Donnerstag, 30. April 2009

In der Zoohandlung I


Vladimir hakte Victor beim Aussteigen aus der Straßenbahn fest unter, um den lallenden und torkelnden Freund besser unter Kontrolle zu haben. Er selbst sah die Welt um sich auch nicht mehr ganz klar. Wie viele Glühweine hatten sie eigentlich getrunken? Er musste aufstoßen. Das Brennen im Rachen, welches folgte, war unangenehm. Hastig schluckte er, um den Geschmack wieder zu vertreiben.
„Guck mal, da oben!“, Victor riss sich los und deutete mit seiner Hand die Straße entlang.

Er folgte dem Finger seines Freundes. An der nächsten Straßenecke, einige hundert Meter entfernt, stand, unter einer Straßenlaterne, ein Pärchen mit einem Kinderwagen. Er blinzelte, durch den Regen war kaum etwas zu erkennen. Was wollte Victor mit den Beiden?
„Ey! Wo hast Du die Banane gelassen?!?“, Victor brach in schallendes Gelächter aus, sah dann noch mal hin und stutzte, „oder ist das eine andere Verrückte?“
Im ersten Moment begriff Vladimir nicht, dann erinnerte er sich an den blonden Kerl, der so rührend die Verrückte angesprochen hatte. Er blinzelte und schob seinen Kopf nach vorne. Hmm, das könnte schon dieser Kerl sein.
„Huhuuu!“, Victor hob ausgelassen seinen Arm und winkte zu dem Pärchen, „Ich kenn euch! Huhuu!“
„Idiot!“, Vladimir konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
Trotzdem schnappte er sich seinen kichernden Freund und steuerte mit ihm in Richtung der Zoohandlung. Es waren mit ihnen nur wenige Menschen aus der Bahn gestiegen, er bemerkte, wie sie ihnen auswichen und sie argwöhnisch beäugten. Er unterdrückte den Impuls einer alten Frau die Zunge raus zu strecken. Stattdessen drückte er Victors Arm und schüttelte sich vor Lachen, alleine bei dem Gedanken es zu tun.
Als sie durch die Tür der Zoohandlung gingen zog Victor ihn zu dem großen Koi Becken am Eingang.
„Krass, guck mal wie groß die sind!“, mit offenen Mund stand er da und starrte in das Becken.
„Los komm jetzt erst mal weiter. Die ollen Karpfen können wir uns nachher noch ansehen.“, er schob den Freund weiter die Treppe nach oben zu den Kleintieren.
Die warme Luft im Laden machte ihn schläfrig. Mitten auf der Treppe wurde ihm schwindlig. Um ein Haar wäre er gestürzt, doch im letzten Augenblick gelang es ihm das Geländer zu fassen. Langsam glitt er auf die Stufen. Dort blieb er schwer atmend sitzen.
„Ey Alter, was ist los?“, er sah auf in die weit aufgerissenen Augen von Victor, der sich über ihn gebeugt hatte.
Der rüttelte ihn an der Schulter.
„Laß das, geht schon wieder.“, mit einer bestimmten Bewegung schob er die Hand seines Freundes fort.
„Brauchst Du Hilfe? Ist Dir nicht gut?“, eine Verkäuferin kam von unten die Treppe hinauf gelaufen.
Vladimir sah sie an, sie war in etwa im Alter seiner Mutter. Im ersten Moment stutzte er, als er ihre grauen Augen sah, dann musste er lächeln.
„Geht schon, alles okay.“, mit einem leisen Seufzer stand er auf.
„Habt ihr was getrunken?“, mit gerunzelter Stirn musterte die Verkäuferin sie beide.
Vladimir schüttelte den Kopf:
„Nein, gar nicht. Danke für Ihre Hilfe!“
Er vermied es der Frau direkt in die Augen zu sehen und beeilte sich endlich die gewundene Treppe hoch zu gehen. Kurz vor dem ersten Stock wandte er leicht den Kopf und sah aus dem Augenwinkel, dass sie immer noch dort unten an der halben Treppe stand und ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher sah. Mit schnellen Schritten durchquerte er die Abteilung in Richtung der Kleintiere. Er bemerkte, dass Victor ihn immer wieder verstohlen beäugte.
„Ist schon okay, Alter – mir geht’s gut.“, er gab ihm einen freundschaftlichen Stoß.
„Du hast mir nen ganz schönen Schrecken eingejagt, dachte Du krepierst da auf der Treppe!“
„Ja, schon klar...“, Vladimir seufzte, warum musste er nur immer so maßlos übertreiben?
„Ey, was ist das denn?“, Victor blieb stehen und deutete auf einen extra abgetrennten Raum mit einer Theke am Ende.
Vladimir musste lachen, als er seinen Freund leise durch die Zähne pfeifen hörte. Hinter der Theke stand ein Mädel, ungefähr in ihrem Alter. Sie trug einen weißen Kittel.
„Wer lesen kann ist klar im Vorteil: Tierarztpraxis!“, er deutete auf ein Schild an der Wand.
Victor runzelte die Stirn:
„Ich dachte dass hier ist ne Zoohandlung?“
„Klar, aber wie Dir vielleicht auffällt gibt es in ner Zoohandlung ne Menge Tiere.“
„Kannst Du mit Deiner Schlange hier auch hingehen?“
Vladimir runzelte die Stirn:
„Wenn sie krank wäre bestimmt, wieso?“
„Ey, dann komm ich mit! Wann gehst Du hin?“, Victor zwinkerte dem Mädchen zu, diese grinste zu ihnen hinüber.
„Spinner!“, Vladimir zog seinen Kumpel weiter zu den Kleintieren, „Wie wärs wenn Du Dir selbst ein Tier kaufst und dann damit dort auftauchst?“
„Tolle Idee!“, Victor schien Feuer und Flamme zu sein.
Vladimir seufzte. Während sein Kumpel sich eifrig nach einem Haustier umsah suchte er sich zwei Mäuse für seine Schlange aus. Ein Vater besah sich mit seinem kleinen Sohn die Tiere. Victor verwickelte die Beiden in ein Gespräch über das Für und Wider der einzelnen pelzigen Hausgenossen. Vladimir lies sich währenddessen von einem Verkäufer die beiden Mäuse einpacken und wandte sich mit der Pappschachtel in der Hand zu seinem Kumpel:
„Ich bin fertig, wir können wieder gehen.“
„Zeig mal Dein Schlangenfutter“, Victor streckte seine Hände nach der Schachtel aus.
Der Junge quiekte auf.
„Papa, will der Mann die Tiere töten?“
Na super! Vladimir stöhnte leise auf.
„Danke!“, zischte er Victor ins Ohr, dann wandte er sich lächelnd an Vater und Sohn, „aber nein, die Schlange sucht nur jemanden zum spielen!“
Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an. Bevor sein Vater ihm was erwidern konnte packte er Victor am Arm und steuerte in Richtung der Treppe. Bei der Tierarztpraxis verlangsamte Victor seinen Schritt und verdrehte sich den Kopf nach dem Mädchen.
„Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, dass wir mit den Mäusen zum Arzt gehen...“
„Wieso nicht? Stell Dir vor die haben ne ansteckende Krankheit?“
„Schnauze!“, es sollte aggressiv klingen, aber irgendwie musste Vladimir lachen.
Lachend gingen sie die Treppe hinunter Richtung Kasse.
„Ich geh jetzt zu den Fischen!“, Victor stapfte in Richtung des Koi Beckens und beugte sich tief darüber.
Von der Kasse aus konnte Vladimir sehen, wie sein Kumpel zu zittern begann. Mit gerunzelter Stirn nahm er das Wechselgeld entgegen und ging in schnellen Schritten auf ihn zu.
„Was ist los?“, er fasste Victor am Arm.
„Mir ist schle-“, weiter kam er nicht.
Victors Körper bäumte sich auf und mit einem Mal kam ein ganzer Schwall Vorverdautes aus ihm heraus. Vladimir versuchte ihn vom Becken weg zu zerren. Aber zu spät. Ein Teil des Mageninhaltes fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser. Er sah wie die Fische blitzartig zum Grund tauchten. Hinter ihnen stieß jemand einen Schrei aus.
Scheiße! Mehr dachte er nicht während er beobachtete, wie sich der restliche Mageninhalt seines Freundes vor dem Becken verteilte. Er roch den scharf-säuerlichen Geruch des Erbrochenen und unterdrückte ein Würgen.

Donnerstag, 23. April 2009

Im Regen IV


Marie verharrte einige Augenblicke und legte ihren Kopf schief. Sie hörte die leisen Laute aus dem Kinderwagen nicht mehr. Stattdessen vertiefte sie sich ganz in den Anblick dieses Kerls, der sie vor ungefähr zwanzig Minuten am Arm gerempelt hatte und kurz darauf einen Auffahrunfall verursacht hatte. Er sah immer noch wie weggetreten aus mit stierem Blick. Den Regen schien er nicht zu bemerken. Sein blondes Haar klebte in nassen, dunklen Strähnen auf seinem Kopf. Als ihm ein Tropfen von der Nase fiel bemerkte sie, dass seine Lippen leicht zitterten. Wie ein gehetztes Tier steht er da, schoss es ihr durch den Kopf. Der Gedanke rührte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht als sie den Kinderwagen beherzt auf ihn zu schob.

„Du hast eben einen Unfall verursacht.“, sie zog ihre Stirn in Falten.
War das zu vorwurfsvoll gewesen? Das hatte es nicht sein sollen. Es sollte sachlich klingen, aber nicht vorwurfsvoll. Sie wollte nicht, dass er wieder in Panik geriet. Gespannt beobachtete sie wie sein Blick ganz langsam klarer wurde, als er den Kopf drehte und sich ihr zu wandte. Er musterte sie von oben bis unten. Sie wich einen kleinen Schritt zur Seite und lenkte ihren Blick an ihm vorbei. Sie hasste es, dieses Gefühl abgeschätzt und bewertet zu werden.
„Was sagst Du?“, seine Stimme klang leise, beinahe bedrohlich.
Im Augenwinkel sah sie, wie er sein Kinn für einen Moment nach vorne schob und sein ganzes Gesicht in die Länge zog. Sie sah ihn jetzt wieder direkt ins Gesicht. Ein leichtes Funkeln lag in ihren Augen. Was wollte er? Wollte er ihr drohen und auch noch so tun als könne er sich nicht erinnern? Andererseits – vielleicht war er einfach durchgeknallt? Nicht ganz zurechnungsfähig? Scheiße! Warum hatte sie ihn angesprochen? Ihre rechte Fußspitze tippte unruhig auf den Asphalt. Wenn sie eine Sache in ihrem Leben gelernt hatte, dann war es, dass Angriff immer noch die beste Verteidigung war. Ausnahmslos, in jedem Fall! Sie machte einen kleinen Schritt auf ihn zu.
„Machst Du Witze? Du hast mich genau verstanden!“, ihre Stimme klang jetzt hart und abgehakt. Die Stirn war in tiefe Falten gezogen.
Sie spürte mehr, als dass sie es sah, dass er mit seinem Oberkörper ein kleines Stück zurückwich. Für einen kurzen Moment hielt sie inne. Ein Lächeln erschien um ihre Mundwinkel, nur um im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden. Sie bemerkte, dass er ihren Blick nicht mehr hielt. Sie musste weiter sprechen, um seine Aufmerksamkeit wieder zu erhalten. Aber sie merkte, dass ihre Worte ihn nicht erreichten. Um den Unfall zu verdeutlichen klatschte sie in ihre Hände. Direkt vor seiner Nasenspitze. Tatsächlich schien ihn das wach zu machen. Er wich mit dem Kopf zurück und starrte sie an.
„Wie Wumms?“
„Na Wumms eben!“, sie wiederholte das Klatschen, wenn auch nicht mehr genau vor seinem Gesicht.
Er zog die Stirn in tiefe Falten, schüttelte den Kopf und hob leicht seine Hand. Das Klatschen begann ihr Spaß zu machen. Sie wiederholte es, nachdem sie weitergesprochen hatte.
„Achso, ja, okay, ich verstehe!“, wieder hob er seine Hand. Diesmal wirkte es fast als wolle er sie fort schupsen.
Kein Wort hast Du verstanden, gibs doch zu! Willst nur, dass ich aufhör vor Deiner Nase zu klatschen. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und bemerkte, dass eine weitere Straßenbahn von der Haltestelle los fuhr. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanke einen neuen Anlauf zu starten. Sie sah in sein müdes Gesicht und lies es bleiben. Achselzuckend folgte sie seinem Blick zur Haltestelle. Dort standen zwei Jugendliche. Ihr Lachen drang die Straße hinauf. Einer hob die Hand und winkte. Mit gerunzelter Stirn suchte sie die Straße ab. Meint der uns? Direkt neben ihnen bremste ein Auto. Als sie hinsah blieb ihr beinahe das Herz stehen.
„Scheiße!“
Sie starrte den Fahrer mit aufgerissenen Augen an. Nur kurz. Fühlte sich in die Enge getrieben und sah sich mit einer schnellen Kopfbewegung um.
„Laß uns abhauen!“, leicht stupste sie ihn in der Drehung mit ihrem Ellenbogen an.
An seinem Blick merkte sie, dass er immer noch nichts kapierte. Da stand eines der kaputten Autos vor ihm - an deren Unfall er Schuld war und er tat so als ginge ihn das alles nichts an! Als sie einige hundert Meter gelaufen waren, ohne dass das Auto ihnen folgte, fiel die Spannung langsam von ihr ab. Was mache ich jetzt eigentlich mit ihm? Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und sah wie sein Blick in den Kinderwagen fiel. Oh nein, bitte, frag mich jetzt nichts wegen dem Baby...
„Ist das eigentlich Deines?“
Sie blieb stehen, nur kurz, und schloss die Augen. Er hats getan. Der Gedanke hallte durch ihren Kopf und sie verspürte nicht die geringste Lust ihm eine Antwort zu geben.

Montag, 20. April 2009

Blogfrequenz

Sodele,
nachdem nun ein kleiner Grundstock vorhanden ist & ich meine Leser nicht mit zuvielen Geschichten verscheuchen will, werde ich für die nächsten Wochen die Blogfrequenz auf einmal pro Woche runtersetzen.
Der Blog wird also ab dieser Woche immer Donnerstags eine neue Geschichte dazu bekommen. Die Montagsgeschichte fällt also erst mal weg. Habe mir gedacht, dass zum Wochenende hin der geneigte Leser sicherlich mehr Zeit haben wird :D. Rückmeldungen & Meinungen sind willkommen!

Grüße
Kryps

Donnerstag, 16. April 2009

Im Regen III


„Du hast eben einen Unfall verursacht!“, die Stimme drang wie aus weiter Ferne an Bastians Ohr.
Er zwinkerte mit den Augen und wandte den Kopf zur Seite. Ein Mädel, so Anfang zwanzig, stand vor ihm und fixierte ihn mit festem Blick. Er trat von einem Bein auf das andere und kratzte sich am Kopf. Was hatte sie da eben gesagt? Ein Unfall? Auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Falten ab und er erinnerte sich plötzlich wieder an ein Quietschen und die Hupe eines Autos, die schrill die Stille der Nacht zerriss. Aber was hatte das Ganze mit ihm zu tun?
„Was sagst Du?“, er unterdrückte ein Gähnen.

Jetzt legte ihre Stirn sich in Falten. Sie starrte ihn aus großen Augen an.
„Machst Du Witze? Du hast mich genau verstanden -“, sie betonte jedes der folgenden Wörter einzeln, „als Du eben über die Straße gelaufen bist ohne Dich umzusehen hätte Dich der Typ mit dem dicken Audi beinahe umgefahren. Verstehst Du? UMGEFAHREN“
Nein, er verstand nicht. Welcher Typ in was für einem Audi? Angestrengt suchte er nach einer Erinnerung, die in irgendeiner Weise etwas mit dem zu tun hatte, was diese junge Frau ihm erzählte. Nachdem er schwieg schien sie sich berufen zu fühlen weiter zu sprechen:
„Du hast verdammtes Glück gehabt, der Typ hätte fast nicht mehr bremsen können und wäre um ein Haar über Dich drüber gerollt! Dass Du einfach weitergelaufen bist ohne Dich um ihn zu kümmern hat ihn völlig aus der Fassung gebracht. Naja, und dann: Wumms!“
Sie klatschte in die Hände und sah ihn bedeutungsvoll an.
„Wie Wumms?“, er hatte Mühe zu begreifen, was sie ihm deutlich machen wollte.
Am Rande bemerkte er, dass eine neue Bahn an der Haltestelle stehen blieb. Er beobachtete wie sie ihre Augenbrauen nach oben zog und laut seufzte.
„Na Wumms eben!“, sie wiederholte das Händeklatschen. Als er keine Reaktion des Verstehens zeigte holte sie erneut tief Luft, „Er stand da und hat Dir hinterher gebrüllt und währenddessen ist ihm ein zweites Auto hinten reingeknallt!“
Wieder das Klatschen. Es begann ihn zu nerven.
„Ach so, ja, okay, verstehe...“, schnell kamen die Worte über seine Lippen und er hoffte inständig, dass sie aufhören würde in die Hände zu klatschen.
Die Bahn fuhr wieder los. Zurück blieben zwei Jugendliche. Bastian kniff einen Moment seine Augen zusammen, aber durch den Regen und die Dunkelheit war kaum mehr als die Umrisse zu erkennen. Trotzdem kam der eine ihm irgendwie bekannt vor. Sie lachten laut, zumindest der eine, und als sie sich in Bewegung setzten kam es ihm so vor als würden sie leicht schwanken.
„Scheiße!“, ihre Stimme brachte seine Aufmerksamkeit wieder zurück.
Er folgte ihren Blick. Auf der Straße direkt neben ihnen fuhr ein Auto langsam auf die grüne Ampel zu. Aber das eigentlich Ungewöhnliche war, dass es Vorne völlig eingedellt war. Er wunderte sich wie es überhaupt möglich war, dass das Ding noch fuhr.
„Lass uns abhauen!“, sie bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung ihr zu folgen und stemmte dabei den Kinderwagen auf die Hinterräder.
Er folgte ihr und sein Herz, das sich vor kurzem erst wieder beruhigt hatte, begann wieder wie wild zu klopfen. Da war so ein Zittern in ihrer Stimme gewesen, fast schon eine leichte Panik. Bastian zwang sich nicht los zu rennen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass das Auto ihnen den Weg abschneiden würde und zwei Bewaffnete raus springen würden. Er kam sich vor wie in einem schlechten Gangsterfilm. Aber nichts passierte. Nachdem sie einige hundert Meter schweigend zurückgelegt hatten ohne dass das Auto ihnen gefolgt wäre, begann er langsam an ihrer Geschichte zu zweifeln. Er beäugte sie aus seinem Augenwinkel auf irgendein Anzeichen, dass ihm Auskunft über den Zustand ihrer geistigen Gesundheit geben könnte. Aber er konnte nichts Auffälliges ausmachen. Sein Blick fiel auf den Kinderwagen.
„Ist das eigentlich Deines?“, mit dem Kopf deutete er in Richtung des Babys, das unter den dicken Decken kaum zu erkennen war.
„Quatsch, meine Mutter hatte noch einen Spätzünder.“, auffordernd hob sie ihr Kinn und wandte ihm ihr Gesicht zu.
„Echt?“
Sie antwortete nicht. Stattdessen grinste sie ihn breit an, bevor sie ihren Blick wieder auf die Straße richtete. Bastian zog seine Brauen zusammen und hatte keine Ahnung was er ihr überhaupt noch glauben wollte. Sie war komplett durchgeknallt! Er schüttelte den Kopf und verlangsamte seinen Schritt.

Donnerstag, 9. April 2009

Im Auto II


Melinda fasste sich an ihren Kopf. Ihr langes, helles Haar war zum größten Teil aus dem Pferdeschwanz gewichen und hing ihr in dicken Strähnen ins Gesicht. Der Kopf tat ihr ein wenig weh. Sie legte sich das feuchte Tuch, das Tante Biggi ihr in die Hand gedrückt hatte, auf die Stirn. Es war angenehm kühl. Tante Biggi – irgendwie war die doch nicht so schlecht, wie sie gedacht hatte. War gleich da gewesen, als es laut knallte und der Ruck sie durchschüttelte, während Onkel Franzis einfach weg war. Sie äugte nach rechts rüber, zu dem anderen Mädchen. Larissa war ein ganz schönes Baby, die hatte richtig geflennt. Stolz richtete sie sich auf, als sie daran dachte wie Tante Biggi gesagt hatte, dass sie so tapfer sei!
„Geht es Dir gut?“, es dauerte einen Moment bis Melinda begriff, dass nicht sie gemeint war, sondern Onkel Franzis.

Sie sah, wie Tante Biggi ihn leicht am Arm berührte. Wieder spürte sie so was Komisches zwischen den Beiden, das sie nicht einordnen konnte. Einen eigenen Raum, der ihr irgendwie verschlossen blieb. Sie spürte einen Stich und wandte unwillkürlich ihren Blick hinüber zu Larissa. Die beiden Mädchen sahen sich kurz an und Melinda wusste, dass die Andere das Selbe spürte wie sie. Sie beobachtete wie Larissa ihre Stirn runzelte und sich mit dünner Stimme bemerkbar machte:
„Mama?“
Stille, einen Augenblick lang. Es war unangenehm. Dann lachten die Erwachsenen plötzlich laut los. Sie tauschte mit Larissa einen langen Blick und sah, wie diese ihre Augen weit aufgerissen hatte. Unwillkürlich berührte sie sie am Arm, wie um sie zu trösten.
„Mama?“, Larissa starrte nach Vorne, ihre Lippen zitterten und aus ihrer Stimme konnte Melinda Wut hören.
Dann hörte sie nicht mehr richtig zu. Sie war müde. Sie schaute an Larissa vorbei aus dem Seitenfenster hinaus und beobachtete den Regen, den sie im Licht der Straßenlaterne gut erkennen konnte. Sie seufzte wohlig und kuschelte sich in die Decke, die Tante Biggi ihnen aus den Kofferraum geholt hatte. Fast wäre sie eingeschlafen.
„Wie geht es Dir eigentlich, Melinda?“, die Erwähnung ihres Namens lies sie aufschrecken.
„Ganz gut“, murmelte sie während sie ihrem Onkel schläfrig anlächelte.
Sie sah, wie er ihr zuzwinkerte und spürte wieder diesen eigenen, kleinen und geheimen Raum, den nur sie beide kannten. Zwischen ihnen beiden, nicht zwischen Tante Biggi und ihm. Zufrieden hob sie kurz ihren Kopf und schaute zu Tante Bigi hinüber. Hatte sie das bemerkt? Es wirkte nicht so, sie seufzte ein wenig enttäuscht. Als der Wagen los fuhr griff Larissa nach ihrer Hand. Im ersten Moment wollte sie ihre wegziehen von den kalten Fingern der anderen, aber dann lies sie sie doch da. War ja eigentlich auch schon egal. Im Vorbeifahren sah sie an einer Straßenecke eine Frau und einen Mann mit einem Kinderwagen stehen.
„Baby“, murmelte sie und deutete mit ihrem Kopf in die Richtung.
Larissa folgte ihrem Blick und nickte. Onkel Franzis unterhielt sich mit Tante Biggi, aber sie hörte nicht genau hin. Plötzlich gab er Gas und dröhnte mit lauter Stimme:
„Und Mädels, heute haben wir unser Auto zu Schrott gefahren – was wollen wir morgen unternehmen?“
Larissa und sie sahen sich an und kicherten.
„Willst Du morgen mit zu meinem Pferd?“, sie flüsterte es ganz leise und sah Larissa verschwörerisch an.
Die Gefragte nickte und strahlte. Melinda drückte sich wieder das Tuch gegen den Kopf. Hoffentlich waren bis dahin die Kopfschmerzen verschwunden.

Montag, 6. April 2009

Im Auto I


Franziskus fuhr sich durch das kurze Haar. Seine Hand zitterte leicht. Mit den Händen drückte er sich vom Lenkrad tief in den Sitz hinein. Kurz schloss er seine sumpfiggrauen Augen, holte tief Luft. Als seine rechte Hand den Schlüssel im Schloss umdrehte öffnete er sie wieder.
„Geht es Dir gut?“, Birgits Hand berührte ihn leicht am Arm.

Kaum merklich zuckte er zusammen. Es war die erste Berührung an diesem Abend. Um den Augenblick ein wenig länger genießen zu können wandte er nur ganz langsam den Kopf. Er versuchte ein schiefes Lächeln. Mit Bedauern nahm er wahr, wie sie ihre Hand wieder fort zog. Einige Augenblicke später war auch die Wärme, die ihre Finger hinterlassen hatten, wieder verschwunden, als hätte sie ihn nie berührt. Er seufzte.
„Wie man es nimmt. Ich habe gerade mein Auto zu Schrott gefahren, aber der Motor läuft noch. Jetzt überlege ich wie ich mein Versprechen einhalten kann und euch nach Hause fahren kann und trotzdem noch rechtzeitig zur Werkstatt komme, bevor die schließt. Wobei...“, er sinnierte einen Moment, „Vielleicht sollte ich es einfach irgendwo abstellen und uns ein Neues kaufen!“
Sie starrte ihn an, schien kaum greifen zu können, was er eben gesagt hatte. Er zuckte mit den Schultern und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Sie zog ihre Brauen zusammen, ihre grauen Augen flackerten. Plötzlich war da diese Stille um sie herum. Der Moment in dem es in beide Richtungen kippen konnte. Er verlor sich in ihrem flackernden Blick, seine Lippen begannen leicht zu zittern.
„Mama?“, die Stimme klang dünn, fast jammernd.
Sie tauchten beide wieder zurück an die Oberfläche. Er zwinkerte mit den Augen. Dann entlud sich die angestaute Spannung, plötzlich und unerwartet. Später konnte er nicht mehr sagen wer zuerst gelacht hatte. War auch egal. Sie lachten beide, konnten sich nicht mehr halten.
„Mama?“, die Stimme klang nun etwas lauter – vielleicht verärgert?
„Was ist mein Schatz?“, Birgit versuchte das Lachen zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.
„Wann gehen wir endlich nach Hause?“
„Gleich, mein Schatz.“, sie strich ihrer Tochter beruhigend über das Bein.
„Wie geht es Dir eigentlich, Melinda?“, er zog seine Augenbrauen nach oben und wandte sich zu seiner Nichte um.
Diese zuckte mit ihren Schultern und gähnte ausgiebig. Sie schien sich mittlerweile mit den beiden anderen Frauen arrangiert zu haben. Franziskus lächelte. Braves Mädchen, weiß was ihrem Onkel gut tut.
„Fahr in die Werkstatt. Ich kann euch auf meine Karte in der Straßenbahn mit nehmen.“, Birgit sah ihn auffordernd an.
„Wie Du meinst. Hältst Du das noch aus, Larissa?“
Die Angesprochene lächelte und nickte. Als er los fuhr beobachtete er im Rückspiegel wie sich die beiden Mädchen an den Händen fassten. Bei diesem Anblick wurde ihm warm ums Herz.
An der nächsten Ampel sah er ein junges Mädchen mit Kinderwagen stehen. Er fuhr langsamer, obwohl die Ampel gerade auf grün umsprang.
„Sag mal, das ist doch das Mädchen von der Straßenbahnhaltestelle?!?“, er fasste Birgit kurz am Arm, um sie aufmerksam zu machen.
Der Eindruck, dass sie bei seiner Berührung die Luft anhielt verwirrte ihn.
„Keine Ahnung, ich hab nicht so auf sie geachtet. Ich war damit beschäftigt ob es unseren zwei Hübschen gut geht!“
Er erinnerte sich an das Gesicht seines Unfallgegners als er den Zettel von dem jungen Biest auf faltete und musste grinsen.
In zittriger Schrift stand darauf: Maria Blindfuchs – Keine Ahnung Allee 35 – 68532 Nichtsgesehen. Ohne Telefonnummer, natürlich.
Ganz schön verarscht hatte sie ihn! Und jetzt stand sie da im Regen – von wegen das Baby musste schnell nach Hause. Und sie war nicht mehr alleine. Er sah wie sie den Kopf wandte, aufmerksam geworden durch das langsam rollende Auto. Hatte sie ihn erkannt? Dem verdellten Auto nach zu urteilen wohl schon. Sie sagte etwas zu ihrem Begleiter. Ein junger blonder Typ, der ein wenig verwühlt aussah. Dann drehte sie den Kinderwagen und beide gingen mit schnellen Schritten in die nächste Seitenstraße. Franziskus hatte den Eindruck, dass der Blonde kurz seinen Blick suchte, bevor er dem Mädchen nachlief. Seltsam. Einen Moment erwägte er den beiden hinterher zu fahren. Dann überlegte er es sich anders und gab wieder Gas.
„Und Mädels, heute haben wir unser Auto zu Schrott gefahren – was wollen wir morgen unternehmen?“
Die beiden Mädchen kicherten. Birgit sagte nichts. Aber im Augenwinkel sah er wie sie lächelte. Er fühlte eine Leichtigkeit um sein Herz und lachte still in sich hinein.

Donnerstag, 2. April 2009

Im Regen II


Karl-Heinz griff zum Lautstärkeregler seines Autoradios und drehte die Musik lauter. Eigentlich war das ja nicht seine Art, aber der Regen, die Dunkelheit und das Lied aus dem Radio weckten alte Erinnerungen. Die Vergangenheit strich ihn mit ihrem kalten Flügel und ließ einen bittersüßen Geschmack von Wehmut und Sehnsucht zurück. Überwältigt von diesem Gefühl schloss er die Augen. Nur einen kurzen Augenblick. Als er sie wieder öffnete blieb ihm das Herz beinahe stehen. Ein junger Mann lief direkt vor sein Auto. Er war so überrascht, dass er zu keinem klaren Gedanken fähig war. Glücklicherweise übernahmen andere Hirnregionen die Steuerung. Automatisch trat sein rechter Fuß auf das Bremspedal, die Reifen blockierten. Wie durch einen Nebel nahm er wahr wie das Auto über die regennasse Fahrbahn immer näher an den jungen Mann heran rutschte. Das Bild von spritzendem Blut auf seiner Windschutzscheibe stand ihm vor Augen. Er kniff sie zusammen und hielt den Atem an. Der Gedanke an Tobias, seinen Sohn, schoss ihm durch den Kopf. Im letzten Augenblick kam das Auto vor den Füßen des jungen Mannes zum Stehen. Mit klopfendem Herzen, nicht zu einem klaren Gedanken fähig, beobachtete er wie der weiter lief. Als sei nichts geschehen. Als hätte er nicht eben sein Leben riskiert.

Er saß wie erstarrt mit offenem Mund in seinen Sitz gepresst. Sein Atem ging heftig. Der junge Mann war bereits auf der anderen Seite der Fahrbahn angekommen und lief weiter ohne sich umzusehen. Seine Hand fasste den Türgriff und er sprang mit einem Satz aus dem Auto.
„Hast Du keine Augen im Kopf?!?“, sein Brüllen verhallte in der Dunkelheit ohne jegliche Reaktion.
Mit weit aufgerissenen Augen, immer noch schwer atmend, starrte er auf den Rücken des Jungen, der sich langsam in der Dunkelheit verlor. Er hätte tot sein können! Stand er unter Drogen oder warum reagierte er überhaupt nicht? Tobias Gesicht war plötzlich wieder da – blutverschmiert, mit leerem Blick. Er stöhnte auf, senkte den Kopf und schlug sich mit einer Hand an die Stirn. So verharrte er einen Moment mit geschlossenen Augen, die Hand fest auf die Lider gepresst. Als er wieder auf sah war der junge Mann verschwunden. Den Kopf in alle Richtungen drehend sah er sich um. Bei der Straßenbahnhaltestelle in der Mitte der Straße stand ein junges Mädchen mit einem Kinderwagen. Sie starrte ihn an. Bestimmt hatte sie alles gesehen. Mit ihrem erstarrten Gesicht wirkte sie ebenso fassungslos wie er selbst es war. Plötzlich hörte er das Quietschen von Reifen hinter sich. Noch ehe er sich umdrehen konnte ertönte ein lauter Knall und sein Wagen schoss nach Vorne. Es gelang ihm gerade noch zur Seite zu springen, fast wäre sein Fuß von den Hinterrädern überrollt worden. Erstarrt sah er sich um. Sein Blick war leer. Er brauchte einige Augenblicke um zu realisieren, dass eben ein anderes Auto auf sein eigenes geknallt war. Verdammt! Das gibt es doch nicht! Waren heute Abend nur Idioten auf der Straße? Er rannte nach hinten, um sich das Ausmaß des Schadens anzusehen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er vergaß zu atmen.
„Sie Idiot! Sind Sie zu dumm zum bremsen? Jetzt schaun Sie sich doch nur die Bescherung an! Unglaublich! Der Kofferraum ist hinüber!“, die Worte sprudelten aus ihm heraus. Er merkte wie seine Stimme sich überschlug und spürte ein Zittern am ganzen Körper.
Er war angespannt und hatte Mühe sich zu beherrschen. Sein Unfallgegner war bestimmt zwanzig Jahre jünger als er selbst. Er hatte ein ernstes aber sehr ruhiges Gesicht und berührte ihn leicht am Arm mit seiner Hand. Versuchte beschwichtigen auf ihn einzureden.
„Nehmen Sie ihre Hände weg!“, Karl-Heinz riss seinen Arm nach hinten.
Wieder wandte er den Kopf. Sein Herz machte einen kurzen Satz, als er das Mädchen noch drüben bei der Straßenbahnhaltestelle stehen sah. Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete sie die ganze Szenerie und rüttelte dabei rhythmisch am Griff des Kinderwagens. Ohne zu denken ging er auf sie zu. Fast schon rennend. Er sah wie sie einen kleinen Schritt zurückwich und ihren Kopf nach hinten schob. Ihre eine Hand lag immer noch auf dem Griff des Kinderwagen. Das Schütteln hatte sie jetzt allerdings eingestellt. Er griff nach ihrem freien Arm.
„Ey!“, sie riss sich mit einer heftigen Bewegung von ihm los.
Er lies sich nicht davon irritieren und fasste erneut nach ihrem Arm:
„Du hast alles gesehen! Du bleibst hier als Zeuge, bis die Polizei kommt!“
Er spürte eine Berührung auf seiner Schulter. Mit einer schnellen Drehung sah er sich wieder seinem Unfallgegner gegenüber. Einen Moment sah es so aus als würde er den Schwung der Drehung nutzen, um zuzuschlagen. Dann blieb seine Faust in der Luft stehen und sank nach unten. Ganz langsam.
„Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal und zerren Sie nicht so an dem Mädchen herum!“, die Stimme klang ruhig, die Augen versuchten seinen unruhigen Blick einzufangen.
Mit halben Ohr bekam er mit, wie das Mädchen sich darüber beschwerte als Mädchen bezeichnet zu werden, aber er hörte nicht mehr richtig hin. Sein Blick ging an dem Anderen vorbei zu dessen Auto. Dort stand eine Frau. Sie hatte die Tür zur Rücksitzbank aufgemacht und sprach mit zwei Kindern. Das Gesicht des kleinen Tobias tauchte aus den Tiefen seiner Erinnerung auf. Ein strahlendes Kindergesicht mit glucksendem Lachen und hellblauen, großen Augen, die einen erwartungsvoll ansahen und die Welt sehen wollten. Wie lange war es her, dass ihn diese Augen so angesehen hatten? Tage? Monate? Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Seine Lippen zitterten als er den glasig gewordenen Blick zu Boden senkte. Die Stimmen der anderen Beiden drangen wieder an sein Ohr. Er hob den Blick wieder, seine Stimme zitterte kaum merklich:
„Jedenfalls bleibt sie als Zeugin!“
Das Mädchen hatte inzwischen das Baby fest an ihre Brust gepresst.
„Scheiße! Ich muss nach Hause ins Trockene, sonst holt sich die Kleine hier noch den Tod!“
Er warf einen schnellen Blick von ihr zu seinem Unfallgegner.
„Halt! Das geht jetzt nicht – Sie müssen warten bis die Polizei da ist!“, seine Stimme klang jetzt sehr bestimmt.
„Einen Scheiß muss ich! Wenn Sie mich jetzt nicht sofort in Ruhe lassen zeige ich Sie wegen Körperverletzung an!“
Er starrte sie mit offenen Mund an. Waren denn alle verrückt geworden? Wieso schnauzte sie ihn so an? Hatte sie keinen Respekt? Seine Hand zitterte als er sich vorstellte, dass er ihr eine Ohrfeige geben würde, um sie zur Vernunft zu bringen.
Er beugte seinen Oberkörper leicht in ihre Richtung und spürte wie sie wieder ein Stückchen zurückwich. Große Schnauze, aber nichts dahinter. Sein Unfallgegner mischte sich ein. Gut, sollte der sich die Adresse geben lassen. War eigentlich egal. Der der auffährt hat ja eigentlich immer Schuld. Er sah, wie sich hinter ihren beiden Autos bereits eine lange Schlange von Blechkarossen gebildet hatte. Vielleicht war es nicht schlecht, wenn sie die Fahrbahn frei machen würden bis die Polizei käme. Wenn nicht die Straßenbahnhaltestelle gewesen wäre, hätten sie einfach um den Unfall herum fahren können – aber so?
Im Auto bemerkte er dass seine Anzugjacke durchnässt vom Regen war. Seine Hände waren eiskalt. Das Mädchen überquerte die Straße vor ihm, als er den Motor an ließ. Er starrte auf den Kinderwagen. Wie alt war Tobias heute? Einen Moment lang hielt er den Atem an. Durfte er daran überhaupt denken?
Später beantwortete er mechanisch die Fragen der Polizei. Die Beamten fragten ihn, ob sie ihn nach Hause bringen sollten, er sei so blass. Wozu? – antwortete er und stieg in sein Auto, um in die Werkstatt zu fahren. Ob Tobias heute immer noch so lachen würde?, schoss es ihm durch den Kopf, als der Motor stotternd wieder zum Leben erwachte. Er schloss einen Moment die Augen, atmete tief durch. Dann setzte er den Blinker und fuhr los. Langsam, ganz langsam.