Donnerstag, 29. Januar 2009

Worte


vielsagende, bedeutungsschwangere, einfühlsame,
bösartige, dahingeschmetterte, verletzende,
nichtssagende
Worte.

Weißt Du immer genau was Du sagst?
Sagst Du immer, was Du denkst?
Was bringt Dich zum Schweigen, lässt Dich Deine Worte wieder hinunterschlucken?

Letzte Worte.
Was wirst Du sagen?
Wirst Du noch sprechen können?
Was wird Dir wichtig sein, in dem Moment wo Dein Leben wie ein Kartenhaus zusammenfällt?
Wirst Du dann endlich sagen was Du fühlst?
Wirst Du all das aussprechen, was Du Dich nie getraut hast auszusprechen?
Wirst Du schweigen, allein sein mit Dir?

Reden ist Silber – Schweigen ist Gold?
Bereust Du, was Du gesagt hast?
Platzt Du, weil Du nichts sagst, zu lange schweigst?
Es ist gar nicht so leicht, immer das „Richtige“ zu sagen.
Und es ist gar nicht so leicht auszuhalten nichts zu sagen, weil Du Dich das Eigentliche nicht aussprechen traust.

Reden,
Reden über den Kloß im Hals, der mich zum Schweigen bringt.
Wird er dadurch Kleiner?
Und doch nichts sagen können.

Wünsche Dir, dass Du das Eigentliche aussprechen kannst.
Hoffe für Dich, dass nichts Wesentliches Ungesagt bleibt.
Dass Du nie bereuen musst geschwiegen zu haben.
Dass Du Schweigen kannst, wenn es Nichts zu sagen gibt.

Montag, 26. Januar 2009

Draußen, Fußgängerzone I


Babett stützte sich auf Rainer. Ihr Atem ging schwer, die Augen sahen müde aus, aber ihr Gesicht leuchtete immer noch. Mit ihrer freien Hand hielt sie den neuen Schal fest umklammert, der ihren Hals schön warm hielt. Rainer schielte aus dem Augenwinkel zu ihr.
„Sollen wir uns kurz auf die Bank dort vorne setzen?“ Er deutete auf den kleinen Platz schräg gegenüber von dem Esprit Laden.

Sie überlegte einen Moment und nickte dann. Vor dem Stand mit den Crepes hatte sich eine lange Schlange gebildet und alle Bänke waren, trotz der Kälte, ganz oder zumindest teilweise besetzt. Am Stand daneben, wo Nüsse verkauft wurden, war auch einiges los. Sie setzten sich zu einem alten Mann, der mit einem Brötchen Tauben fütterte. Seine Hände zitterten leicht. Er achtete nicht auf sie, als sie ihm kurz zunickte. Sein Blick war fest auf die Vögel geheftet.
Babett saß zwischen den beiden Männern, ganz nah an Rainers Seite. Sie spürte seine Wärme und dachte kurz darüber nach wie lange es her war, dass sie so dicht an der Seite eines Mannes gesessen hatte. Dann wischte sie den Gedanken wieder fort. Sie schielte zu dem alten Mann neben sich und bemerkte, dass er immer wieder einen schnellen und unruhigen Blick über den kleinen Platz wandern lies. Ihr wurde ein wenig unbehaglich zu Mute und sie rückte näher an Rainer heran.
„Sollen wir Platz tauschen?“ Ganz leise hörte sie Rainers Stimme an ihrem Ohr.
Sie hob den Kopf, um ihn in die Augen zu sehen, in diese klaren eisblauen Augen, und schüttelte lächelnd den Kopf.
Auf der anderen Seite, vor einer Häuserwand stand ein Feuerspucker. Es schien als wollte er das Dämmerlicht für sein Geschäft ausnutzen. Babett war froh, dass sie weit von ihm entfernt saß, als er seine brennenden Keulen in schwindelnde Höhen warf. Ein junges Paar kam vorbei. Der Kerl bremste seinen Schritt, um dem Feuerspucker zuzusehen. Aber das Mädchen lief einfach weiter. Er hielt sie nicht in seinem Arm. Stattdessen hatte er eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Babett runzelte die Stirn. Das Mädchen musste schöne Haare haben. Unter ihrer grünen Mütze quollen dicke, lockige Strähnen hervor. Ihr Begleiter beeilte sich wieder mit ihr Schritt zu halten, als der Abstand zwischen ihnen so groß wurde, dass er ihre Schulter hätte loslassen müssen. Er sagte etwas zu ihr, sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen und ging mit hängenden Schultern weiter. Hatten sie gestritten? Babett sah ihnen nach, bis sie in der Menschenmenge wieder verschwunden waren und seufzte.
Langsam wurde ihr kalt. Aber sie wollte diesen Moment so lange wie möglich auskosten. So lange wie möglich mit diesem eigentlich fremden, jungen Mann auf der Bank sitzen und das Treiben auf dem Platz beobachten. Ihre eine Hand hielt immer noch den Schal. Leicht lehnte sie den Kopf zu ihm hinüber.
„Danke“ Es war nur ein leises Murmeln, dass aus ihrer tiefsten Seele kam. Eigenartig, wie die wichtigsten Worte manchmal so leise ausgesprochen wurden, dass sie leicht überhört werden konnten.
Rainer antwortete nicht, aber in ihrem Augenwinkel sah sie wie er lächelte während er ganz kurz zu ihr sah und ihren Arm drückte.
Lächelnd schloss sie ihre Augen.
`Das wäre ein schöner Moment, um zu sterben...`, schoss es ihr durch den Kopf.
Aber sie starb nicht. Ihr Herz schlug im regelmäßigen Takt weiter, während sie immer noch lächelnd ihre Augen noch einen Moment geschlossen hielt, um die Wärme besser spüren zu können.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Im Esprit-Laden II


Constantin stand da und trat von einem Bein auf das andere. Seine Kollegin hatte ihn in den vorderen Bereich des Ladens geschickt, um suchende Kundinnen anzusprechen. Im Moment waren drei Kunden vorne. Alle hatte er gefragt, aber niemand wollte seine Hilfe. Er fing an die Pullover an dem Kleiderständer vor ihm zu sortieren. Nach Farbe. Immer wieder streifte sein Blick den Eingang. Im Ladenradio erklang ein neues Lied. Supergirl.
`Das hat auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel`, schoss es ihm durch den Kopf. Er summte trotzdem mit. Ganz leise, um die Kunden nicht zu stören. Das Geräusch der sich öffnenden Schiebetür riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah einen Mann, so um die Dreißig, mit einer alten Frau am Arm durch die Tür schlendern. Die Frau ging zögernd und sah sich mit weit geöffneten Augen um. Constantin legte seinen Kopf schief. Er fand sie zu alt für diesen Laden, der junge Mode für moderne Menschen verkauft.

`An ihrer Stelle wäre ich auch unsicher. Was will er bloß mit ihr hier? Könnten doch zum Kaufhaus gegenüber gehen.` Constantin seufzte. Er war unentschlossen, ob er die Beiden ansprechen sollte. Er entschied sich noch einen Moment zu warten und hoffte insgeheim, dass sie irgendwas tief im Inneren des Ladens suchen würden. Schuhe vielleicht, die waren einen Stock tiefer. Dann müsste er sich nicht um dieses seltsame Paar bemühen. Um die Frau, die doch viel zu alt war. Vielleicht suchten sie ja etwas für ihre Enkelin oder so. Der Mann lächelte ihr zu und zog sie weiter in den Laden.
„Mal sehen, Babett, wo sie hier Schals haben...“ Er sah sich um.
Constantin seufzte. Mist! Schals waren im Winter natürlich vorne, damit potentielle frierende Kunden sie eventuell im Vorbeigehen von der Straße aus sehen konnten. Er näherte sich den beiden von der Seite und räusperte sich.
„Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Klar!“, der Mann drehte sich mit einer schwungvollen Bewegung zu ihm und lächelte ihn mit geöffnetem Mund an. „Wir suchen einen Schal“, mit einem noch breiteren Lächeln in Richtung der alten Frau, „für meine reizende Begleitung hier!“
Die Frau lachte auf, schüttelte den Kopf und tätschelte mit ihrer freien Hand seinen Arm.
„Nicht doch, Rainer, jetzt übertreiben Sie aber!“
„Aber nein, keinesfalls! Babett, es ist mir eine Ehre Sie bei dieser wichtigen Aufgabe begleiten zu können!“ Mit gespielter Entrüstung wandte er sich ihr zu und zog seine Schultern nach oben.
Constantin zog für einen kurzen Moment seine Augenbrauen zusammen. Wie waren die Beiden denn drauf? Waren die betrunken? Warum siezten sie sich eigentlich? Wollten die ihn verarschen? Als der Mann sich wieder ihm zu wandte entspannte er schnell sein Gesicht zu einem leichten Lächeln.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen – gleich hier vorne haben wir eine Auswahl an ansprechenden Schals.“
Er drehte sich auf den Zehenspitzen und ging mit zielstrebigen Schritten zu einem Ständer gleich neben dem Eingang. Er spürte wie die Beiden ihm folgten und der Mann weiter ganz angeregt Komplimente an die alte Frau richtete, was sie mit einem Kichern quittierte. Constantin verdrehte kurz die Augen, bevor er sich ihnen wieder zu wandte.
„Sehen Sie hier die verschiedenen Modelle. Ganz Bunte, Ein- oder Zweifarbige, hier ein paar aus feinster Synthetik und da an diesem Ständer sind unsere Wollschals. Wonach suchen Sie denn?“ Fragend zog er seine Augenbrauen hoch.
Die beiden tauschten einen kurzen Blick. Sie zog langsam ihre Schultern hoch und machte ein unsicheres Gesicht.
„Tja, ich weiß auch nicht so genau … Was meinen Sie, Rainer?“
„Hmm, also wir suchen etwas Frisches, nichts Altbackenes, was Modernes halt!“
„Die Modelle hier sind alle der neueste Trend. Wir haben sie frisch zur Saison ganz neu bekommen. Sie glauben gar nicht, wie sehr die nachgefragt werden. Das Modell hier zum Beispiel“, Constantin wies auf einen grauen Synthetikschal mit blauen und grünen Wellen, „also das hier ist unser absoluter Renner!“
Er hielt der alten Frau den Schal hin. Sie griff danach und drehte ihn unentschlossen in der Hand.
„Ich weiß nicht recht. Was meinen Sie?“ Sie schaute zu dem Mann, der ihr zuzwinkerte.
„Probieren Sie ihn doch einfach mal an!“
Achselzuckend begann sie langsam ihren alten Schal von ihrem Hals zu lösen und drückte ihn dem Mann in die Hände bevor sie sich den Neuen umlegte.
„Was meinen Sie?“
„Wunderbar!“ Constantin versuchte ein einnehmendes Lächeln. Es erstarrte ihn auf den Lippen, als er den Mann brummeln hörte.
„Hmm“
Die Frau sah mit großen Augen in den Spiegel und legte den Schal mit spitzen Lippen wieder beiseite.
„Der sieht ja furchtbar aus. Ich bin doch keine Vogelscheuche!“
Beide begannen zu kichern. Constantin kam sich dumm vor. Mit eingefrorenem Lächeln hielt er ihnen das nächste Modell hin. Solche Ignoranten, waren alles die modernsten Schals mit ganz neuem Design. Aber bitte, er wäre nicht auf die Idee gekommen dieser faltigen, alten Frau diese Dinger umzuhängen!
So erging es ihm nun Modell für Modell. Doch er hatte gelernt. Bevor er etwas sagte lugte er kurz in das Gesicht des Mannes und verstärkte dessen Meinung. Er schnaubte leise. Sein Blick ging über die Schultern der Beiden und er sah seine Kolleginnen an der Kasse kichernd zu ihm hindeuten. Blöde Kühe! Sollten die mal versuchen diesem dummen Paar einen Schal zu verkaufen! Er streifte die Hände des Mannes. Zufällig, nur ganz kurz. Dabei kam ihm der alte Schal der Frau wieder in den Sinn. Mit einem schnellen Blick prüfte er das Modell. Strick. Zopfmuster. Hellbraun. Er sah zu der Frau hin, die gerade mit einem weiteren Modell beschäftigt war, dass bei Beiden erneut in Ungnade fiel. Hellbraun wie ihr Mantel. Sie kicherten. Wie albern! Egal, mit zusammengekniffenem Mund sah er erneut zu den Ständern. Lächelnd griff er nach einem neuen Schal und hielt ihn der Frau hin. Strick. Zopfmuster. Dunkelbraun. Sie wollte schon danach greifen, hielt aber in der Bewegung inne, sah zu ihrem Begleiter, zum Schal, zu Constantin und wieder zu ihrem Begleiter.
„Ja, aber...“
„Das ist der allerletzte Schrei!“, ereiferte Constantin sich.
„Aber der sieht ja fast aus wie mein alter ...“, die Worte kamen zögernd, leise über ihre Lippen.
„Tatsächlich?“, mit gespieltem Erstaunen sah Constantin zu dem alten Schal, „Das ist ja unglaublich! Da sind Sie ja sozusagen ein Trendsetter!“
„Wie meinen Sie das?“
„Naja, also diesen Schal verkaufen wir so gut. Ich habe ihn heute bestimmt schon dreimal verkauft. Die meisten Kundinnen reißen sich um die gestrickte Ware, sie glauben es ja gar nicht!“
Sie sah wieder zu dem Mann. Wieder ein aufmunterndes Augenzwinkern.
„Probieren Sie ihn doch einmal an, Babett, dann werden wir schon sehen!“
Langsam umfasste ihre Hand den Schal. Constantin hielt die Luft an und beobachtete mit angespanntem Gesicht jede Regung des Mannes.
„Steht ihnen super gut, Babett!“
Constantin atmete wieder aus, lächelnd.
„Der Herr hat Recht, ein optischer Blickfang geradezu!“
„Das ist jetzt wirklich wieder modern?“ Sie war noch nicht überzeugt.
„Wenn ich es Ihnen doch sage! Und das Dunkelbraun passt so gut zu ihrem hellen Mantel!“
Es ging noch ein wenig hin und her, aber schließlich war das Ding gekauft. Auf dem Weg zur Kasse atmete Constantin tief ein und hörbar wieder aus. Geschafft! Endlich.
Das übliche Getue wegen dem Bezahlen und natürlich bezahlte am Ende schließlich der Mann. Als die Frau ihm ihren alten Schal über den Tresen schob stutzte er kurz bevor er das Ding achselzuckend annahm. Was machte das schon, kommt am Abend eben in den großen Müllcontainer.
Mit schwungvollen Schritten und immer wieder kichernd verließ das ungleiche Paar den Laden. Constantin bedachte sie mit einem langen Blick, als seine Kollegin ihn in die Rippen stupste.
„So, so, der letzte Schrei. Heute schon dreimal verkauft...“
Mit einem breiten Grinsen hob er die Schultern.
„Naja, ich wollte vor morgen früh fertig werden. Was hättest Du denen denn erzählt?“

Montag, 19. Januar 2009

Im Esprit-Laden I


Rainer verließ mit schnellen Schritten das Café. Eine kalte Brise blies ihm entgegen. Hörbar atmete er aus. Warum musste Constanze nur immer so anstrengend sein? Er strich sich über das Gesicht, wie um die Gedanken an das Gespräch fortzuwischen. Dann sah er sich um. Er wandte seinen Kopf nach links und rechts, kniff seine Augen zusammen und runzelte die Stirn. Mit einem Mal hellte sein Gesicht sich auf, er hatte gefunden, was er suchte. Oder vielmehr: Wen er suchte. Seine Schritte beschleunigten sich, bis er nur noch wenige Meter hinter einer alten Frau herlief. Da drosselte er plötzlich sein Tempo. Was tat er hier eigentlich? Wieso lief er hinter dieser alten Dame her? Er kannte sie doch überhaupt nicht! Schnaubend sah er sich mit schnellen Blicken um. Doch dann wurde sein Blick von dem Rücken der alten Frau wieder eingefangen. Der langsam im Takt ihrer gemächlichen Schritten von hinten nach vorne wippte. Er hörte das „Klack-Klack“-Geräusch ihres Gehstocks, den sie mit festem Griff umschlossen hielt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Später konnte er nicht erklären warum er die alte Frau angesprochen hatte, es war nicht seine Art wildfremde Menschen auf der Straße anzusprechen. Aber in diesem Moment, kurz nach 16:00 Uhr mitten in der Fußgängerzone fühlte es sich einfach richtig an. Mit einer schnellen Bewegung drängte er neben sie und räusperte sich.

„Guten Tag“. Es war nicht besonders originell, aber wie sonst sollte er eine fremde Frau ansprechen? Abgesehen davon, dass die Frauen, die er normalerweise ansprach, mindestens 50 Jahre jünger waren. Bei diesem Gedanken musste er breit Grinsen. Nur kurz, aber lang genug dass die alte Dame es wohl gesehen hatte. Sofort machte er wieder ein ernstes Gesicht. Die Frau war stehen geblieben, richtete sich auf, ihr Blick stieg langsam aus ihrem Inneren auf und sie begann ihn von oben bis unten zu mustern. Er versuchte ihrem Blick stand zuhalten, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Immer wieder wichen seine Augen ihr aus, während er mit seinem Schlüsselbund in der Jackentasche spielte. Er räusperte sich.
„Ich habe sie vorhin im Café sitzen sehen. Ich saß direkt an einem der Nachbartische. Wahrscheinlich haben sie mich überhaupt nicht bemerkt … wobei … meine Begleitung schon ziemlich laut war.“
Plötzlich lächelte die alte Dame und wackelte mit ihrem Kopf.
„Ja, ja, ich erinnere mich. Ihre Begleitung ist sehr temperamentvoll!“.
Sie ging schon wieder weiter und Rainer schlenderte neben ihr her.
„Ahm“
Es schien sie nicht zu stören, dass er neben ihr herlief und nach einer Weile brach sie wieder das Schweigen:
„Wo haben Sie sie denn gelassen?“
„Äh, wen?“ Rainer blieb kurz stehen und sah sie von der Seite an.
„Na, diese temperamentvolle junge Dame?“
„Achso, ja also, naja, wir hatten uns nur auf einen kurzen Kaffee verabredet. Nachdem wir alles geplant und organisiert haben ist jeder wieder seiner Wege gegangen.“
Wieso kam er sich auf einmal so dumm vor? Er dachte wieder an die heftige Diskussion mit Constanze und seufzte. Die Frau nickte zustimmend.
„Organisieren kann sie gut, oder?“
„Oh ja“, jetzt lächelte er, „sehr gut sogar. Ich würde fast sagen zu gut, wenn Sie mich fragen. Aber egal. Wenigstens eine in der Familie, die nie den Überblick verliert...“
„In der Familie?“
„Ja, sie ist meine Schwester.“, ein wenig affektiert fuhr er fort, „meine große Schwester! Zu dumm nur, dass sie nie bemerkt hat, dass auch ihr kleiner Bruder eines Tages erwachsen wurde.“
Die Frau lächelte und wackelte wieder wie zustimmend mit ihrem Kopf. Rainer fragte sich gerade warum er das jetzt eigentlich erzählte, als ganz beiläufig die nächste Frage kam:
„Kennen Sie Linda?“
„Wen?“ Er blieb einen Augenblick stehen und zog seine Stirn in Falten.
„Na das junge Mädchen, die mit mir im Kaffee saß. Meine Enkelin im übrigen.“
„Achso“ Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Nein, das heißt sie kam mir irgendwie bekannt vor, aber mir fällt nicht ein woher.“
Mit einem schiefen Lächeln fügte er hinzu:
„Wobei, Mädchen würde ich sie nicht mehr nennen.“
„Ach, Papperlapapp!“ Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie seinen Einwand fort. Dann blieb sie stehen und sah ihn mit einem durchdringenden Blick an.
„Warum sind Sie mir eigentlich nach gelaufen?“
Rainer machte ein unschlüssiges Gesicht, zog die Achseln hoch und rollte ein wenig mit seinen Augen.
„Ich weiß es nicht. In dem Moment als ihre Enkelin das Café so schnell verlassen hat sahen Sie irgendwie so einsam aus. Wie sie da so langsam aufgestanden sind und bezahlt haben, naja, sie haben mir irgendwie...“, er brach ab.
„Leid getan?“ Ihre Augen blitzten einen Moment auf. Rainer seufzte und nickte.
„Ja, ich schätze das ist das Wort, wonach ich eben suchte...“
Die alte Frau zuckte mit ihren Achseln und ging wieder weiter. Rainer folgte ihr. Plötzlich blieb sie erneut stehen.
„Sagen Sie, haben Sie noch ein wenig Zeit?“
„Naja, eigentlich muss ich noch ein paar Weihnachtsgeschenke einkaufen. Habe mir extra dafür frei genommen, aber“, er seufzte und zuckte erneut mit seinen Achseln, „ich habs für heute sowieso schon aufgegeben. Wieso, was haben Sie vor?“
Sie lächelte.
„Ich brauche dringend einen neuen Schal, der alte hier ist, naja, sagen wir mal ein wenig aus der Mode gekommen...“, sie wies mit einem Kopfnicken auf den Schal, der um ihren Hals gebunden war. Soweit Rainer das beurteilen konnte schien er selbst gestrickt zu sein. Hellbraun mit Zopfmuster und Fransen an beiden Enden. Eigentlich sah er gar nicht so schlecht aus, aber bei genauerem Hinsehen konnte Rainer ein paar Löcher erkennen. Der Schal hatte wohl schon bessere Tage gesehen.
„Hmm, kein Problem – darf ich?“, mit diesen Worten bot er ihr seinen Arm an und sie hackte sich mit einem Lächeln bei ihm unter.
„Wie wäre es mit dem Esprit-Laden da vorne?“
Sie zog ihre Stirn in Falten.
„Ist der Laden nicht eher was für junge Leute?“
„Natürlich, aber wie wollen Sie einen Schal kaufen, der in Mode ist, wenn Sie in ein Null-Acht-Fünfzehn Kaufhaus gehen?“ Er lächelte sie an. Sie überlegte einen Moment bevor sie sein Lächeln erwiderte.
Am Eingang hielt sie ihn zurück.
„Ich bin Babett, nur falls uns eine dieser Verkäuferinnen ansprechen sollte.“
„Angenehm, Rainer.“ Feierlich reichte er ihr seine Hand. Sie nahm sie, schüttelte sie fest, grinste und zwinkerte ihm zu.
Nachdem sie eine Weile durch den Laden spaziert waren und über die anderen Käufer sprachen, die meisten waren weiblich und jung, kam nicht eine Verkäuferin auf sie zu, sondern ein junger Verkäufer. Er sah sehr fein, beinahe ein wenig zerbrechlich aus. Es wirkte so als würde er noch nicht lange in dem Geschäft arbeiten, wahrscheinlich fand er die Beiden auch ein wenig sonderbar, aber er gab sich die größte Mühe sie zu bedienen. Sie genossen es und stellten ihm die unmöglichsten Fragen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle, ihre modische Bedeutung und und und. Babett schien richtigen Spaß zu haben. Immer wieder zwinkerte sie Rainer zu, während sie mit einem breiten Lächeln den Verkäufer löcherte. Rainer beobachtete wie wach das alte Gesicht plötzlich war und wie sehr es leuchtete. Sein Herz schlug ein wenig heftiger als sonst, er lächelte wie ein Honigkuchenpferd und fand, dass dies der schönste Vorweihnachtsnachmittag war, den er je erlebt hatte. Vielleicht abgesehen von ein paar wenigen in seiner Kindheit, an die er sich noch gerne zurück erinnerte.
Erstaunt stellte sie fest, dass gestrickte Schals mit Zopfmuster gerade wieder in Mode gekommen waren. Nach langem hin und her entschied sie sich für einen dunkelbraunen Schal, der ein optischer Blickfang war, wie der Verkäufer betonte, und ihr äußerst gut stand, wie ihr Rainer versicherte. Der Verkäufer schien erleichtert, als die Wahl endlich getroffen war und komplementierte sie zur Kasse. Dort gab es eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung zwischen Rainer und ihr in Bezug darauf wer das gute Stück mit dem ausgefallenen Zopfmuster denn nun bezahlen würde. Der Verkäufer sah mit großen, hilflos wirkenden Augen von einem zum anderen und atmete erleichtert aus, als Rainer den Streit gewann und ihm seine Bankkarte über den Tresen schob. Feierlich drückte Babett dem jungen Kerl ihren alten Schal in die Hand. Der stand ein wenig bedröpelt da und folgte ihnen mit einem langen Blick, während sie lachend den Laden verließen. Im Raus gehen sah Rainer, wie die Kollegin ihm etwas ins Ohr raunte, woraufhin der junge Kerl mit den Achseln zuckte und den alten Schal unter dem Tresen verschwinden lies.

Donnerstag, 15. Januar 2009

Im Café II


Linda atmete hörbar ein und hakte ihre Oma fest unter. Es war glitschig auf dem Kopfsteinpflaster. Sie mussten vorsichtig sein, denn die alte Frau hatte längst nicht mehr so viel Standhaftigkeit. Sie schüttelte leicht ihren Kopf. Mit den Jahren wurde ihre Oma immer wunderlicher. Wieso kam sie denn auf die Idee jetzt mit dem Kehren des Gehsteiges anzufangen? Hatten sie nicht vereinbart, dass sie heute ihre Oma zum Kaffeetrinken abholen würde? Linda seufzte. Ihre Eltern hatten schon recht, die Oma wurde zunehmend vergesslicher. Sie kam auch immer öfter mit den Uhrzeiten durcheinander, es kam sogar vor, dass sie die Wochentage verwechselte. Tiefe Falten gruben sich auf Lindas Stirn ein. Verstohlen sah sie zu der alten Dame an ihrer Seite. Diese atmete schwer, der kleine Berg die Gasse hinauf schien ihr zu schaffen zu machen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Linda schmunzelte, als sie bemerkte wie der Kopf ihrer Oma mit deren bedächtigen Schritten im Takt wippte. Unwillkürlich strich sie ihr leicht mit ihrer Hand über den Arm, als die Oma sich ein wenig enger an sie schmiegte. Was, wenn die alte Frau eines Tages vergessen würde ihre Herdplatte auszuschalten? Vielleicht stimmte es ja was ihre Eltern sagten und das Beste wäre Oma in ein Heim zu bringen. Heftig atmete Linda aus, dieser Gedanke war wie ein Schlag in die Magengegend.

Als sie endlich in die Wärme des alten Cafés traten ging Lindas Atem wieder ruhiger, während ihre Oma Mühe hatte Luft zu bekommen. Sie nickte den Verkäuferinnen hinter der Ladentheke kurz zu, als sie den zielstrebigen Schritten ihrer Oma in Richtung des Wintergartens folgte. Schon als Kind war sie oft mit ihr hier gewesen. Oma hatte sich dann meist mit irgendwelchen alten Freundinnen getroffen, während Linda mit ihrer heißen oder Eisschokolade heimlich kleine Tropfen auf die Tischdecke fallen lies und dabei zusah, wie sie sich zu lustigen Bildern verformten. Eine richtige Meisterin im Schokoladenflecken-Lesen war sie gewesen! Wie lebendig ihre Oma damals war - ganz anders als heute. Linda seufzte und sah der alten Dame in das faltige Gesicht. Schön sah sie aus, still, friedlich, wie sie gedankenverloren in den gefrorenen Garten sah.
„Was darfs denn heute sein?“ Die Bedienung, eine Frau um die vierzig, mit leicht auftoupierten halblangen, braunen Haaren, lächelte Linda freundlich zu. Linda überlegte einen Augenblick. Diese Dame bediente bestimmt schon seit 8 Jahren hier und obwohl sie nie ein privates Wort gewechselt hatten fühlte Linda sich sehr vertraut mit ihr. Schmunzelnd stellte sie fest, dass die Schokoladenflecken zum Glück vor der Zeit dieser Bedienung gewesen waren. Zögernd lächelte sie zurück und bestellte eine Tasse heiße Schokolade für ihre Oma und einen Milchkaffee für sich selbst, eigentlich wie immer. Seltsam, früher war es genau umgekehrt gewesen. Mit gerunzelter Stirn sah sie erneut zur anderen Seite des Tisches, wo die alte Frau immer noch völlig gedankenverloren den Garten betrachtete. Wie wäre es, wenn sie die Getränke einfach tauschen würden? Linda seufzte. Sie hätte sofort getauscht, wenn dafür ihre alte Oma wieder da gewesen wäre. Wie viele von den Freundinnen waren eigentlich noch am Leben? Sie stützte ihren Kopf mit der Hand auf und lies ihren Blick durch das Lokal schweifen. Drei? Zwei? Eine? Vielleicht keine mehr? Sie wusste es nicht, aber sie erinnerte sich dunkel dass Oma hin und wieder von einer Beerdigung erzählt hatte mit einem Namen, der ihr etwas hätte sagen sollen, was er aber selten tat. Das hatte Oma immer empört, schließlich war Linda mit praktisch jeder dieser Frauen bereits des öfteren im Café gesessen. Sie atmete langsam ein, ganz langsam, bevor sie im selben Tempo die Luft wieder ausatmete. Es gab ihr ein wenig Halt auf diese Weise ihren Körper wieder zu spüren. Wie es wohl sein mochte, wenn man praktisch alle seine Freunde überlebte? Jetzt sah sie ihrer Oma wieder direkt ins Gesicht. Fast wäre sie aufgestanden, um sie ganz fest zu drücken und ihr zu sagen, dass sie ganz sicher nicht allein war und ganz bestimmt so schnell nicht ins Heim müsse. Aber in diesem Moment kamen ihre Getränke. Die Bedienung berührte ihre Oma mit der Tasse am Arm. Linda zog ihre Augenbrauen hoch. War das Absicht gewesen? Als die alte Dame aufschreckte, wie jemand den man aus einem lange Schlaf geweckt hatte, legte sie ihr sanft ihre Hand auf den Arm und zwinkerte ihr zu:
„Es ist alles in Ordnung, Oma.“
Diese nickte schnell und murmelte immer noch ein wenig abwesend:
„Ja, ich weiß. Es ist nur – ich habe gar nicht bemerkt, dass Du schon bestellt hast...“
Sie lächelte ihrer Oma zu. Aufmunternd, wie sie hoffte. Wollte der Alten nicht zeigen, dass sie diese kurze Situation wieder an deren Verwirrtheit erinnerte und das Altenheim in ihren Gedanken erneut drohend aufleuchten lies. Zum zweiten Mal heute. Als hätte ihre Oma ihre Gedanken gelesen schnaubte sie hörbar. Linda sah fragend über den Tisch und wollte ihrem Gegenüber etwas antworten, als sie eine etwas schrille Stimme am Nachbartisch ablenkte.
Eine Frau, Anfang oder Mitte dreißig, sprach beschwörend auf ihren Begleiter ein. Als Linda sah wer dieser Frau gegenüber saß stockte ihr der Atem. War das nicht der Typ, der vorhin im Bäckerladen bei ihr eingekauft hatte? Der, der mit so einem seltsamen Betrag bezahlt und sie dann so süffisant angelächelt hatte? Ihr Gesicht versteinerte, während sie sich unwillkürlich gerade aufrichtete. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen und ihre Augen formten sich zu Schlitzen. Sie hatte wohl etwas zu lange an den anderen Tisch gestarrt, denn der Typ drehte plötzlich den Kopf. Mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte er ihren Blick und schien zu überlegen woher er sie wohl kennen könnte. Linda spürte wie ihr Herz schneller schlug, als er ihr direkt in die Augen sah. Als sie spürte wie ihre Wangen heiß wurden senkte sie schnell ihren Kopf.
„Kennst Du den jungen Mann?“ Omas Stimme lies Linda zusammen zucken.
Jetzt war sie es, die etwas verwirrt war.
„Welchen jungen Mann?“ Linda versuchte Zeit zu gewinnen und sah ihre Oma an, ohne sie jedoch wirklich wahr zu nehmen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
„Hmm, ich rede von dem jungen Mann am Nachbartisch, den Du eben noch angesehen hast.“
„Ach der...“ Lindas Wangen glühten noch ein wenig mehr, als sie darüber nachdachte wie sie ihrer Oma von der peinlichen Situation im Bäckerladen erzählen würde. Schnell fuhr sie fort:
„Nein, ich denke nicht.“
„Aber er gefällt Dir?“
Linda sah ihre Oma nicht direkt an, sie war zu abgelenkt von ihrem eignem Gefühlskarussel, das in ihr wirbelte. Eine Mischung aus Scham, Wut und Angst, begleitet von dem heftigen Schlag ihres eigenen Herzens. So hörte sie weder den verschwörerischen Ton in der Stimme der anderen Frau, noch sah sie wie deren Augen plötzlich aufblitzten und die alte Dame für einige Augenblicke um Jahre jünger aussah. Wäre Linda nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dann hätte sie innerlich Luftsprünge gemacht ihre „alte“ Oma wieder zu haben. Mit Freude hätte sie sich mit Oma über diesen seltsamen Typen ausgetauscht.
So aber bekam sie plötzlich ein schlechtes Gewissen. Wenn sie schon mit ihrer Oma Kaffeetrinken ging, dann sollte sie sich nicht von anderen Dingen ablenken lassen. Mit ehrlichem Interesse antwortete sie:
„Wie geht es eigentlich Deiner Hüfte?“
Das Thema schien die gebrechliche, alte Frau zu bedrücken. Linda konnte förmlich beobachten, wie die alte Dame in sich zusammen sackte. Bestimmt hatte sie Schmerzen. Sanft strich sie ihr übers Gesicht und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Zufällig streifte ihr Blick ihre Armbanduhr und ihr Atem stockte einen Moment.
„Oh, Oma! Mein Gott es ist ja schon fast vier! Ich muss um vier wieder im Laden sein!“ Schnell stand sie auf. Es tat ihr Leid, dass sie das Kaffeetrinken so abrupt abbrechen musste. Als sie Omas Blick spürte drückte sie sie noch mal ganz fest.
„Es tut mir leid Oma, aber ich kann Dich heute nicht mehr nach Hause begleiten.“
Ihre Oma griff ihre Hand und drückte sie fest: „Ist schon in Ordnung, ich kenne den Weg ja. Beeile Dich, dass Du nicht zu spät kommst, ich zahle.“
„Danke Oma“, Linda lächelte, „Ich ruf Dich an, ja?“
Sie zwinkerte der alten Frau zu, bevor sie mit schnellen Schritten durch den Laden eilte. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und winkte ihr zu. Fast hätte sie ihr eine Kusshand zugeworfen, aber dann fiel ihr der Typ wieder ein und sie lies es bleiben.
„Ich hab Dich lieb, Oma“, murmelte sie bevor sie den Laden verließ.
Kaum auf der Straße angelangt, begann sie zu rennen.

Montag, 12. Januar 2009

Im Café I


„Oma, ich hab Dir doch gesagt, dass ich Dich heute Nachmittag in meiner Mittagspause abhole! Warum fängst Du denn da an die Straße zu kehren? Du weißt doch, dass Hannes das später noch machen kann!“
Die alte Frau hatte sich bei ihrer Enkelin eingehakt und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, während sie sich die Gasse hoch in die Hauptstrasse bewegten.
„Ja, ja, der Hannes...“, murmelte sie heiser.
„Was ist mit ihm?“, Linda hob ihren Blick von den Pflastersteinen und sah ihre Oma an. Aber die alte Frau wippte nur leicht mit ihrem Kopf auf und ab. Ein Lächeln lag auf ihren runzligen Lippen. Statt einer Antwort tätschelte sie mit ihrer freien Hand Lindas Arm, ihre Augen blieben nach vorn gerichtet. Linda seufzte und konzentrierte sich wieder auf den Weg.
Babett sog durch ihre Nase den Duft ihrer Enkelin ein. Er war so angenehm, anders als dieser muffige, altersfleckige Geruch, der sie selbst seit vielen Jahren begleitete. Sie seufzte und klammerte sich noch ein wenig fester an den Arm der jungen Frau, als sie daran dachte dass diese ein, manchmal auch zweimal, in der Woche bei ihr vorbei kam, um in der Mittagspause eine Tasse heiße Schokolade zu trinken. Das heißt Babett trank die Schokolade, während Linda meist einen Milchkaffee zu sich nahm. Babett würde es nie zugeben, aber sie kam immer ein wenig durcheinander wann ihre Enkelin sich bei ihr angemeldet hatte und wann nicht. Verwirrend war außerdem, dass sie in diesem Bäckerladen, in dem sie arbeitete, immer wieder unterschiedliche Pausenzeiten hatte. Manchmal verspätete sie sich um eine ganze Stunde, als sie es zuvor mit Babett vereinbart hatte. Oder irrte Babett sich hier? Bei diesem Gedanken seufzte sie kopfschüttelnd.
„Was ist, Oma?“

„Ach nichts, mein Kindchen, nichts als das Alter.“, ihre Augen blitzten kurz auf und sie hob ihren Kopf, um ihre Enkelin anzusehen. Diese lächelte ihr zu. Seufzend drückte sie sich noch ein wenig mehr an Linda.
„Nicht so feste, Oma“, sanft lockerte Linda den untergehakten Arm.
Mit schweren Schritten ging Babett an der Seite ihrer Enkelin durch die Schiebetür in das Innere der Konditorei. Schlurfend durchquerte sie den Ladenbereich und suchte sich einen Weg in den hinteren Teil des Cafés. Babett saß am Liebsten in dem überdachten Wintergarten mit Blick auf den Garten. Im Sommer waren die Türen geöffnet und man konnte die Vögel beobachten, wie sie sich in einem kleinen Brunnen badeten. Jetzt im Winter waren natürlich alle Fenster geschlossen. Als sie sich an einen der Tische direkt am Fenster gesetzt hatten schaute Babett lange nach draußen. Ihr entfuhr ein Seufzer, als sie die vom Laub befreiten Bäume und die Stille in dem kleinen Garten in sich aufnahm. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie selbst in endgültiger Stille tief in der Erde vergraben liegen würde?
Sie zuckte zusammen, als die Bedienung sie leicht an der Hand streifte während sie die Tasse mit Schokolade vor ihr abstellte. Beinahe hätte sie die Tasse umgestoßen. Beruhigend legte Linda ihr die Hand auf dem Arm:
„Es ist alles in Ordnung, Oma.“
Sie nickte, immer noch ein wenig abwesend und murmelte:
„Ja, ich weiß. Es ist nur – ich habe gar nicht bemerkt, dass Du schon bestellt hast...“
Linda lächelte ihr zu, mit so einem typischen Lächeln, dass man alten Leuten schenkt, die nicht mehr ganz klar im Kopf sind. Babett schnaubte. Aber Linda war mit ihrer Aufmerksamkeit schon wieder wo anders. Mit gerunzelter Stirn starrte sie zu einem der Nachbartische. Babett folgte langsam ihrem Blick. Dort saß ein Pärchen, beide noch relativ jung, obwohl doch schon ein wenig älter als ihre Enkelin. Unwillkürlich musste sie über sich selbst lächeln. Mit ihren 82 Jahren konnte sie mit dem Begriff „Jung“ nicht mehr so viel anfangen. Eigentlich waren alle Menschen unter 60 Jahren jung für sie. Sie runzelte ihre Stirn und versuchte sich mehr Mühe bei der Einschätzung des Alters zu geben. Linda war – jetzt musste Babett kurz nachrechen – 23 Jahre alt. Die Frau am Nebentisch sah gut sechs oder acht Jahre älter aus. Aber so ganz genau konnte das Babett nicht ausmachen, denn ihre Augen waren längst nicht mehr so gut wie früher. Doch die Haltung der Frau war irgendwie gerader als die ihrer Enkelin. Und ihre Bewegungen hatten etwas energisches, wie die einer Person, die gewohnt war über andere zu bestimmen. Der Mann hingegen wirkte erschöpft. Er fummelte die ganze Zeit an der Tischdecke herum. Hob sie an, um sie zwischen seinen Fingern zu verdrehen und strich sie im nächsten Moment wieder glatt. Die beiden waren in ein hitziges Gespräch verwickelt. Das heißt die Frau redete unaufhörlich auf den Mann ein, während er immer wieder nickte oder den Kopf schüttelte, sie ansah und seinen Mund öffnete, aber sie ihm gleich wieder ins Wort fiel.
Sein Blick streifte Linda, die immer noch zu dem Tisch hinüber starrte, und hielt inne. Er zog die Augenbrauen zusammen und legte seinen Kopf schief, während er Linda ins Gesicht schaute. Babett musste lächeln, als ihre Enkelin schnell den Blick abwandte.
„Kennst Du den jungen Mann?“
„Welchen jungen Mann?“, Linda schaute sie mit unschuldigem Gesicht an.
„Hmm, ich rede von dem jungen Mann am Nachbartisch, den Du eben noch angesehen hast.“
„Ach der...“, Linda wurde rot, „Nein, ich denke nicht.“
Babett schmunzelte ein wenig. Ihre Stimme nahm einen verschwörerischen Ton an und sie flüsterte: „Aber er gefällt Dir?“
Linda antwortete ihr nicht, stattdessen fragte sie sie beiläufig:
„Wie geht’s eigentlich Deiner Hüfte?“
Babett fiel ein wenig in sich zusammen. Ihr eben noch so wacher Blick wurde trübe und ein wenig leer. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie langsam ein Muster auf die strahlend weiße Tischdecke.
„Meiner Hüfte geht es bemerkenswert gut, danke der Nachfrage.“, ihre Stimme klang ein wenig bitter. War sie denn tatsächlich schon so alt, dass ihre Enkelin sich nur noch über ihre Gesundheit mit ihr unterhalten konnte? Sie seufzte als sie daran zurück dachte wie die kleine Linda und sie früher gemeinsam in der Fußgängerzone auf Verbrecherjagd gegangen waren und sich über ihre geheimen Gedanken zu den anderen Menschen ausgetauscht hatten. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Oder fünfzehn? Sie holte tief Luft und betrachtete ihre Enkelin. Zu lange, dachte sie still bei sich, als dass die junge Frau mir gegenüber sich daran erinnern könnte.
Plötzlich sah Linda auf die Uhr und stieß einen erstaunten Ruf aus.
„Oh, Oma! Mein Gott es ist ja schon fast vier! Ich muss um vier wieder im Laden sein!“,
Linda schob ihren Stuhl zurück, stand mit einer schnellen Bewegung auf und zog ihre hektisch ihre Jacke an. Sie kam um den Tisch herum und beugte sich zu Babett hinunter, um ihr einen flüchtigen, feuchten Kuss auf die Wange zu geben, „Es tut mir leid Oma, aber ich kann Dich heute nicht mehr nach Hause begleiten.“
Babett griff die Hand ihrer Enkelin und drückte sie fest: „Ist schon in Ordnung, ich kenne den Weg ja. Beeile Dich, dass Du nicht zu spät kommst, ich zahle.“
„Danke Oma“, Linda lächelte, „Ich ruf Dich an, ja?“
Babett nickte und sah ihrer Enkelin nach, die sich kurz vor der Tür noch einmal umdrehte und ihr zuwinkte. Mit zitternder Hand führte sie ihre Tasse zum Mund. Der süße Geschmack vermischte sich mit dem bitteren Geschmack in ihrem Mund. Mit einem großen Schluck suchte sie ihre Enttäuschung hinunter zu spülen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Sie schaute noch einmal zum Nachbartisch. Der junge Mann hatte inzwischen die Hand seiner Begleiterin genommen und drückte sie fest, während er sich weit zu ihr hinüber lehnte und auf sie einredete.
Kopfschüttelnd suchte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel. Als sie ihn gefunden hatte winkte sie der Bedingung und drückte dieser den Geldbeutel in die Hand. Ihre Augen waren längst nicht mehr gut genug, um das ganze Kleingeld zu erkennen, außerdem zitterte ihre Hand meist zu sehr bei rauszählen des Geldes. Normalerweise gab sie Linda ihren Geldbeutel, damit die damit bezahlen konnte. Bei diesem Gedanken sog sie seufzend die Luft ein. Mühsam stand sie auf, die Bedienung half ihr in ihren Mantel. Leicht vorn über gebeugt und mit langsamen Schritten machte sie sich auf den Weg nach draußen. Sie vermisste die warme Stütze an ihrem linken Arm.

Donnerstag, 8. Januar 2009

Im Garten der Mensa II


Lasse schlenderte neben Agnes her. Das Seminar war zu Ende, aber er wollte sie noch nicht alleine lassen. Sie war so deprimiert wegen dem Experiment. Er hatte sie bei diesem Soziologieseminar kennen gelernt. Soziologie war ja eigentlich nicht sein Fach, aber über die unorthodoxen Lehrmethoden dieses Seminars wurde im vergangenen Semester viel gemunkelt, und so hatte seine Neugier schließlich gesiegt. Agnes hatte er vom ersten Augenblick ins Herz geschlossen. Er liebte es, wenn sie mit großen Augen um sich sah und alles in sich aufzusaugen schien. Ihre Angewohnheit sich beim Lächeln leicht auf die Unterlippe zu beißen erinnerte ihn an seine kleine Schwester, die er sehr vermisste. Obwohl er und Agnes eigentlich nichts gemeinsam hatten strahlte sie für Lasse deshalb so etwas wie ein kleines Stück Heimat an einem fremden Ort aus.
Während er neben ihr herlief beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Ihr Gang war schleppend, so als mache es ihr große Mühe sich überhaupt noch auf das Gehen zu konzentrieren. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und ihre sonst so großen Augen waren klein, der Blick nach innen gerichtet. Instinktiv rückte er näher an ihre Seite, bis sie sich beinahe berührten. Er konzentrierte sich auf die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, spürte einen Kloß in seinem Hals. Wusste nicht was er ihr sagen könnte, suchte nach Worten, die ihre Augen wieder glänzen ließen, fand aber keine. Die letzten Seminarteilnehmer überholten sie. Lasse bemerkte wie einige sich im Vorbeigehen zu ihnen umdrehten. Er seufzte und sah nach rechts zu Agnes, konnte aber keine Reaktion erkennen. Sie schien ganz in sich versenkt zu sein, trotzdem hatte Lasse das Gefühl, dass sie seine Nähe spürte. Oder vielleicht hoffte er einfach, dass sie spürte wie er sich bemühte irgendwie für sie da zu sein, sie zu trösten. Auch wenn er nicht begriff was sie eigentlich so bedrückte. Als sie durch die Glastür in den Garten vor der Mensa kamen schlug ihnen ein kalter Wind entgegen. Abrupt blieb Lasse stehen. Er bemerkte wie Agnes ihre Bewegungen kurz verlangsamte.
„Agnes?“, sein Herz klopfte wild als er darauf hoffte, dass sie stehen blieb. Er machte mit der Hand eine Bewegung in ihre Richtung, schien es sich dann anders zu überlegen und lies die Hand wieder fallen. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Stirn glättete sich fast unmerklich und ihre Augen wurden ein wenig größer, als ihr Blick langsam aus ihrem Inneren auftauchte, um ihm in die Augen zu sehen. Während er ihren Blick auffing und festhielt trat er einen Schritt näher, bis er ihr genau gegenüber stand. Er war gut einen Kopf größer, sie musste ihren Kopf ein wenig anheben, um den Blickkontakt aufrecht zu halten.
„Was ist los?“, seine Worte blieben zwischen ihnen hängen. Er bemerkte wie ihre Wimpern unruhig zu zittern begannen. Vorsichtig suchte sich seine Hand nun doch einen Weg zu ihr. Er legte sie sanft auf ihre Schulter und zog, wie um seine Frage zu unterstreichen, seine Augenbrauen hoch.
„Ich hab mich vor Bastian völlig blamiert … er hält mich für bekloppt … es wird nie...“, sie brach ab und senkte den Kopf. Es war mehr ein Hauchen, als ein Sprechen. Dann war es still. Die Stille hing zwischen ihnen, unerträglich. Auch wenn er nicht so genau wusste wer Bastian war, hätte er so gerne etwas gesagt, um sie zu trösten, irgendetwas. Er zog die Stirn in Falten und suchte wieder nach Worten. Aber die Worte wirbelten einfach durch seinen Kopf und ließen sich nicht greifen. Von der Straße her hörte er das Geräusch eines Besens, der über die Pflastersteine strich. Der Besen schien weniger eine Störung als ein Unterstreichen der Stille um sie herum zu sein. Dann erinnerte er sich plötzlich an den Moment an dem seine kleine Schwester entdeckte, dass die wunderschönen Schmetterlinge von den hässlichen Raupen abstammen. Unwillkürlich lächelte er, als er sich an die Überraschung in ihrem Gesicht erinnerte. Er berührte Agnes Kinn und hob es langsam wieder nach oben, während er erneut versuchte ihren Blick aufzufangen.
„Hey, kleiner Schmetterling...“, er lächelte, als sie ihn mit ihren großen Augen ansah. Jetzt waren sie plötzlich da, die Worte: „Nicht schlimm, er wird mit Dir lachen, wenn Du ihm die Bananengeschichte erzählst, da bin ich mir sicher!“
Ein Lächeln huschte ganz flüchtig über ihr Gesicht. Erleichtert atmete er aus. Er hätte nicht sagen können, wie lang er ihr so gegenüber stand und jede Regung ihres Gesichtes beobachtete, während er darüber nachdachte wie er sie weiter aufheitern könnte. Sie standen jetzt so eng beisammen, dass ihre Stirn beinahe seine berührte. Er machte einen kleinen Schritt auf sie zu und wollte sie eben in den Arm nehmen, um sie einfach fest zu drücken. Alle Traurigkeit aus ihr heraus drücken. Da unterbrach das Scheppern einer Blechdose die Stille. Agnes wandte ihren Blick zur Straße hin. Sie spannte jeden Muskel an und ihr Körper wirkte plötzlich wie versteinert. Lasse folgte ihrem Blick. Er sah einen jungen Kerl, wahrscheinlich gut 3 oder 4 Jahre jünger als er selbst. Strähnen seines wuscheligen blonden Haares verdeckten sein Gesicht, so dass man seine Augen nicht erkennen konnte. Er hielt den Kopf gesenkt, den Blick scheinbar fest auf den Boden gerichtet. Er hatte die Hände fest in den Taschen seiner Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen. Lasse kniff die Augen zusammen. Etwas an dem Gang dieses Kerles wirkte sehr aggressiv auf ihn, er konnte nicht sagen was genau es war. Noch ehe er begriff hörte er ein Flüstern neben sich:
„Bastian...“
Agnes Hand suchte seinen Arm. Ihre Finger drückten so fest zu, dass er die Fingernägel durch seine Jacke hindurch spürte. Mit großen Augen folgte sie Bastians Bewegungen. Sie schaute immer noch zur Straße, als der schon längst hinter der Mauer verschwunden war und sie nur noch seine Schritte aus weiter Ferne zu ihnen hinüber hallen hörten. Sanft löste Lasse ihren Griff von seinem Arm und seufzte.

Montag, 5. Januar 2009

Im Garten der Mensa I

Bastian rieb sich den rechten Rippenbogen. Das würde wohl einen blauen Flecken geben. Er starrte ins Leere während er an die beiden kurzen Begebenheiten mit den zwei halbstarken Jugendlichen zurück dachte. Was wollten die eigentlich von Agnes? Er hatte sie fragen wollen, aber bevor er sie wiedererkannte, hatte der eine seinen Kumpel schon am Arm gepackt und weiter gezerrt. Mit langsamen Schritten schlenderte er von den Ständen weg hinunter Richtung Fluss. Er winkte Stefan und den Anderen kurz zum Abschied zu, bevor er sich umdrehte und in Gedanken versunken seinen Weg fortsetze. Agnes Bild tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf. Wie sie da stand und diese beiden Halbstarken anstarrte von denen einer auf eine Banane zwischen ihnen getreten war, die mit einer Paketschnur mit ihrer Hand verbunden war. Was zum Teufel hatte sie denn mit dieser Banane vorgehabt? Bastian zog die Augenbrauen zusammen während andere Bilder von Agnes an ihm vorüber zogen. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er daran dachte wie sie ihm vor zwei oder drei Wochen zum ersten Mal aufgefallen war. Eine Gestalt mit völlig wüster Frisur, die bei der Essensausgabe der Mensa halblaut und gedankenverloren vor sich hinsummte. Erst auf den zweiten Blick hatte er die Ohrenstöpsel bemerkt. Trotzdem, sie schien sich irgendwie für nichts zu schämen. Das hatte ihn beeindruckt. In diesem Augenblick lenkte er seine Schritte an der Mensa in der Stadt vorbei, wo im Sommer regelmäßig zur Fußball-WM oder auch zur EM Public Viewing im Gartenbereich angeboten wurde.
Unwillkürlich verschränkte er seine Arme vor der Brust, um sich besser gegen die Kälte zu schützen, als er an diese lauen sonnigen Sommerabende zurück dachte. Ein paar Studenten kamen aus der Mensa gelaufen. Bastian blieb stehen, sah auf und beobachtete mit ausdrucksloser Miene den kleinen Menschenstrom, der vor ihm auf die Gasse gespült wurde. Ganz am Ende blieben zwei Gestalten in ein Gespräch vertieft stehen. Er wollte eben seinen Blick wieder abwenden und seinen Weg fortsetzen, als die grüne gestrickte Schirmmütze ihn stocken lies. Diese Kopfbedeckung kam ihm sehr bekannt vor. Er schob seinen Kopf ein Stückchen nach vorne und kniff die Augen zusammen. Ein Geräusch von Hinten und eine Berührung an seiner Ferse ließen ihn aufschrecken. Abrupt drehte Bastian sich um und schaute in die verwässerten, hellblauen Augen einer alten Frau, die murmelnd und kopfschüttelnd ihren Blick abwandte und sich ganz dem Kehren des Gehsteigs hingab. Er musterte sie mit einem langen Blick von oben bis unten. Die runzeligen Falten in ihrem Gesicht und an ihren Händen stachen ihm ins Auge. Wie alt sie wohl sein mochte? Ihre Kleidung sah durchaus stilvoll aus, auch wenn sie schon bessere Tage gesehen hatte. Bereits mit seinem schnellen Blick bemerkte er ein paar durchgewetzte Stellen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn aus ihren Augenwinkeln heraus beobachtete. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere, bevor er ein paar Schritte weiter bis zum nächsten Haus ging. Die alte Frau fuhr fort mit langsamen und gleichmäßigen Bewegungen den Gehsteig vor ihrem Haus zu kehren. Bastian wandte seinen Blick wieder ab und sah erneut durch die kleine Grünanlage vor der Mensa zum Eingang hinüber. Die beiden Gestalten standen immer noch dort. Mit zusammengekniffenen Augen konnte er mehr Details ausmachen. Unter der grünen Strickmütze quollen dicke, leicht gelockte, blonde Haare hervor. Als er über der dunklen Jeans an den Beinen zwei grauschwarz geringelte Stulpen ausmachte hatte er keine Zweifel mehr, dass die eine Gestalt Agnes war. Die andere Person hatte Bastian noch nie zuvor gesehen. Es war ein hochgewachsener Kerl mit einem dunklen Kurzhaarschnitt und – soweit Bastian das auf die Entfernung ausmachen konnte – einem Dreitagesbart. Er runzelte seine Stirn, als er sah wie der Kerl mit einer vorsichtigen Bewegung seine Hand auf Agnes Schulter legte und leise auf sie einsprach. Sie hing mit großen Augen an seinen Lippen und senkte schließlich langsam ihren Kopf. Jetzt fasste er mit seiner anderen Hand unter ihr Kinn und schob es nach oben, so dass sie ihm wieder in die Augen sehen musste. Bastian atmete beim Anblick dieses Bildes hörbar aus. Er steckte seine Hände tief in die Taschen seiner Jacke und zog seine Schultern nach oben. Ein kalter Wind blies die Gasse vom Fluss aus hoch und trieb ihm Tränen in die Augen. Die beiden standen nun so nahe voreinander, dass ihre Stirn beinahe seine berührte.
„Oma! Was machst Du denn? Ich hab Dir doch gesagt, dass ich Dich gleich abhole!“, die Stimme einer jungen Frau lies Bastian aufschrecken. Er drehte sich um und sah, wie diese Frau die alte Dame in ihre Arme schloss und, während sie unaufhörlich auf sie einredete, ihr den Besen aus der Hand nahm, sich bei ihr einhakte und mit ihr, nach einer kurzen Diskussion, langsam die Gasse hinauf schlenderte.
Bastian drehte sich wieder zu dem Pärchen um, welches unverändert beim Eingang stand. Auf diese Entfernung konnte er nicht erkennen, ob die beiden miteinander sprachen, oder ob sie sich einfach nur in die Augen sahen. Er rechnete damit, dass sie sich jeden Moment küssen würden. Noch einmal atmete er hörbar aus. Er hatte keine Lust stiller Zeuge dieses intimen Momentes zu werden, eigentlich hatte er eben auch schon mehr als genug gesehen. Schnell wandte er seinen Blick ab und setzte mit raschen Schritten seinen Weg fort. Mit leeren Augen starrte er auf das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen, kein klarer Gedanke blieb in seinem Kopf hängen. Bilder und Wortfetzen spukten ihm durch seine Gedanken, aber es war nichts da, das man hätte greifen oder woran man sich hätte festhalten können. Trotzdem war er ganz in sich versunken, als er unten am Fluss ankam, mit hochgezogenen Schultern und den Händen immer noch tief in seinen Jackentaschen vergraben und inzwischen zu Fäusten geballt.

Donnerstag, 1. Januar 2009

Zwei Seiten

Geschäftiges Treiben und schwitzende Hände auf der einen Seite.
Den Blick immer fest auf die Aufgabe gerichtet.
Kein Blick durch das Gitter hinüber zur anderen Seite.
Beinahe als gäbe es sie gar nicht, als würde die Welt direkt am Zaun dort enden.

Fassungslose Blicke und vor Wut und Verzweiflung geballte Fäuste auf der anderen Seite.
Rufe hallen hinüber, schrill und spitz.
„Mörder!“ „Wortbrecher!“
Aber es ist als könnte kein Laut nach dort drüben dringen.

Das Schnarren der Kettensäge zerschneidet die Stille des Morgengrauens.
Sie ist zu hören auf beiden Seiten des Bauzauns.

Gehalten von groben und starken Händen, ganz oben auf einem Kran, dicht am Stamm der größten Platane.

Das Schreien und Toben auf der anderen Seite wird lauter.

Als der erste Ast von der mächtigen Krone getrennt auf den Boden knallt, verirrt sich ein Blick, von hoch oben vom Kran nach drüben, auf die andere Seite des Zauns.

Der Blick sieht vorbei an der wütenden, tobenden Menge. Doch bevor er sich im Nichts verlieren und wieder umkehren kann bleibt er hängen.
Er sieht in ein stilles Gesicht, dessen Augen, wie in einem stummen Gespräch fest auf den großen und schönen Baum geheftet sind.
Er sieht die Tränen, die unaufhaltsam das Gesicht hinablaufen, kann sich nicht abwenden von den Augen, die ungläubig und verzweifelt auf den Baum geheftet sind.

Selbst als der Baum schon längst mit einem lauten Schlag auf die Erde gefallen ist.
Selbst als der Boden schon lang nicht mehr erzittert und der Blick wieder fest auf die Hände gerichtet ist.

Ist es immer noch da, dieses Bild von dem stillen Gesicht, welches lautlos und ungläubig weint.