Donnerstag, 29. April 2010

Soldat!


Ein sonniger Vormittag im April. Ich gieße mir eine Tasse Tee ein, setze mich an meinen alten Küchentisch und schalte das Radio ein. Wärme mir meine Hände und genieße das Getränk in kleinen Schlucken. Die Nachrichten der Welt dringen an mein Ohr. Ich höre nur halb hin, gähne und habe Mühe meine Augen offen zu halten. Dann sagt der Sprecher etwas über vier Soldaten, die bei ihrem Auslandseinsatz ums Leben gekommen sind. Jetzt bin ich wach. Sofort habe ich wieder unsere alte Promenadenmischung vor Augen und erinnere mich an das Gespräch zwischen mir und meiner Mutter. Bilder einer Szene, die beinahe zwanzig Jahre zurückliegt. Ich schließe meine Augen, um mich besser an die einzelnen Details zu erinnern.

Erinnere mich an den Regen und darüber wie sehr ich verärgert über das Wetter war, weil ich wie jedes Jahr die ersten warmen und sonnigen Tage kaum erwarten konnte. Pünktlich zum Abendessen kam ich an jenem Tag nach Hause. Das Jahr war aber bereits soweit fortgeschritten, dass es trotz des Regens noch hell war. Ich spüre wieder dieses Flattern im Bauch, vor Aufregung. Das kaum erwarten können meinen Entschluss allen mitzuteilen.
„Ich werde mich verpflichten!“
Die Worte durchschnitten wie ein tödlicher Pfeil die ausgelassene Stimmung am Tisch. Mein Vater hielt im Kauen inne und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meine Mutter legte mitten im Essen Messer und Gabel zurück auf den Tisch und starrte von einem zum anderen.
„Was heißt das: 'Verpflichten'?“, wollte mein kleiner Bruder wissen.
Ich war befremdet von der, wie ich damals fand, seltsamen Reaktion meiner Eltern und froh wenigstens einem am Tisch unvoreingenommen von den Neuigkeiten erzählen zu können. Mein Vater lauschte schweigend den Erklärungen, die ich meinem Bruder gab. Erst als ich das Geräusch der Hundeleine hörte bemerkte ich, dass meine Mutter mitten im Essen aufgestanden war. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, unsere Promenadenmischung sprang schwanzwedelnd zur Tür. Ohne ein Wort ging sie raus in den Regen. Ich sah meinen Vater an, der zuckte wortlos mit den Schultern. Er griff nach dem Brotkorb und fing ein Gespräch mit meinem Bruder an. Kein Wort über meine Pläne oder seine Meinung dazu. Ich griff nach Schuhen und Jacke und folgte meiner Mutter in den Regen. Bei den Feldern hinter der Häuserlinie holte ich sie schließlich ein. Sie warf unserem Hund einen Stock.
„Hallo“, murmelte ich.
Sie nickte nur. Schweigend liefen wir bis zum Waldrand. Ich beobachtete den Hund, wie er immer wieder aufs Neue eifrig dem Stock hinterher lief. Dann verfing der sich weit oben in irgendwelchen Büschen. So hoch der Hund auch sprang, er konnte ihn nicht erreichen. Eben wollte ich losgehen, und ihn wieder runterschlagen als mich die Hand meiner Mutter zurückhielt. Ich wandte mich ihr zu. Ihr Blick streifte mich nur kurz, dann beobachtete sie wieder den Hund in seinem verzweifelten Versuch den Stock zurück zu holen.
„Warum willst Du Dich verpflichten?“
Ich lächelte. Endlich konnte ich erzählen!
„Nunja, wenn ich mich verpflichte, dann kann ich dort den Pilotenschein machen!“
„Wozu?“
„Wie bitte?“
„Wozu willst Du den Flugschein machen?“
Ihre Augen waren immer noch fest auf den Hund geheftet.
„Naja, so von wegen grenzenloser Freiheit und so ... So einen Flugschein könnte ich mir sonst nie leisten und es ist ein Supergefühl dort oben in einer kleinen Maschine!“
„Freiheit, aha … Du willst Dich also verpflichten um frei zu werden?“
„Mann! Nein, ich will mich verpflichten, um fliegen zu können!“
„Glaubst Du er bekommt den Stock?“
Einen Moment lang war ich verwirrt. Als ich den plötzlichen Themenwechsel verstand, wurde ich wütend.
„Was soll das?!?“
„Was meinst Du? Wenn ich vor einer tiefen Schlucht stünde und ihm den Stock hinunter werfen würde, würde er springen?“
Sie lies sich von meiner Wut nicht beeindrucken. Immer noch war ihr Blick fest auf unsere Promenadenmischung geheftet, der bellend vor dem Gebüsch auf und ab sprang. Sie ignorierte einfach was ich versuchte ihr zu erklären. Ich schnaupte hörbar durch die Nase und trat einen kleinen Stein den Weg entlang.
„Keine Ahnung, ist mir auch egal!“
Jetzt wandte sie plötzlich den Kopf zu mir. Ihre dunklen Augen fixierten meinen Blick. Sie sah mich ernst an.
„Was denkst Du? Würde er springen?“
Ich sah noch mal zu unserem Hund und beobachtete das jämmerliche Schauspiel. Als hätte er meinen Blick gespürt hielt er inne und drehte seinen Kopf in unsere Richtung. Meine Mutter ermunterte ihn mit ein paar Worten und sofort fuhr er mit noch größerem Eifer fort nach dem Stock zu springen.
„Wahrscheinlich schon, wenn Du ihn auffordern würdest. Aber warum solltest Du so was tun?“
„Er würde also wahrscheinlich in seinen sicheren Tod springen, wenn ich ihn dazu auffordern würde?“
„Ahm.“
„Und unser Kater?“
„Was ist mit ihm?“
„Würde der springen?“
Ich musste lachen bei der Vorstellung, dass irgendjemand unseren Kater dazu bringen wollte eine Schlucht hinunter zu springen wegen einem dämlichen Stock.
„Quatsch. Wieso sollte er?“
„Weil ich es von ihm verlangen würde?“
„Niemals. Der lässt sich von niemandem etwas vorschreiben. Er würde höchstens dem springenden Hund den Vogel zeigen und dann in der Küche nachsehen gehen, ob der wenigstens was von seinem Futter über gelassen hat, was er jetzt fressen könnte.“
„Was glaubst Du was für eine Haltung von einem guten Soldaten verlangt wird?“
„Wie meinst Du das?“
„Naja, sollte ein guter Soldat wie unser Hund seinen Befehlen folgen oder sollte er besser machen was er will, wie der Kater?“
„Blöder Vergleich! Natürlich soll ein Soldat Befehle einhalten, sonst würde ja Chaos ausbrechen. Aber er soll sicher auch mitdenken.“
„Ist das so? Ich habe keine Ahnung, war nie bei den Soldaten.“
Sie sah mich einen kurzen Moment mit einem seltsamen Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. Mich beschlich das Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte. Aber ehe ich reagieren konnte pfiff sie nach dem Hund und wandte sich zum Gehen. Ich folgte ihr und wollte eben das Gespräch fortsetzen. Da kam der Hund von hinten angelaufen und warf uns schwanzwedelnd den Ast vor die Füße. Ich drehte mich sofort zu dem Gebüsch um, konnte aber tatsächlich keinen Stock mehr oben hängen sehen. Noch heute frage ich mich wie der kleine Hund plötzlich dort hochgekommen sein will. Meine Mutter überprüfte nichts. Sie hob den Stock auf, tätschelte lächelnd seine Schulter und murmelte 'Mein guter Soldat!'.
In jener Nacht schlief ich schlecht. Hund und Kater gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie jagten sich in meinen Träumen und am Ende wusste niemand mehr, wer gewonnen hatte. Als ich am nächsten Morgen aufstand hatte ich meine Entscheidung getroffen.
Ich habe mich nicht verpflichtet. Habe auch nie meinen Pilotenschein gemacht. Bin ich deshalb weniger frei geworden? Ich weiß es nicht. Bekomme immer noch Sehnsucht, wenn ich kleine Maschinen am Himmel fliegen sehe. Meine Eltern schenkten mir zu meinem Geburtstag damals einen Rundflug mit einem Hubschrauber. Das war nett, aber es war nicht das Gleiche wie wenn ich selbst mit einer Maschine geflogen wäre. Ich denke sie wussten das, wollten mir aber wohl trotzdem eine kleine Freude machen. Habe mir überlegt Pilot zu werden. Aber die großen Urlaubsmaschinen zu fliegen ist einfach nicht das Gleiche Gefühl. Also hab ich es bleiben lassen.
Jetzt, wo ich diese Nachricht von den verstorbenen Soldaten höre, frage ich mich ob ich heute friedlich und gesund in meiner Küche sitzen würde hätte ich mich damals verpflichtet? Und wenn nicht, hätte es sich dann für das Gefühl grenzenloser Freiheit alleine in den Lüften in einer Maschine gelohnt? Ich denke nach. Ich weiß nicht wie lange. Im Hintergrund dudelt immer noch das Radio, jetzt mit nerviger Popmusik. Aber ich finde keine Antwort.