Donnerstag, 2. Juli 2009

Fahrradunfall I


Gertrud schlürfte leicht gebückt aus dem Laden hinaus. Ihre Hand schloss sich fest um eine Pappschachtel, die sie an ihre Brust gedrückt hielt. So fest, dass man das Weiß ihrer Fingerknöchel sehen konnte. Mit der anderen zupfte sie ihr Kopftuch zurecht, als Schutz gegen den Nieselregen. Das Tuch hatte sie in Manier einer Bäuerin gebunden, auch wenn sie längst nicht mehr auf dem Feld arbeitete. Vor ein paar Jahren war sie auf das Anraten ihrer Kinder in eine kleine Wohnung in der Stadt gezogen. Das Einzige was ihr von Haus und Hof geblieben war war Hansi, ihr blauer Wellensittich.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als die Schachtel mit jedem Schritt leise klapperte. Sie hielt sie sich erneut vors Gesicht, vielleicht zum fünfzehntenmal seit die freundliche Verkäuferin sie ihr in die Hand gedrückt hatte.
„Die Vital-Nahrung, die Ihrem kleinen Liebling ein langes und unbeschwertes Leben garantiert!“
Sie blieb kurz stehen und schüttelte die Packung. Mit geschlossenen Augen lauschte sie auf das Geräusch. Das Lächeln lag immer noch auf ihren Lippen und lies ihr Gesicht strahlen. Das Klappern verklang, sie drückte die Pappschachtel wieder fest gegen ihre Brust und setzte sich in Bewegung. Langsam, denn ihre Füße fanden kaum sicheren Halt auf den vom Regen durchnässten Pflastersteinen. Ihre Beine zitterten bei jedem Schritt. Dennoch benutzte sie keinen Gehstock. Sie lief über den Parkplatz und wollte eben auf den Gehweg einbiegen. Etwas streifte sie hart an ihrem linken Arm. Sie stieß einen leisen Schrei aus, geriet ins Stolpern, machte hastig einige Schritte zur Seite bevor sie wieder zum Stehen kam. Ihr rechter Fuß knickte leicht um. Ein stechender Schmerz, schoss ihr Bein hinauf. Sie beugte sich hinunter. Dabei glitt ihr die Schachtel aus den Händen. Mit großen Augen beobachtete sie, wie die Pappe in einer Pfütze Wasser landete und sich sehr schnell mit Wasser voll sog. Ein zweiter Schrei entfuhr ihr und sie streckte ihre Hand nach dem Futter aus.
„Mensch, Sie müssen schon aufpassen, wenn Sie auf den Gehweg einbiegen!“, es war eine sehr junge Stimme, die neben ihr erklang.
Aber Gertrud achtete nicht weiter auf die Stimme. Vielmehr versuchte sie die Pappschachtel zu Greifen zu bekommen, bevor sie sich gänzlich auflöste.
„Was ist denn hier los?“, Schritte von hinten und erneut die Stimme einer Frau, aber deutlich älter als die erste.
Eine Hand berührte Gertrud an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Im Augenwinkel sah sie wie eine Frau mit langem, blondem Haar im dunklen Kostüm sich neben ihr hin kniete und die Futterschachtel aus der Pfütze fischte.
„Ist das Ihre?“, die Frau sah sie an und hielt ihr die Schachtel hin.
Gertrud nickte, riss ihr fast das Futter aus den Händen und drückte es fest gegen ihre Brust. Die Frau lächelte ihr zu.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen...“, ein Mädchen schob sich vor die Beiden.
Gertrud zuckte zusammen, als sie in das Gesicht des Mädchens blickte. Ihre Augen waren dunkel umrandet, sie sah aus wie eine Teufelin! Zitternd drückte sie sich an die blonde Frau. Diese legte sanft ihren Arm um sie.
„Trotzdem musst Du Dich umsehen und kannst nicht einfach so den Fahrradweg entlang rasen!“
„Hallo? Genau wie Sie sagen, dass hier ist der Fahrradweg. Wie soll ich bitte damit rechnen, dass mir plötzlich die alte Frau vors Rad läuft? Und dann ist sie auch noch total dunkel angezogen.“
Die andere musterte das Mädchen von oben bis unten:
„Ja, gut dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Ein Lächeln sprang zwischen dem Mädchen und der Frau hin und her. Schließlich streckte das Mädchen ihre Hand zu Gertrud:
„Ey, tut mir wirklich leid! Ich hab Sie echt nicht gesehen. Haben sie sich wehgetan?“
Gertrud schüttelte schnell ihren Kopf und wich noch ein Stück mehr in den Arm der blonden Frau. Diese schaute sie prüfend an, bevor sie sich wieder an das Mädchen wandte:
„Ich kümmere mich um die Dame. Denke Du kannst weiter fahren.“
„Meinen Sie echt?“
Die Frau nickte, das Mädchen zuckte mit den Schultern und blickte noch einmal zu Gertrud:
„Okay, also es tut mir leid und ich hoffe Sie sind nicht zu sehr erschrocken. Aber Sie haben mir auch einen Riesenschreck eingejagt!“
Gertrud nickte nur. Das Mädchen streckte ihr erneut ihre Hand hin. Nachdem sie sie nicht ergriff, zuckte sie mit den Schultern, murmelte einen Gruß und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.
„Müssen Sie mit der Bahn fahren?“
Gertrud sah zu der blonden Frau und nickte erneut.
„Kommen Sie, ich begleite Sie rüber zur Haltestelle, dann können Sie sich auf die Bank setzten, okay?“
Als sie gemeinsam die Straße überquerten spürte sie wieder das Stechen in ihrem Bein. Ihr Herz klopfte ihr noch immer bis zum Hals, aber der Arm der Frau hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Auf der Bank angekommen betrachtete sie eingehend die Futterschachtel. Hoffentlich hatte das Futter keinen Schaden genommen!
„Gehts wieder?“
„Ja, ja, vielen Dank...“, es war nicht mehr als ein leises Flüstern, was über Gertruds Lippen kam.
Trotzdem lächelte sie der blonden Frau zu, während sie mit einer Hand über die feuchte aber unversehrte Pappschachtel strich.

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