat er hier eigentlich? Was wollte er? Er verlor sich in den dunklen Augen des Anderen. Mit der Zunge fuhr er sich schnell über die Lippen und hatte plötzlich den Geschmack von Schweiß im Mund.
„Warum hast Du Dich eingemischt?“, die Worte kamen zittrig und gepresst. Dabei hätte er den Anderen am liebsten barsch angefahren.
Der sah ihn mit ernstem Gesicht an. Seine Augen ließen Bastian nicht aus dem Blick. Er zog die Stirn leicht in Falten.
„Keine Ahnung. Hat so ausgesehen als könntest Du ein wenig Unterstützung gebrauchen.“, er lächelte ihm zu.
Dieses Lächeln war für Bastian wie ein Schlag. Sein Magen fühlte sich an als würde jemand mit einer großen eisernen Faust zugreifen und ihn zusammenquetschen. Ein Schnauben kam über seine Lippen, seine hellen Augen funkelten einen Augenblick. Du Arschloch!, hätte er am liebsten gebrüllt. Kommst Dir wohl superschlau vor, hmm? Sein Herz klopfte wild in seiner Brust. Er war sich sicher, dass der Dunkelhaarige und sein Kumpel es hören müssten. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Was ist mit Dir und Agnes? Um ein Haar wären die Worte über seine Lippen geglitten. Im letzten Moment presste er sie aufeinander und konnte sie aufhalten. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf und er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Er sah wie der Dunkelhaarige seine Lippen bewegte. Aber seine Worte drangen nicht bis zu ihm durch, sie waren zu leise um das Rauschen zu übertönen. Ein Rucken ging wieder durch die Bahn und es dauerte einen Augenblick bis er begriff, dass sie erneut an einer Haltestelle angekommen waren.
„Ich muss hier raus. Jedenfalls danke für Deine Hilfe.“
Bastian wartete keine Antwort ab. Er hatte seine Schuldigkeit getan. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich ab und stürzte in Richtung Ausgangstür. Dort versperrte eine Frau mit einem Kinderwagen den Weg. Im letzten Moment konnte er seine Schritte stoppen, bevor er in sie hinein stolperte. Er drängte sich an ihr vorbei.
„Ey! Pass doch auf!“, sie rieb sich kurz den Arm und versuchte dann den Kinderwagen auf die Straße zu heben. „Kannst Du mir mal helfen?!?“
Er hörte ihre Worte, aber sie drangen nicht wirklich bis zu ihm durch. Ihm schlug eine kalte Brise entgegen und er sog mit einem langen Atemzug die kalte, feuchte Luft ein. Tropfen fielen auf sein heißes Gesicht. Ohne auf den Verkehr zu achten überquerte er die Fahrbahn. In der Ferne hörte er Reifenquietschen und die Hupe eines Autos. Sein Herz schlug immer noch in einem ungleichmäßigen Takt. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber er kam sich so klein und so gedemütigt vor. Im schnellen Schritt lief er einige hundert Meter bevor er atemlos stehen blieb. Nach Luft schnappend sah er sich um. Die Kälte, der Regen und der Wind brachten ihn langsam in die Wirklichkeit zurück. Wo war er eigentlich? Er wandte den Kopf auf der Suche nach etwas Markantem, woran er sich orientieren könnte.

Donnerstag, 19. März 2009

In der Straßenbahn II


Hanne nickte in Richtung ihres Kollegen, der im vorderen Teil der Bahn einstieg, während sie selbst die Tür ganz hinten öffnete. Sie setzte sich in die Nähe der Tür. Seufzend beobachtete sie die wenigen Menschen, die in die Bahn kamen. Ein junger, muskulöser Mann mit einem großen, schwarzen Koffer stolperte über seine eigenen Füße, schaffte es aber im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder zu finden. Was schleppte er auch einen so schweren Koffer mit sich herum? Sie kniff die Augen einen Moment zusammen und sinnierte über den Inhalt desselben. Die Bahn setzte sich mit einem kräftigen Rucken in Bewegung. Sie seufzte leise. Wie sie diese Abendschichten hasste! Sie würde jetzt viel lieber zu Hause bei ihrem Freund sitzen und sich irgendeinen Fernsehfilm ansehen. Scheiß-Job. Einen Moment lang starrte sie in die Dunkelheit draußen.
„Die Fahrkarten bitte!“, die Stimme ihres Kollegen riss sie aus ihren Gedanken.

„Die Fahrkarten, bitte“, im Aufstehen wiederholte sie den Satz ihres Kollegen. Aber er klang anders bei ihr, eine Spur freundlicher.
Sie hoffte inständig, dass alle Passagiere gültige Fahrausweise haben würden. Alles andere würde nur Mehrarbeit bedeuten und ihre Arbeitszeit gegebenenfalls verlängern. Sie kam an den Sitzplatz eines jungen Mannes mit verstruppelten, blonden Haaren. Er begann hektisch in seiner Tasche nach seinem Fahrschein zu wühlen, was ihr Gelegenheit gab in Ruhe sein Gesicht zu betrachten. Er war knallrot angelaufen, vielleicht war ihm die Situation peinlich.
„Wenn Sie keine Fahrkarte haben, dann geben Sie mir doch bitte ihre Personalien“, ihre Stimme sollte beruhigend klingen, aber sie spürte ein leichtes Zittern in ihr.
„Doch, habe ich. Warten Sie, irgendwo muss mein Studentenausweis sein.“
Seufzend vertiefte sie sich wieder in die Beobachtung des Gesichtes. Um seine Augen lag ein Schatten und die Ringe unter ihnen verstärkten den Eindruck von Müdigkeit. Aber der Schatten? Wo kam der her? Vielleicht hat er geweint – der Gedanke war plötzlich da und die Vorstellung rührte sie. Sie hörte auf mit dem Fuß zu tippen.
„Mensch Bastian, ich hab Dich ja gar nicht gesehen!“, ein dunkelhaariger Kerl mit Dreitagesbart drängte sich zu dem Blonden und klopfte ihm auf die Schulter.
Er sah ein paar Jahre älter aus. Wie um sich auszuweisen hielt er Hanne seinen Studentenausweis unter die Nase. Der Blondschopf starrte ihn einige Augenblicke an. Hanne runzelte die Stirn. Nichts wirkte so, als ob sie sich tatsächlich kennen würden.
„Kennen Sie sich?“, ihre Stimme klang jetzt barsch.
Der Dunkelhaarige lies sich nicht von dem Unterton beeindrucken. Stattdessen strahlte er sie an, seine Augen blitzten:
„Ja, klar. Wir studieren zusammen Medizin, siebtes Semester.“
Hanne stutzte – hatte dieser junge Kerl ihr eben zugezwinkert? Sie starrte ihn einen Moment lang mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Er lächelte sie an. Nicht doch, ich muss mich geirrt haben. Mit ihrer rechten Hand rückte sie ihre Brille zurecht.
„Das ist ja schön für sie Beide, aber einen gültigen Fahrausweis benötigt der Herr trotzdem.“, die vertraute Stimme ihres Kollegen lies sie aufatmen.
„Hat er doch. Ab sieben Uhr kann man doch als Student umsonst fahren.“
Hanne runzelte ihre Stirn und bedachte den Medizinstudenten mit einem langen Blick. Ganz schön vorlaut der Bursche.
„Aber nur, wenn Sie Ihren Studentenausweis dabei haben.“, ihre Stimme klang jetzt scharf während sie den blonden Kerl mit einem strengen Blick bedachte.
Sie hatte schon so viele Geschichten gehört. Manchmal wunderte sie sich wie phantasievoll die Menschen wurden, nur um dem Bußgeld zu entgehen. Die meisten waren unglaubwürdig und leicht zu durchschauen. Aber einige waren einfach verrückt, traurig, schräg oder herzzerreißend. Sie hatte sich schon überlegt diese Geschichten zu sammeln, sie alle in ein Buch zu schreiben. Aber nicht in der Spätschicht, da war sie nicht auf Geschichten eingestellt, da wollte sie eigentlich nur so schnell wie möglich wieder nach Hause.
„Ich muss ihn wohl zu Hause liegen lassen haben.“, die Worte klangen kleinlaut.
Hanne hatte jetzt endgültig keine Lust mehr sich weiter an der Nase herumführen zu lassen.
„Dann brauchen wir wohl doch Ihre Personalien.“
„Ich kann für ihn verbürgen. Wie gesagt, wir studieren zusammen.“
Schon wieder der vorlaute Kerl!
„Und was studiert der Herr?“, an der Stimme ihres Kollegen erkannte sie, dass er auch keine Lust mehr auf diese Geschichte hatte.
„Medizin, wie gesagt. Im siebten Semester.“
Warum lies er seinen Kommilitonen nicht selbst antworten? Kaum dass der seinen Mund aufgemacht hat, kam er ihm auch schon zuvor.
„Stimmt das?“, Hanne durchbohrte den blonden Mann mit ihrem Blick.
Wenn der andere jetzt wieder antwortet, dann verpass ich ihm auch ein Bußgeld! Völlig egal, ob er seinen Ausweis dabei hat oder nicht! Sie warf einen schnellen Blick zu dem Dunkelhaarigen, aber der stand ganz ruhig und lächelte. Der Angesprochene nickte. Hanne seufzte. Einen Moment lang verspürte sie eine leichte Enttäuschung, jetzt hätte sie sich doch gerne gestritten mit diesem vorlautem Kerl.
„Aber Ihnen ist klar, dass Sie auch als Student nur mit Ihrem Studentenausweis abends kostenfrei fahren können?“
Wieder nickte er und sah sie dabei mit großen Augen an. Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn. Sie tauschte einen langen Blick mit ihrem Kollegen. Wenn sie jetzt einfach nur formhalber die Personalien aufschreiben und so tun würde, als würde sie diese Geschichte glauben, dann hätten sie nicht mehr Arbeit. Dann käme sie vielleicht pünktlich zu den Tagesthemen nach Hause. Ihr Kollege verstand ihren Blick. Er nickte, ganz unauffällig und leicht. Wenn sie sich nicht schon so gut kennen würden, dann hätte sie das Nicken nicht gesehen. Sie lächelte, aber ihr Lächeln fiel kaum auf. Ihre Mundwinkel bewegten sich nur unmerklich.
„Gut, dann geben Sie mir jetzt bitte beide Ihre Namen. Wenn Sie noch einmal ohne Ausweis fahren, dann kostet Sie das vierzig Euro Strafgebühr.“
Sie schrieb die Namen auf ihr Papier. Der Blonde hieß tatsächlich Bastian. Sie zog ihre Stirn in Falten. Vielleicht hatte dieser vorlaute Kerl doch nicht gelogen? Aber sie hätte schwören können, dass dieser Bastian den anderen wie einen Fremden angestarrt hatte. Mit einem Schulterzucken verstaute sie Papier und Stift in ihren Taschen, nickte den beiden jungen Männern kurz zu und setzte sich dann zu ihrem Kollegen. Nächste Haltestelle würden sie wieder aussteigen, dann zehn Minuten auf die nächste Bahn warten und wieder kontrollieren. Sie hoffte inständig, dass dort alle ihre Fahrscheine haben würden. Beim Aussteigen warf sie noch einmal einen Blick in die Bahn. Wenn die beiden sich kennen, warum sitzen sie dann weiter getrennt? Sie sah dass der Blonde den anderen unauffällig aus seinem Augenwinkel anstarrte. Seltsam, wahrscheinlich war diese Geschichte doch erfunden, von dem Studenten. Der Blonde sah doch gerade mal aus wie Anfang zwanzig. Siebtes Semester Medizin, kaum glaubwürdig. Sie beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Kopfschüttelnd wandte sie sich ihrem Kollegen zu:
„Wie geht’s Deiner Frau?“

Montag, 16. März 2009

In der Straßenbahn I


Bernd stolperte beim Einstieg in die Straßenbahn. Um ein Haar wäre ihm sein Koffer aus der Hand gerutscht. Mit seiner freien Hand gelang es ihm gerade noch sich abzufangen. Obwohl er durch das Stolpern gezwungen wurde seinen Blick wieder auf seine Füße zu richten, stand ihm das Bild des Alten immer noch direkt vor Augen. Wie er langsam schlurfend und kopfschüttelnd zwischen den Bäumen verschwand. Plötzlich war da wieder dieser Blick. Diese zunächst ganz trüben und verwässerten, blauen Augen, die so ohne Vorwarnung im nächsten Moment aufblitzten. Ein Zittern lief durch seinen Körper als er erneut den tiefen Blick spürte.
„Sag, was sollte das? Seit wann verteilst Du Dein Geld an irgendwelche Penner?“, Lasses dunkle Augen starrten ihn durchdringend an, aber sein Blick drang nicht annähernd so tief in ihn, wie der des Alten.

Ächzend stellte er seinen Koffer neben den Sitzen ab und lies sich mit einem lauten Schnaufen in den Sitz plumpsen. Er erwiderte Lasses Blick mit ernster Miene. Suchte nach Worten, um seinem Freund zu erklären, holte Luft, zögerte und lies die Luft tonlos wieder ausströmen. Lasse zog die Augenbrauen hoch. Es war wie eine stumme Aufforderung. Bernd seufzte, zuckte mit den Schultern, schaute auf seine Schuhe während er erneut nach Worten suchte. Mit einem Mal blickte er wieder auf:
„Der Alte war heute schon bei meiner Show dabei. Also warum sollte ich mich bei meinem treuen Publikum nicht revanchieren?“
Lasse starrte ihn mit offenem Mund einen Moment lang an. Im nächsten Moment lachten sie beide laut auf.
„Nicht echt, oder?“
„Doch, wenn ichs Dir sage!“
Lasse wischte sich mit dem Ärmel seines Trenchcoats Tränen fort. Beide schnappten sie nach Luft und versuchten sich wieder zu beruhigen, bevor sich ihre Blicke erneut trafen und sie wieder losprusteten. Die Bahn setzte sich mit einem lauten Ächzen in Bewegung. Endlich beruhigte Bernd sich wieder.
„Wer war eigentlich das Mädel, mit der Du heute unterwegs warst?“
„Meinst Du die mit der seltsamen Mütze?“
Bernd zog seine Augenbrauen zusammen: „Lasse, willst Du mich verarschen? Du bist nur mit einem Mädel heute bei mir vorbeigelaufen. Also was solls? Keine Ahnung mehr, ob sie ne Mütze aufhatte oder nicht. Jedenfalls bist Du ihr wie ein Dackel gefolgt und hättest beinahe Deinen besten Kumpel übersehen!“
Betont echauffiert nahm er seine Nase nach oben und betrachtete Lasse von oben herab aus zusammengekniffenen Augen. Der sollte nur nicht denken, dass er sich so leicht abspeisen lassen würde! Er kannte seinen Freund und wusste, dass er immer versuchte nicht greifbar zu sein und alle Welt über seine Frauengeschichten im Dunkeln tappen lies. Vornehmlich natürlich die Damenwelt. Doch Bernd wollte ihn jetzt nicht so leicht davon kommen lassen. Der sollte sich schon einen guten Grund einfallen lassen, warum er seine Show links liegen gelassen hatte.
„Achso, DIE meinst Du.“, Lasse zwinkerte ihm zu und schien sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen zu können. Er grummelte, musste sich allerdings konzentrieren, um sich nicht wieder von Lasse anstecken zu lassen. Auffordernd zog er seine Augenbrauen nach oben und lies ihn mit schief gelegten Kopf nicht mehr aus den Augen.
„Okay, okay...“, Lasse atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor er endlich auspackte. „Ich kenn sie von diesem seltsamen Soziologieseminar. Du weißt schon, dass was ich mir unbedingt mal anhören wollte. Wegen dem Experiment, das der Professor dort durchführt. War echt seltsam, die haben tatsächlich alle da mitgemacht...“
Während Lasse sprach lies Bernd seinen Blick über die Schulter seines Freundes schweifen. Einige Sitze weiter saß ein Kerl mit kurzem, blonden Haar, der Lasse unentwegt auf den Rücken starrte. Als er Bernds Blick bemerkte, schaute er aus dem Fenster in die Dunkelheit hinein. Bernd wurde das Gefühl nicht los, dass er seinen Freund weiter über die Spiegelung des Fensters beobachtete.
„Der Kerl dort hinten glotzt Dich die ganze Zeit an. Ist der schwul, oder was?“
Lasse warf einen schnellen Blick über die Schulter. Als er sich wieder umdrehte hielt er mit Mühe ein Lachen zurück.
„Das ist der Lover von Agnes.“
„Echt?“, Bernd inspizierte den Kerl mit gerunzelter Stirn. „Woher weißt Du?“
„Quatsch, keine Ahnung wer er ist. Aber er scheint Geschmack zu haben, findest Du nicht?“, Lasse strich sich über sein Haar, schaute Bernd von unten herauf an und zwinkerte ihm mit geschürzten Lippen zu.
„Idiot!“, Bernd schlug ihn mit der flachen Hand auf das Knie, bevor sie beide in ein schallendes Gelächter ausbrachen.
„Die Fahrscheine bitte.“
Ein Herr mittleren Alters mit Schnauzbart schwang sich von einem Sitz im vorderen Bereich der Bahn auf und schlenderte mit wichtiger Miene den Gang entlang. Auch im hinteren Bereich war eine Gestalt aufgestanden. Doch sie war eine Frau, auch mittleren Alters mit einer kleinen Brille aus Silbergestell. Bernd kramte nach seiner Monatskarte. Die Frau war mittlerweile bei dem blonden Kerl angekommen, der mit hochrotem Kopf in seinen Taschen wühlte. Sie zückte Papier und Stift:
„Wenn Sie keine Fahrkarte haben, dann geben Sie mir doch bitte Ihre Personalien.“
„Doch, hab ich, irgendwo muss mein Studentenausweis sein. Warten Sie.“, er begann den gesamten Inhalt seiner Tasche auf dem Sitz neben sich auszubreiten.
„Mensch Bastian, hab Dich ja gar nicht bemerkt!“, Bernd zuckte zusammen, als Lasse aufsprang, sich neben die Frau stellte und dem blonden Kerl auf die Schulter klopfte. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er die folgende Szene.
„Kennen Sie sich?“, mit hochgezogenen Augenbrauen blickte die Frau zu Lasse.
„Ja klar, wir studieren zusammen. Medizin, siebtes Semester.“, Lasse hielt ihr seinen Studentenausweis unter die Nase.
„Das ist ja schön für sie Beide, aber einen gültigen Fahrausweis benötigt der Herr trotzdem.“, der Mann mit dem Schnauzer schob sich von der anderen Seite an Lasse ran.
„Hat er doch. Ab sieben Uhr kann man doch als Student umsonst fahren.“
Der Kontrolleur zog seine Augenbrauen nach oben.
„Aber nur, wenn Sie Ihren Studentenausweis einstecken haben.“
Der blonde Kerl packte seinen Rucksack wieder zusammen. Er sah von einem zum anderen, zuckte seine Achseln. Sein Kopf war immer noch tiefrot und seine Stimme klang ungewöhnlich zaghaft für einen jungen Mann:
„Ich muss ihn wohl zu Hause liegen lassen haben.“
„Dann brauchen wir wohl doch Ihre Personalien.“, die Frau tippte mit dem Fuß.
„Ich kann für ihn verbürgen. Wie gesagt, wir studieren zusammen.“
„Und was studiert der Herr?“, mit scharfen Blick fixierte der Kontrolleur den Blondschopf.
Dieser holte Luft, aber Lasse kam ihm zuvor:
„Medizin, wie gesagt. Im siebten Semester.“
„Stimmt das?“, die Frau sah den blonden Kerl abschätzig an. Dieser nickte stumm.
„Aber Ihnen ist klar, dass Sie auch als Student nur mit Ihrem Studentenausweis abends kostenfrei fahren können?“
Wieder nickte der Angesprochene. Die Frau sah von ihm zu Lasse. Sie tauschte einen langen Blick mit ihrem Kollegen und sah dann wieder zu dem Kerl.
„Gut, dann geben Sie mir jetzt bitte beide Ihre Namen. Wenn Sie noch einmal ohne Ausweis fahren, dann kostet Sie das vierzig Euro Strafgebühr.“
„Danke.“
„Bedanken Sie sich nicht bei mir, sondern bei Ihrem Kommilitonen!“, mit ernstem Gesicht schrieb sie die Namen auf ihr Papier.
Lasse lies sich mit einem breiten Grinsen wieder in seinen Sitz fallen.
„Wer ist jetzt hier der Samariter?“, Bernd fixierte seinen Kumpel kopfschüttelnd.
Lasse zuckte nur mit den Achseln und grinste weiter.
„Du weißt, wie die Pfadfinder: Jeden Tag eine gute Tat! Ich wollte einfach nicht hinter Dir zurückstecken!“
„Spinner!“
Einen Moment lang starrten sie sich mit zusammengepressten Lippen in die Augen. Bernd platzte zuerst und prustete los. Wieder hatten sie Mühe sich zu beruhigen.

Donnerstag, 12. März 2009

Am Busbahnhof II


Marvin fasste mit seiner Hand zu seinem linken Knie und verzog das Gesicht. Als er weiter lief zog er das Bein ein wenig nach. Verdammt! Schon wieder diese Schmerzen! Sein linker Fuß stieß gegen eine Blechdose. Für einen Moment vergaß er das schmerzende Bein und trat mit einem lauten Lachen heftig gegen die Dose. Ein heißer Blitz zuckte durch seinen Körper. Er heulte leise auf und knickte zusammen. Mit einem leisen Klacken landete sein Rucksack auf den Pflastersteinen.

Er kniete auf dem rechten Bein und umschlang sein Linkes mit beiden Armen. Seine Stirn berührte das Knie. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf den Schmerz. Er hielt für einen Moment den Atem an und presste die Lippen zusammen. Langsam lies das Brennen nach. Zentimeter für Zentimeter richtete er seinen Körper wieder auf und kam schließlich auf beiden Füßen zum Stehen. Sein Atem ging schnell und schwer. Mit versteinerter Miene sah er sich um. Sein Blick streifte einen jungen Mann, der sich wohl vor dem Regen untergestellt hatte und ihm aus dem Schutz des Glashäuschens heraus blöde anstarrte.
„Was glotzt Du so blöd?“, es war mehr ein Zischen als ein Schreien.
Die Worte kamen gepresst über seine zitternden Lippen. Sein Blick fand keinen Fixpunkt. Er flog von dem Mann über den Platz hinweg, wieder zurück, hin zu seinen Füßen, hinüber zu den Bäumen hinter ihm, kam über den Brunnen erneut zurück und blieb schließlich hängen. Sein Rucksack. Die Pfütze in der er lag, war die vom Regen? Hastig beugte er sich nach unten, das plötzliche Stechen in seinem Bein ignorierend. Mit zitternden Fingern machte er sich an der Schnur zu schaffen. Der Regen fiel in dichten Streifen auf die Erde. Wasser tropfte von seinen zerfranstem, dunklen Haar und lief ihn übers Gesicht. Endlich hatte er den Knoten gelöst. Ein Husten schüttelte seinen Körper. Mit einem Würgen kam etwas nach oben. Er spukte den Klumpen in Richtung des Brunnens, während er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Tasten seiner Hand im Rucksack richtete. Als seine Finger die Flasche spürten verzogen seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen. Sie war noch ganz. Mit einer langsamen Bewegung beförderte er sie nach draußen, schraubte sie auf und nahm einen tiefen Schluck. Der bleierner Geschmack in seinem Mund wich dem Bitteren des Schnapses. Er schloss seine Augen während sich die Wärme langsam von seinem Magen aus weiter in seinem Körper ausbreitete. Nach dem zweiten Schluck war das Stechen in seinem Bein kaum mehr zu spüren. Er verzog seinen Mund erneut zu einem Grinsen. Mit einem lauten Rülpsen verstaute er die Flasche wieder im Rucksack. Diesmal kam er schneller auf die Füße. Allerdings so plötzlich, dass er beinahe wieder umgefallen wäre. Er stolperte ein paar Schritte zur Seite, bevor er sich auffangen konnte und leicht schwankend zum Stehen kam. Den Rucksack hielt er fest umklammert. Er sah sich um und sein Blick blieb erneut an dem jungen Mann hängen. Inzwischen hatte sich eine zweite Gestalt dazu gesellt. Die beiden schienen miteinander zu sprechen. Marvin kniff die Augen zusammen. Mit Mühe erkannte er, dass die andere Gestalt sehr kräftig war und das dichte Haar, dass ihr fast bis zum Hintern reichte, zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
„Der Feuerspucker“, er lächelte.
Wankend ging er in Richtung der beiden Männer. Vor dem Glashäuschen blieb er abrupt stehen, als wäre dort eine magische Grenze, die er nicht übertreten könnte. Er hob seine Stimme und streckte den Männern seine rechte Hand mit der offenen Handfläche entgegen:
„Eno sorme Kliekaa?“
Im Augenwinkel sah er wie der junge Kerl mit den dunklem, halblangen Haar zurückwich. Er unterdrückte ein Grinsen und zog es stattdessen vor den Feuerspucker mit großen Augen anzusehen. Es war besser wie ein Irrer zu sprechen. Dann stellen die Leute keine Fragen und drücken einem viel lieber ganz schnell ein wenig Kleingeld in die Hand, nur damit man sie schnell wieder in Ruhe lies. Schon seltsam wie leicht alles wird, wenn man sich die Unsicherheiten der Menschen zu nutze macht .
Hälst Dich wohl für was Besseres? Marvin musste sich beherrschen dem jungen Kerl nicht ins Gesicht zu brüllen, der jetzt mit dem Rücken an die Wand des Glashäuschens gedrückt dastand und sich mit seinem Unterarm die Nase zu hielt. Glaubst ich wäre Abschaum, hä? Täusch Dich mal bloß nicht, Dummkopf! Ich kann mich noch erinnern, weißt Du? Ich hab nicht schon immer so gestunken, bin nicht schon nach Schnaps riechend und schlurfend geboren worden. Auch wenn Du das glaubst. Aber weißt Du was die Wahrheit ist? Die Wahrheit ist, dass wir alle am Rand des Abgrunds laufen. Und es reicht ein einziger Augenblick Dich nach unten zu stürzen. Ein einziger, klitzekleiner Augenblick – verstehst Du? Wenn Du erst mal dort unten bist, dann gibt es keinen Weg mehr zurück. Nur weiter hinunter geht es, immer tiefer und tiefer. Bis Du schließlich ganz vergessen hast, wer Du bist. Aber ich, ich kann mich noch erinnern, noch erinnern. Die Gedanken wirbelten unsortiert durch seinen Kopf, während er den Kerl weiter im Augenwinkel beobachtete.
Mit trüben Blick und unbewegter Miene fixierte er währenddessen den Feuerspucker und konzentrierte sich ganz darauf die Gedanken nicht auszusprechen. Er biss sich auf die Lippe. Der Geschmack von Blut breitete sich langsam in seinem Mund aus. Der Feuerspucker legte ihm ein wenig Kleingeld in die ausgestreckte Hand.
„Vergelts Gott!“, er drückte den Arm des Feuerspuckers kurz und fest.
Ein Lächeln huschte über dessen Gesicht. Unsicher und im nächsten Moment schon wieder verschwunden. Marvin murmelte Unverständliches in seinen langen Bart und löste seinen Griff von dem Arm. Einen kurzen Augenblick begegneten sich ihre Blicke und es war so etwas wie ein Erkennen in ihnen. Marvin zögerte und stand wie fest gewachsen. Mit einer plötzlichen Bewegung, die den Feuerspucker zusammen zucken lies, wandte er sich ab und schlurfte in Richtung des Brunnens davon. Sein Kopf wackelte hin und her, ohne dass er es hätte kontrollieren können.
„Ich habe nicht vergessen, nein, nichts habe ich vergessen. Ich erinnere mich noch!“
Er murmelte die magische Formel immer noch vor sich hin, als die Dunkelheit zwischen den Bäumen ihn längst verschluckt hatte.

Montag, 9. März 2009

Am Busbahnhof I


Lasse hatte sein Handy wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen und wühlte aus der Innentasche seines Trenchcoats ein Päckchen Zigaretten hervor. Er beugte sich tief über das Feuerzeug, als er sich die Zigarette ansteckte. Eine Strähne seines halblangen dunklen Haares kam der Flamme gefährlich nahe. Er strich sie hinters Ohr, während er den Kopf in den Nacken legte und einen tiefen Zug des bitteren, dunklen Rauchs einatmete. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er die beiden Flirtenden, deren Kinder sich nun jedes an einen der Beiden ankuschelten. Warum sind meine Eltern eigentlich nie mit mir ins Kino gegangen? Er kaute diesen Gedanken vor sich hin, während der Rauch in einer gleichförmigen Wolke durch seine Nase wieder herausströmte. Etwas Kaltes und Feuchtes landete mit einer solchen Plötzlichkeit auf seinem Kopf, dass er zusammen zuckte. Er strich mit der Hand das feucht gewordene Haar glatt, als schon der nächste Tropfen nach unten fiel.

Mit gerunzelter Stirn blickte er Richtung Himmel und zog den Kragen seines Trenchcoats nach oben. Er nahm einen letzten, hastigen Zug bevor er die Zigarette in eine Pfütze warf, vergrub die Hände tief in seinen Taschen, zog die Schultern nach oben, beugte den Kopf vorn über und stieß sich mit seinem Fuß von der Wand ab an der er gelehnt hatte. Der Regen, der sich zunächst mit einigen, wenigen Tropfen seine Weg nach Unten gesucht hatte, wurde allmählich stärker. Lasse beschleunigte seinen Schritt. Er bog aus dem Kinotunnel nach links ab in Richtung des großen Straßenbahn- und Busbahnhofs. Ein kalter Wind blies die Fußgängerzone entlang. Er fröstelte. Es waren nur wenige hundert Meter bis zu dem Platz. Dennoch war er völlig durchnässt, als er wenige Minuten später dort eintraf. Auf dem Platz war der Wind noch stärker. Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog den Trenchcoat enger um sich. Schnell ging er in Richtung eines der großen Glashäuschen. Er musste mehrere Straßenbahnschienen kreuzen, bevor er dort ankam. Der Platz war leer, kein Bus und keine Straßenbahn standen und warteten auf Fahrgäste. Eine dunkle Gestalt mit zwei großen Koffern saß in dem Glashäuschen auf einer der Bänke. Beim näher kommen konnte Lasse einen kräftigen Oberkörper ausmachen. Er achtete nicht weiter auf die Gestalt sondern widmete seine Aufmerksamkeit vielmehr dem Fahrplan, der in dem Häuschen angeschlagen war. Der Geruch von Benzin stieg ihm in die Nase. Für einen kurzen Moment hielt er inne und sog die Luft tief ein, als erinnere ihn dieser Geruch an etwas. Dann lenkte ihn das Scheppern einer Blechdose ab. An dem beleuchteten Brunnen direkt neben dem Glashäuschen stand ein kräftiger Mann. Lasse zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete das Bild näher. Im Licht des Brunnens konnte er das Gesicht recht gut erkennen. Den Falten auf der Stirn und um die Augen herum nach zu urteilen schien der Mann schon recht alt zu sein. Der Rest des Gesichtes war von einem kräftigen Vollbart verdeckt, der mehrere Zentimeter lang war. Umrandet wurde es von strähnigem und fettigem schulterlangem Haar. Die Bewegungen waren abgehakt und der alte Mann schien Schwierigkeiten zu haben sein Gleichgewicht zu halten. Er stieß an einen kleinen Rucksack, der direkt neben ihm stand und einen Moment schien es so, als würde er stürzen. Mit einem großen Ausfallschritt, den Lasse dem Alten nicht zugetraut hätte, gelang es ihm jedoch sich abzufangen. Plötzlich wandte der Alte ihm den Kopf zu. Obwohl sein Gesicht nun im Schatten lag glaubte Lasse zu erkennen, dass er ihm direkt in die Augen starrte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der Alte bleckte die Zähne und rief etwas in seine Richtung, was Lasse nicht verstand. Er wich unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Lasse?“
Die Stimme war so plötzlich und so nah bei ihm, dass er sich mit einem Ruck umdrehte. Seine rechte Hand war zur Faust geballt in seiner Tasche, sein Körper war bis auf den letzten Muskel angespannt. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht und die Anspannung schien ebenso schnell wieder von ihm abzufallen, wie sie gekommen war.
„Bernd?“
Lachend klopften sich die beiden Männer auf die Schulter.
„Wie lief das Geschäft?“ Lasse deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der beiden Koffer, wobei einer der Koffer sich bei genauerem Hinsehen als ein Ghettoblaster entpuppte.
Der Angesprochene zuckte kurz mit den Schultern.
„Nicht schlecht eigentlich – warum bist Du nicht für eine Runde geblieben?“
Lasse holte Luft, um zu antworten, wurde aber von dem unverständlichen Kauderwelsch des Alten unterbrochen. Dieser war jetzt bis zu dem Glashäuschen gekommen und streckte seine Hand aus. Lasse hielt den Atem an. Der Wind blies an dem Alten vorbei in das Häuschen hinein. Eine Duftmischung aus Alkohol und ungewaschenen Kleidern schlug ihnen entgegen. Die hingestreckte Hand war von einem löchrigen Halbfingerhandschuh mehr schlecht als recht bedeckt. Den Rucksack hatte er sich um seine linke Schulter gehängt. Bernd klopfte Lasse mit seiner Hand auf die Schulter während er an ihm vorbeiging und dem Alten ein wenig Kleingeld in die Hand drückte. Dieser verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen, was Lasse einen guten Blick auf die zum größten Teil fehlenden Zähne ermöglichte. Angewidert wandte er den Blick ab.
„Vergelts Gott!“, der Alte drückte mit der anderen Hand Bernds Arm, wandte sich dann ab und wankte wieder in Richtung des Brunnens.
„Ich wusste gar nicht, dass Du unter die Samariter gegangen bist?“, Lasse zog seine Augenbrauen nach oben und musterte seinen Freund eingehend.
Bernd zuckte wieder mit den Schultern und wollte eben etwas erwidern, als die Bahn kam. Wortlos stiegen sie ein. Lasse trug den Ghettoblaster und sah noch einmal zu dem Alten am Brunnen. Was war nur in seinen Freund gefahren? Seit wann verteilte er Kleingeld an irgendwelche Penner? Er seufzte. Lieber noch ein wenig über dieses Thema mit Bernd reden, bevor der ihn noch einmal wegen Agnes fragte. Er kniff die Lippen ein wenig zusammen und hatte keine Ahnung, was er Bernd erzählen sollte, wenn der ihn gleich fragen würde.

Donnerstag, 5. März 2009

Auf der Straße II


„Hat euch beiden der Film gefallen?“, Birgit kniete sich hin, um Larissa den Schal fester zuzubinden. Sie lächelte Melinda kurz zu.
Larissa nickte. Ihre Wangen waren tiefrot. Birgit berührte sie leicht mit der Hand. Glühendheiß, beinahe etwas verschwitzt.
„Du und Deine Fernsehwangen...“, sie murmelte es kaum hörbar und schon während sie den Satz aussprach war sie sich schon nicht mehr sicher, ob es tatsächlich der Film war, der die heißen Wangen zu verantworten hatte.

Ihr Blick wanderte wieder zu Melinda. Sie wurde von einem Augenpaar fixiert, dass unter der in tiefe Falten gelegten Stirn kaum zu erkennen war. Die Augen waren zu Schlitzen geformt, der Mund zusammengekniffen und Melinda machte nicht den Anschein als wollte sie auf ihre Frage antworten. Birgit zog ihre Augenbrauen vorsichtig ein Stück nach oben und lächelte ihr noch einmal kurz zu, bevor sie sich wieder aufstellte.
Phil beugte sich zu dem Mädchen hinunter, raunte ihr etwas zu, während er Birgit zuzwinkerte. Melinda schüttelte erst ihren Kopf, dann nickte sie heftig. Schließlich seufzte sie, hob kurz die Schultern hoch und lies sich von Phil Richtung Ausgang schieben. Birgit legte ihre Hand auf Larissas Schulter.
Draußen fiel ihr Blick auf das Pärchen, welches eine Reihe vor ihnen gesessen hatte. Als sie sah, wie die junge Frau sich auf ihre Zehenspitzen stellte, um dem jungen Mann zum Abschied ein Küsschen zu geben, spürte sie einen kleinen Stich in der Magengegend. Ob das die Anfänge der ersten, großen Liebe waren? Für einen kurzen Moment stand ihr wie aus dem Nichts ein Bild vor Augen. So vertraut und doch schon fast vergessen, oder wohl eher gehofft, dass es vergessen gewesen wäre. Sie fühlte sich wie vom Donner gerührt und blieb für einen kurzen Moment stehen. Fast unmerklich wanderte ihre Hand auf ihr Dekolleté. Der sanfte Druck auf dem Brustbein beruhigte sie und der Schrecken des Gespensterbildes fiel langsam wieder von ihr ab. Bevor sie weiterging nahm sie einen tiefen Atemzug. Zurück blieb das schale Gefühl, welches sie nur zu gut kannte. Verhasst und vertraut zugleich.
Phil zwinkerte ihr zu. Seine Hand berührte beinahe ihren Arm, während sie liefen. Ihr Lachen war viel zu schrill und zu laut. Aber es half das schale Gefühl zu dämpfen. Locker lies sie ihren Arm wieder fallen, während sie ihren Kopf leicht beugte und Phil mit einem gekonnten Augenaufschlag anlächelte. Aber irgendetwas an diesem Blick war gekünstelt, unecht, auch wenn es nicht zu greifen war.
Im Augenwinkel sah sie den jungen Mann jetzt alleine an der Ecke zur Straße stehen. Er war hübsch anzusehen und hatte bestimmt keine Schwierigkeiten Frauen kennen zu lernen. Birgit hätte viel darauf verwettet, dass sein Handy voller Telefonnummern der unterschiedlichen jungen Frauen war. Als sie kurz ihren Kopf wandte sah sie das Leuchten in seinen Augen. Wieder tauchte das vergessen geglaubte Bild vor ihr auf. Diesmal scheuchte sie es nicht mit ihrem Erstarren weg. Diesmal sah sie ihrem Bild in die Augen und sie erkannte das selbe Leuchten in ihnen. Plötzlich wusste sie wieder warum sie sich auf alles eingelassen hatte – obwohl sie von Anfang an geahnt hatte, dass es nicht gut enden würde. Ein Feuer dass so heiß brennt erzeugt ein so starkes Leuchten, dass es alles um es herum anzieht. Aber es verbrennt und verglüht viel zu schnell. Es lässt Dich alleine stehen in der Dunkelheit, wo Dich nichts mehr wärmen kann.
Sie drückte Larissas Schulter ein wenig fester und seufzte. Der Körperkontakt lies sie langsam wieder auftauchen.
„Wenn ihr wollt, dann können wir euch nach Hause fahren?“, Phil hatte den Kopf leicht schief gelegt und sah sie an.
Eigentlich hätte sie ablehnen und auf ihr Monatsticket verweisen sollen. Wozu bei einem eigentlich fremden Mann ins Auto steigen, dessen Nichte offensichtlich von der ganzen Begegnung nicht besonders begeistert war? Sie sah ihn an und spürte eine leichte Wärme in sich aufsteigen. Aber warum das Angebot ausschlagen und gleich wieder mit den eigenen Gedanken alleine sein? Warum nicht alles noch ein wenig hinausschieben – die Erinnerungen, die Leere und die bohrenden Fragen? Sie nickte Phil zu und lächelte.
Sie unterhielten sich angeregt, während sie zum Auto liefen. Larissa kuschelte sich bei ihr an, sie wirkte erschöpft und müde. Selbst Melinda schien ihr Dauertrotz allmählich zu anstrengend zu werden, und sie lehnte sich bei Phil an.

Montag, 2. März 2009

Auf der Straße I


Lasse hatte seine Hände tief in den Taschen seines Trenchcoats vergraben. Den Kopf vornübergebeugt, den Blick fest auf die Spitzen seiner Schuhe geheftet. Sein Schritt war langsam. Er war mittelmäßig verwirrt, als er neben Agnes den Kinosaal verließ und in die Dunkelheit draußen auf der Straße trat.

„Tschüß dann, ich geh mal so langsam nach Hause...,“ Agnes Hände berührten ihn an den Schultern, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn links und rechts auf die Wangen ein Küßchen zu geben.
Bei dieser Prozedur umfasste er sie leicht an der Taille und versuchte ihren Blick aufzufangen. Aber ihre Augen wichen ihm aus. Er seufzte leise. Dann kniff er ihr freundschaftlich in die Wange und zwinkerte ihr zu:
„Du wirst sehen: Wenn Du in Deine WG kommst wird Dir gleich irgendwer ausrichten, dass Bastian versucht hat Dich anzurufen.“
Sie nickte leicht, sah ihn aber immer noch nicht an. Dann plötzlich hob sie ihren Blick und zuckte mit ihren Achseln:
„Egal. Nicht so wichtig. Was ist mit Dir und...“, hier zögerte sie einen Moment, fast als würde ihr der Name nicht mehr einfallen, vielleicht war sie sich auch mitten im Satz nicht mehr sicher, ob sie weiter sprechen sollte, „Janina?“
Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine dunklen Augen blitzten für einen kurzen Moment auf:
„Weißt Du – Pack schlägt sich und Pack verträgt sich. Ich wette bis heute Nacht um zwölf hab ich eine SMS von ihr. Und wenn nicht -“, hier zuckte er kurz mit den Schultern, „naja, wenn nicht, dann ruf ich sie eben kurz mal an.“
„Kennt ihr euch schon lange?“
„Ne Zeit...“, er dehnte die Worte und wandte kurz den Blick ab, bevor er weiter sprach, „Soll ich Dich nach Hause bringen?“
„Nein danke, wir sind hier ja nicht in der Großstadt wo man fürchten muss in einer dunklen Ecke überfallen und vergewaltigt zu werden. Außerdem ist es noch nicht wirklich spät. Ich wollte noch schnell was einkaufen, bevor ich heim fahre.“
Lasse nickte. Sie streckte sich noch einmal zu ihm hoch, um erneut Küßchen zu verteilen. Er lies es geschehen. Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, dass Agnes einen ganz kleinen Tick länger als nötig ihre Wange an seine drückte. Im nächsten Augenblick war der Moment verstrichen und er war sich plötzlich nicht mehr sicher. Oder hätte er es nur gern gehabt, wenn es so gewesen wäre? Egal. Hoffentlich behielt er Recht und dieser Bastian würde sich wirklich bei ihr melden. Lasse hatte keine Ahnung, wie er sie noch trösten sollte. Das heißt er hatte da so eine Idee … aber er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass seine kleine Schwester ihn ansah, wenn er in Agnes große Augen blickte. Er strich sich kurz über die Stirn, wie um den Gedanken schnell wieder fort zu wischen.
Als sie sich verabschiedeten wandte er sich um und tat als würde er in die andere Richtung fortgehen. Tatsächlich blieb er jedoch nach ein paar Schritten wieder stehen und beobachtete die anderen Kinobesucher, wie sie langsam aus dem Kino gedrängelt kamen. Die meisten waren Kinder zwischen, er war nicht so gut im Alter von Kindern schätzen, aber wahrscheinlich so zwischen fünf und zwölf Jahren. Dazu noch ein paar Erwachsene, für die Kleineren. Aber alles in allem kamen höchstens ein Dutzend Personen aus der Passage, die zum Kino führte, heraus getreten. Seine Aufmerksamkeit fiel auf zwei kleine Mädchen, die stumm und mit gesenkten Köpfen nebeneinander her liefen. Sie stachen ihm ins Auge, weil sie im Gegensatz zu den anderen Kindern so still und überhaupt nicht aufgedreht waren. Und obwohl sie so nah beieinander liefen schienen sie nichts miteinander zu tun zu haben. Das laute Lachen einer Frau lenkte seinen Blick ab. Sie hatte ihre Hand auf der Schulter des einem Mädchen. Die Hand löste sich ein wenig, als sie während dem Lachen ihren Kopf in den Nacken warf. Sie war um einige Jahre älter als Lasse und schenkte ihrem Begleiter, einem Mann so um die vierzig, ein strahlendes Lächeln. Dieser zwinkerte ihr zu. Lasse zog seine Stirn in Falten. Die beiden Erwachsenen flirteten ganz offensichtlich miteinander. Jetzt verstand er die beiden Mädchen viel besser. Das war ja peinlich, wenn die eigenen Eltern sich in der Öffentlichkeit offensichtlich so daneben benahmen! Er sah den Vieren nach, wie sie sich langsam in die Fußgängerzone schoben.
War ich mit meinen Eltern jemals im Kino? Der Gedanke schoss ihn mit einer Plötzlichkeit durch den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern.
Warum kann ich mich denn verdammt nochmal nicht an so was erinnern?
Das Surren seines Handys erlöste ihn von der langsam auftauchenden Melancholie. Er nahm es aus der Tasche und sah auf das Display. Eine SMS. Er brauchte gar nicht nachzusehen, er wusste schon von wem die war. Er sah dennoch nach. Sie war von Janina. Mit einem breiten Grinsen schob er es zurück in seine Tasche, ohne die SMS gelesen zu haben. Pack schlägt sich und Pack verträgt sich...