Donnerstag, 7. Oktober 2010

Regen


Im schnellen Takt peitscht der Regen auf die Straße. Das leise Knarren der Tür ist im Prasseln des Wassers fast nicht zu hören. Aber der Lichtstrahl, der sich aus dem warmen Inneren des Hauses seinen Weg nach draußen sucht, ist deutlich zu sehen. Er verliert sich schon nach wenigen Metern in der Schwärze der Nacht. Eine rundliche Gestalt tritt ins Freie. Wie eine sanfte Umarmung legt sich die Dunkelheit um sie und schützt sie vor neugierigen Blicken.
„Ich liebe den Regen!“, das tonlose Flüstern verliert sich rasch.
Das Gesicht dem Himmel zugewandt findet das Wasser immer neue Wege auf Haut und Haaren. Kleine Rinnsale verbinden sich zu großen Strömen bis schließlich alles nass ist.
Im Regen kann niemand Deine Tränen sehen.

Es gibt Schmerzen die zu stillen all Deine Tränen nicht ausreichen würden. Vielleicht vermögen es die Milliarden von Tropfen, die bei einem Unwetter auf die Erde fallen. Vielleicht – im Regen, das Gesicht dem Himmel zugewendet.
„Welchen Schmerz der Himmel wohl hat, dass er trotz der vielen Unwetter nicht aufhört?“, das Murmeln bleibt unbeantwortet.
Das willst Du nicht wissen. Niemand will es wissen. Ein Satz, ein Melodiefetzen, hängt plötzlich in der Luft:
Und der Himmel weint!
In der Dunkelheit ist der Umriss der Gestalt, wie er sich gegen das Licht aus dem Haus abhebt, noch zu erkennen. Ein Arm hebt sich langsam nach oben. Das Papiertaschentuch, dem Himmel entgegenstreckt, entzieht sich dem Blick des neugierigen Beobachters. Genauso wie das Lächeln, das kurz über das im Schatten liegende Gesicht huscht.
„Für Dich!“, der Ruf halt noch einige Sekunden durch das Dunkel.
Gierig stürzen sich eine Vielzahl von Wassertropfen auf das Tuch. Innerhalb von Sekunden ist es fort gespült. Langsam senkt sich der Arm wieder.
„Ich habe Angst!“, das Flüstern wird von einem dumpfen Grollen des Himmels beantwortet.
„Ich weiß...“, der Blick schweift auf die regennasse Erde, „...man darf keine Angst haben.“
Wie war das, als Du noch klein warst? Dachtest Du auch dass Du eines Tages groß sein wirst und Dir nichts und niemand mehr Angst machen kann?
„Aber das ist gelogen...“, diese Worte sind noch leiser als die Ersten.
Sofort ertönt ein weiteres Grollen. Als wäre es schon ein Verbrechen an dieser Lüge auch nur zu zweifeln.

Donnerstag, 19. August 2010

Begegnung in drei Teilen - Teil III


Ein kalter Wind nimmt Pete in Empfang und raubt ihn für einige Sekunden den Atem. Unwillkürlich zieht er seine Lederjacke enger. Nach wenigen Schritten hat er die Distanz bis zu der Bank überwunden. Zum ersten Mal eröffnet sich ihm die Frontansicht des Rückens. Gedankenverloren sieht er in das fremde Gesicht einer alten Frau. Schweigend verharrt er einige Augenblicke. Seine Schultern entspannen sich und in seinen Mundwinkeln zuckt ein stilles Lächeln.

Er beobachtet, wie der Wind mit dem dunklen Haar spielt, das von einem grauen Schimmer durchzogen ist. Einige Strähnen sind seinem Ruf gefolgt, haben sich aus der Haarspange gelöst und tanzen einen wilden Tanz in der Luft. Die kleine Nase entlang ziehen lilane Äderchen bunte Muster bis hin zu den von der Kälte rotverfärbten Wangen. Offensichtlich hat sich diese Dame keinerlei Mühe damit gegeben die Äderchen umständlich hinter Puder zu verbergen. Gerne würde er die Farbe ihrer Augen sehen, aber sie ist verborgen hinter den geschlossenen Lidern. Er betrachtet kurz das faltige Gesicht und entscheidet sich dann für wasserblau, denn alte Augen verlieren mit den Jahren die Kraft ihrer Farbe. Wie alle schlafenden Gesichter strahlt auch dieses Ruhe aus. Plötzlich zuckt Pete zusammen. Nicht doll, eher von außen kaum spürbar, an dem leichte Zucken seiner Nasenflügel zu erkennen. Der große Bruder des Schlafs vermag es beinahe noch mehr Gesichtern einen besonderen Frieden zu verleihen.
Alte Bilder tauchen wieder auf. Das Bild von der Gestalt im Sarg und dem jungen Mann, der vor dem offenen Sarg steht und von einem Fuß auf den anderen tritt. Die ältere Frau, die sich ganz auf den jungen Mann stützt, ihr Gesicht halb verdeckt von einem Taschentuch. Und als sie sich abwenden will ihn plötzlich kaum mehr loseisen kann. Seine Füße stehen mit einem Mal fest auf dem Boden, sein Blick ruht auf der Gestalt, die vor ihm liegt.
Pete kann sich genau erinnern wie er an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben dem Tod begegnete und in stiller Faszination seinen Blick nicht mehr von ihm wenden konnte. Diese Ruhe, die einen sanften Schleier über den Mund gelegt hat. Dessen so oft zusammengepresste Lippen nicht mehr zu erkennen waren. Hinter diesem Schleier konnte man sich kaum mehr die laute, harte Stimme denken. Und da war noch etwas, was ihn zutiefst verstörte. Dieses harte Gesicht, dass ihn im Leben abfällig angesehen hatte, die beiden Hände, deren Fäuste er oft genug zu spüren bekommen hatte, das alles hatte irgendwie seine Kraft verloren. Die Härte war aus dem Körper verschwunden. An ihre Stelle war etwas anderes gekommen. Nur was? Pete kann es schwer in Worte fassen. Eine Ruhe und vielleicht so etwas wie, ja nach diesem Wort hat er gesucht, so etwas wie Frieden. Und wenn er sich jetzt ganz genau zurück erinnert dann kann er plötzlich etwas Verletzliches an seinem unangreifbaren, alten, verbitterten Vater erkennen. Verletzlich? Der Mann, für den schon ein Lächeln ein Zeichen von Schwäche war? Das ist absurd! Fortgewischt der harte, entschlossene Gesichtsausdruck, der keinen Widerspruch duldete. Der Tod ist ein Gaukler! Er macht sich eine Spaß daraus starke Männer wie verweichlichte Idioten aussehen zu lassen. Der Tod ist eine Chance! Eine Chance die eigene Schwäche zu zeigen. Was hätte der Vater gesagt, wenn er sich so hätte sehen können?
„Schließt den Sarg!“, hätte er gebrüllt, „Keiner soll mich so sehen! Dieses schwache Nichts, das bin nicht ich! Legt ein Bild von mir auf den Sarg, damit die Leute sehen können wie ich gelebt habe!“
Pete ist dankbar, dass der Vater im Tod nichts mehr zu sagen hatte. Er fühlt, was er nie zuvor für ihn empfunden hat. Nicht Liebe, nein für diesen Menschen hat er keine Liebe übrig. Aber etwas Versöhnliches, so etwas wie Mitleid. Ja, leid tut ihm der Vater plötzlich, so schutzlos in dem kalten Sarg. Und so allein.
Der Schrei einer Möwe holt ihn wieder zurück in die Gegenwart. Still betrachtet er das Gesicht der alten Frau. Eine kaum fassbare Ruhe strahlt ihm entgegen. Es ist anders als das tote Gesicht des Vaters. Dieses hier ist nicht leer, nein, es ist voll mit – und hier fehlt ihm wieder das Wort. Zufriedenheit? Ja, diese Frau sieht so unglaublich zufrieden aus, schlafend auf der Bank im kalten Wind. Aber was wenn sie doch tot war? Alle Muskeln spannen sich an. Sein Gehirn gibt den Befehl an die Füße wegzugehen, schnell und unauffällig. Aber die gehorchen nicht. Sie bleiben stehen, wie angewurzelt. Erst als sich das Halstuch löst und sich an seinem Bein verfängt beugt er sich schnell hinunter und hält es fest. Im Aufrichten fängt sein Blick wieder ihr Gesicht ein. Und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt zuckt die kleine Nase. Pete lächelt. Und die Augen, die sich langsam öffnen, und versuchen sich zu orientieren sind wasserblau. Er muss noch ein wenig stärker lächeln. Jetzt sind sie wach und betrachten still sein Gesicht. Es ist ein langer und aufmerksamer Blick. Nicht unangenehm, aber doch seltsam. Auf der Stirn ziehen sich die Falten zusammen.
„Hat es geregnet?“, die Worte der alten Frau hängen zwischen ihnen.
Pete lässt ihr weiches, seidenes Halstuch durch seine Hände gleiten. Er weiß keine Antwort.

Donnerstag, 12. August 2010

Begegnung in drei Teilen - Teil II


Zum dritte Mal in den letzten beiden Minuten schaut Pete auf seine Uhr. Zweimal fällt ihm beinahe das Streichholz aus der Hand, bis es endlich Flamme fängt und er seine Zigarette anzünden kann. Er nimmt einen Zug und zwingt sich dem Rauch nachzusehen. Als seine Hand nach dem Pils vor ihm greift bleibt sein Blick doch wieder draußen an dem in eine helle Jacke gehüllten Rücken hängen. Erneut sieht er auf seine Uhr. 34 Minuten. Vor genau 34 Minuten hat er sich auf eben diesen Barhocker gesetzt und ganz zufällig nach draußen gesehen. Die Sonne ist mittlerweile von Wolken verdeckt und die kleine Fahne am Heck des Schiffes tanzt einen immer wilder werdenden Tanz. Aber dennoch hat sich dieser besagte Rücken in den letzten 34, nein jetzt 35 Minuten, nicht bewegt! Er drückt seine Zigarette wieder aus.
„Ich will doch einfach nur hier in Ruhe mein Bier trinken...“, denkt er während er dem Verglühen der Asche zusieht, „Was gehen mich die Angelegenheiten anderer Leute an? Es interessiert mich nicht!“
Am allerwenigsten interessiert ihn dieser verdammte Rücken, der wie eine alte Statue reglos dort draußen auf einer Bank thront!

Erneut schaut er auf seine Uhr und mit einem beinahe trotzigen Blick wieder nach Draußen. Jetzt hat sich diese Hintenansicht in den letzten 36 Minuten nicht mehr bewegt. Der schlanken Statur nach zu urteilen könnte es eine Frau sein. Aber vielleicht ist es auch ein Mann mit sehr wenig Muskeln? Pete zieht seine Augenbrauen ein Stück zusammen. Ein Mann mit einem Haarknoten? Wohl eher nicht. Das Einzige was sich an dieser Gestalt bewegt ist das Tuch, das um den Hals gebunden ist. Der heftiger werdende Wind spielt mit ihm, zerrt und droht es zu Boden zu reißen.
„Warum habe ich mich verdammt noch mal auf diese Seite der Bar gesetzt?“, seine Hand spielt mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche.
Einen Moment lang blitzt die Vorstellung in seinen Gedanken auf einfach wieder nach unten in seine Kabine zu gehen, sich auf die harte Pritsche zu legen, die Augen schließen und von der Musik aus seinem MP3Player davon tragen zu lassen. Lächelnd schließt er seine Augen. Plötzlich taucht das Bild eines Haarknotens vor dem Hintergrund einer sich langsam verdunkelnden See auf. Schnell reißt Pete seine Augen auf und starrt auf das fast leere Pilsglas vor sich.
„Verdammte Scheiße!“, mit der einen Faust schlägt er gegen den Tresen mit der anderen greift er zu seinem Glas und leert es in einem Zug.
Er hört ein Kichern. Wendet den Kopf und sieht zwei kleine Kinder am Nachbartisch. Das Kleinere starrt ihn mit offenem Mund an, während das Ältere ihn anstrahlt. Die Frau, die zwischen den beiden sitzt, sieht ihn mit zusammengekniffenen Mund an. Pete zuckt mit den Achseln, zählt sein Kleingeld ab und legt es auf den Tresen. Er nickt dem Barkeeper kurz zu und wendet sich dann in Richtung Außendeck. Seufzend öffnet er die Tür.

Donnerstag, 29. Juli 2010

Begegnung in drei Teilen - Teil I


Ihre Nase zuckt und bringt mit dem Zucken die Sommersprossen zum Tanzen. Es ist ein schneller Tanz, er passt nicht zu den Falten in ihrem Gesicht. Sofort gleitet ihre Hand nach oben, drückt mit zwei Fingern zu und setzt dem bunten Treiben ein Ende. Die andere Hand ist fest auf die Reling gestützt. Blinzelnd hält sie ihren Kopf in den Wind. Die Sonne strahlt ihr Gesicht an und verleiht ihr einen unwirklichen Glanz. Das Rauschen des Meeres unter ihr ist unter dem Lärm der Maschinen kaum mehr zu hören. Ihr Blick fängt sich in den weißen schäumenden Linien, die die Fähre hinter sich her zieht. Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht. All die Geschichten von Delphinen, die ins Meer gefallene Menschen vor dem Ertrinken bewahren geistern ihr durch den Kopf. Sie beugt sich nach vorne, so weit dass sie das Meer direkt unter sich sehen kann.
„Wenn ich jetzt ins Wasser fallen würde – wärt ihr hier um mich zu retten?“, flüstert sie unhörbar in den Lärm der Maschinen hinein. Sie bekommt keine Antwort. Langsam schweift ihr Blick wieder zum Horizont. Plötzlich ist ihr als spränge weit draußen ein kleiner, schwarz-weißer Punkt aus den Wellen. Sie blinzelt, legt eine Hand über die Augen, aber es sind nur noch die Wellen zu sehen.

Mit einem Achselzucken wendet sie sich von der Reling ab und geht auf eine der Bänke zu, die im hinteren Teil des Decks aufgestellt wurden. Nach einem kurzen Prüfen wählt sie eine direkt vor dem verglasten Café mit Blick auf das Meer. Trotz der Sonne bläst ein kalter Herbstwind. Er hat alle Passagiere in den Glaskasten getrieben. Sie braucht Ruhe, hat keine Lust auf laute Gespräche, Zigarettenrauch und Biergeruch am Nachmittag. Sie zieht ihr Halstuch ein wenig enger, setzt sich und lässt ihren Blick erneut über das Meer gleiten. Von hier aus kann sie gut beobachten wie sich das Wasser langsam hinter der Fähre wieder schließt. Ein oder zwei Kilometer später treibt es in seinem gewohnten Gang, als hätte das große Schiff sich nie seinen Weg hindurch gebahnt. Ihre alten Augen sind es müde zu sehen. Langsam schließen sie sich und sperren die Sonne, das Schiff und das Meer nach draußen. Beinahe unmerklich sinkt ihr Kinn zur Brust. Das Rauschen des Meeres übertönt mit einem Mal den Klang der Maschinen.

Donnerstag, 29. April 2010

Soldat!


Ein sonniger Vormittag im April. Ich gieße mir eine Tasse Tee ein, setze mich an meinen alten Küchentisch und schalte das Radio ein. Wärme mir meine Hände und genieße das Getränk in kleinen Schlucken. Die Nachrichten der Welt dringen an mein Ohr. Ich höre nur halb hin, gähne und habe Mühe meine Augen offen zu halten. Dann sagt der Sprecher etwas über vier Soldaten, die bei ihrem Auslandseinsatz ums Leben gekommen sind. Jetzt bin ich wach. Sofort habe ich wieder unsere alte Promenadenmischung vor Augen und erinnere mich an das Gespräch zwischen mir und meiner Mutter. Bilder einer Szene, die beinahe zwanzig Jahre zurückliegt. Ich schließe meine Augen, um mich besser an die einzelnen Details zu erinnern.

Erinnere mich an den Regen und darüber wie sehr ich verärgert über das Wetter war, weil ich wie jedes Jahr die ersten warmen und sonnigen Tage kaum erwarten konnte. Pünktlich zum Abendessen kam ich an jenem Tag nach Hause. Das Jahr war aber bereits soweit fortgeschritten, dass es trotz des Regens noch hell war. Ich spüre wieder dieses Flattern im Bauch, vor Aufregung. Das kaum erwarten können meinen Entschluss allen mitzuteilen.
„Ich werde mich verpflichten!“
Die Worte durchschnitten wie ein tödlicher Pfeil die ausgelassene Stimmung am Tisch. Mein Vater hielt im Kauen inne und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meine Mutter legte mitten im Essen Messer und Gabel zurück auf den Tisch und starrte von einem zum anderen.
„Was heißt das: 'Verpflichten'?“, wollte mein kleiner Bruder wissen.
Ich war befremdet von der, wie ich damals fand, seltsamen Reaktion meiner Eltern und froh wenigstens einem am Tisch unvoreingenommen von den Neuigkeiten erzählen zu können. Mein Vater lauschte schweigend den Erklärungen, die ich meinem Bruder gab. Erst als ich das Geräusch der Hundeleine hörte bemerkte ich, dass meine Mutter mitten im Essen aufgestanden war. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, unsere Promenadenmischung sprang schwanzwedelnd zur Tür. Ohne ein Wort ging sie raus in den Regen. Ich sah meinen Vater an, der zuckte wortlos mit den Schultern. Er griff nach dem Brotkorb und fing ein Gespräch mit meinem Bruder an. Kein Wort über meine Pläne oder seine Meinung dazu. Ich griff nach Schuhen und Jacke und folgte meiner Mutter in den Regen. Bei den Feldern hinter der Häuserlinie holte ich sie schließlich ein. Sie warf unserem Hund einen Stock.
„Hallo“, murmelte ich.
Sie nickte nur. Schweigend liefen wir bis zum Waldrand. Ich beobachtete den Hund, wie er immer wieder aufs Neue eifrig dem Stock hinterher lief. Dann verfing der sich weit oben in irgendwelchen Büschen. So hoch der Hund auch sprang, er konnte ihn nicht erreichen. Eben wollte ich losgehen, und ihn wieder runterschlagen als mich die Hand meiner Mutter zurückhielt. Ich wandte mich ihr zu. Ihr Blick streifte mich nur kurz, dann beobachtete sie wieder den Hund in seinem verzweifelten Versuch den Stock zurück zu holen.
„Warum willst Du Dich verpflichten?“
Ich lächelte. Endlich konnte ich erzählen!
„Nunja, wenn ich mich verpflichte, dann kann ich dort den Pilotenschein machen!“
„Wozu?“
„Wie bitte?“
„Wozu willst Du den Flugschein machen?“
Ihre Augen waren immer noch fest auf den Hund geheftet.
„Naja, so von wegen grenzenloser Freiheit und so ... So einen Flugschein könnte ich mir sonst nie leisten und es ist ein Supergefühl dort oben in einer kleinen Maschine!“
„Freiheit, aha … Du willst Dich also verpflichten um frei zu werden?“
„Mann! Nein, ich will mich verpflichten, um fliegen zu können!“
„Glaubst Du er bekommt den Stock?“
Einen Moment lang war ich verwirrt. Als ich den plötzlichen Themenwechsel verstand, wurde ich wütend.
„Was soll das?!?“
„Was meinst Du? Wenn ich vor einer tiefen Schlucht stünde und ihm den Stock hinunter werfen würde, würde er springen?“
Sie lies sich von meiner Wut nicht beeindrucken. Immer noch war ihr Blick fest auf unsere Promenadenmischung geheftet, der bellend vor dem Gebüsch auf und ab sprang. Sie ignorierte einfach was ich versuchte ihr zu erklären. Ich schnaupte hörbar durch die Nase und trat einen kleinen Stein den Weg entlang.
„Keine Ahnung, ist mir auch egal!“
Jetzt wandte sie plötzlich den Kopf zu mir. Ihre dunklen Augen fixierten meinen Blick. Sie sah mich ernst an.
„Was denkst Du? Würde er springen?“
Ich sah noch mal zu unserem Hund und beobachtete das jämmerliche Schauspiel. Als hätte er meinen Blick gespürt hielt er inne und drehte seinen Kopf in unsere Richtung. Meine Mutter ermunterte ihn mit ein paar Worten und sofort fuhr er mit noch größerem Eifer fort nach dem Stock zu springen.
„Wahrscheinlich schon, wenn Du ihn auffordern würdest. Aber warum solltest Du so was tun?“
„Er würde also wahrscheinlich in seinen sicheren Tod springen, wenn ich ihn dazu auffordern würde?“
„Ahm.“
„Und unser Kater?“
„Was ist mit ihm?“
„Würde der springen?“
Ich musste lachen bei der Vorstellung, dass irgendjemand unseren Kater dazu bringen wollte eine Schlucht hinunter zu springen wegen einem dämlichen Stock.
„Quatsch. Wieso sollte er?“
„Weil ich es von ihm verlangen würde?“
„Niemals. Der lässt sich von niemandem etwas vorschreiben. Er würde höchstens dem springenden Hund den Vogel zeigen und dann in der Küche nachsehen gehen, ob der wenigstens was von seinem Futter über gelassen hat, was er jetzt fressen könnte.“
„Was glaubst Du was für eine Haltung von einem guten Soldaten verlangt wird?“
„Wie meinst Du das?“
„Naja, sollte ein guter Soldat wie unser Hund seinen Befehlen folgen oder sollte er besser machen was er will, wie der Kater?“
„Blöder Vergleich! Natürlich soll ein Soldat Befehle einhalten, sonst würde ja Chaos ausbrechen. Aber er soll sicher auch mitdenken.“
„Ist das so? Ich habe keine Ahnung, war nie bei den Soldaten.“
Sie sah mich einen kurzen Moment mit einem seltsamen Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. Mich beschlich das Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte. Aber ehe ich reagieren konnte pfiff sie nach dem Hund und wandte sich zum Gehen. Ich folgte ihr und wollte eben das Gespräch fortsetzen. Da kam der Hund von hinten angelaufen und warf uns schwanzwedelnd den Ast vor die Füße. Ich drehte mich sofort zu dem Gebüsch um, konnte aber tatsächlich keinen Stock mehr oben hängen sehen. Noch heute frage ich mich wie der kleine Hund plötzlich dort hochgekommen sein will. Meine Mutter überprüfte nichts. Sie hob den Stock auf, tätschelte lächelnd seine Schulter und murmelte 'Mein guter Soldat!'.
In jener Nacht schlief ich schlecht. Hund und Kater gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie jagten sich in meinen Träumen und am Ende wusste niemand mehr, wer gewonnen hatte. Als ich am nächsten Morgen aufstand hatte ich meine Entscheidung getroffen.
Ich habe mich nicht verpflichtet. Habe auch nie meinen Pilotenschein gemacht. Bin ich deshalb weniger frei geworden? Ich weiß es nicht. Bekomme immer noch Sehnsucht, wenn ich kleine Maschinen am Himmel fliegen sehe. Meine Eltern schenkten mir zu meinem Geburtstag damals einen Rundflug mit einem Hubschrauber. Das war nett, aber es war nicht das Gleiche wie wenn ich selbst mit einer Maschine geflogen wäre. Ich denke sie wussten das, wollten mir aber wohl trotzdem eine kleine Freude machen. Habe mir überlegt Pilot zu werden. Aber die großen Urlaubsmaschinen zu fliegen ist einfach nicht das Gleiche Gefühl. Also hab ich es bleiben lassen.
Jetzt, wo ich diese Nachricht von den verstorbenen Soldaten höre, frage ich mich ob ich heute friedlich und gesund in meiner Küche sitzen würde hätte ich mich damals verpflichtet? Und wenn nicht, hätte es sich dann für das Gefühl grenzenloser Freiheit alleine in den Lüften in einer Maschine gelohnt? Ich denke nach. Ich weiß nicht wie lange. Im Hintergrund dudelt immer noch das Radio, jetzt mit nerviger Popmusik. Aber ich finde keine Antwort.

Donnerstag, 14. Januar 2010

Momentaufnahme


Sehe auf die Uhr. Bin müde – wie viele Stunden fahren wir jetzt eigentlich schon? Falte meine Jacke zu einem Knäuel zusammen und klemme sie zwischen die Scheibe und meinen Kopf. Richtig bequem ist das trotzdem nicht. Der Bus ruckelt und immer wieder schlägt mein Schädel hart gegen das Glas. Ich versuche dennoch meine Augen geschlossen zu halten. Konzentriere mich auf das Gemurmel meiner Teamkollegen, ohne wirklich hinzuhören. Warte darauf, dass der Schlaf sich endlich einstellt. Mein Hintern schmerzt vom langen Sitzen. Ich merke wie ich ungeduldig werde. Plötzlich zerreißt ein Geräusch die Luft. Es klingt wie zerspringendes Glas. Ich zucke zusammen. Etwas zischt an meinem linken Ohr vorbei. Im nächsten Moment höre ich einen Schrei. Drehe mich um.

Zwei Bänke hinter mir sitzt mein Kumpel. Mit verzerrten Gesicht presst er seine große Hand auf seinen rechten Arm. Zwischen seinen Fingern quillt eine rote Flüssigkeit hervor.
Blut!, schießt es mir durch den Kopf. Springe auf und bleibe wie angewurzelt stehen. Starre auf meinen Freund. Höre sein leises Stöhnen, will zu ihm hin laufen, bin unschlüssig. Das verzerrte Gesicht meines Freundes jagt einen Schauer über meinen Rücken.
„Deckung!“, ein lauter Ruf dringt durch den Bus.
Wer ist das? Ich bin verwirrt. Kenne doch die Stimmen meiner Teamkollegen. Jemand packt mich an der rechten Schulter und versucht mich auf den Boden zu zerren. Ich will mich wehren, die fremden Hände von mir wegreißen. Wieder ein Knall und ein Pfeifen. Plötzlich habe ich das Gefühl mein Körper wird in der Mitte zerrissen. Im Fallen spüre ich wie die Hände, die ich eben noch loswerden wollte, mich auffangen und langsam zu Boden gleiten lassen. Höre Stimmen durcheinander sprechen, spüre Finger, die nach mir greifen. Dann wird es still. Und dunkel. In der Stille höre ich Deine Stimme, meine Liebste. Du rufst nach mir. Ich will Dir antworten, aber es kommt kein Laut aus meinem Mund. Deine Stimme wird leiser und verschwindet langsam. Ich möchte Dich aufhalten und zurückrufen, habe aber weder Kontrolle zu sprechen noch mich zu bewegen. Gesichter ziehen an mir vorüber. Sie sehen mich aus stummen, ernsten Augen an. Ich kenne sie nicht. Suche nach Deinem Gesicht, kann es nicht finden. Bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich höre ich wieder die Stimmen meiner Teamkollegen. Spüre eine Hand auf meinem Gesicht. Mein linkes Augenlied öffnet sich ohne mein Zutun. Grelles Licht blendet mich. Ich versuche zu blinzeln. Mein Körper fühlt sich seltsam gefühllos an. Erkenne meinen Freund neben mir. An seinem rechten Arm trägt er eine weiße Binde mit einem tiefroten Fleck. Das Rot sieht seltsam aus, es passt nicht zu seinem grünen T-Shirt. Warum sagt ihm das niemand? Ich wundere mich. Du fällst mir wieder ein. Ich berühre seine Hand. Er sieht mich mit ernsten Augen stumm an.
„Geht es ihr gut?“, meine Stimme klingt seltsam fremd. Rau und tonlos – als gehöre sie überhaupt nicht zu mir.
Er nickt und drückt meine Hand fest. Ich lächle. Bevor mir meine Augen wieder zufallen sehe ich Tränen in seinen. Wieso weint er? Da fällt mir das Blut wieder ein. Sicher hat er Schmerzen. Aber warum hat er eigentlich geblutet? Ich will meine Augen wieder öffnen, um ihn zu fragen. Meine Lider sind so unglaublich schwer, bei aller Anstrengung ich bekomme sie nicht wieder auf. Mein ganzer Körper fühlt sich so schwer und müde an. Ich muss schlafen, nur ein wenig schlafen. Dann werde ich ihn fragen was hier eigentlich los ist und warum Du mich nicht gefunden hast. Ich bin so müde, ich könnte ewig schlafen. Habe das Gefühl in der Dunkelheit und Schwere zu zerfließen. Ich wehre mich nicht mehr, gebe einfach nach und lasse zu wie die Schwärze mich langsam ausfüllt. Verliere das Gefühl für Raum und Zeit. Wer bin ich? Lebe ich? Lache laut bei der Lächerlichkeit des Gedankens von Leben und Tod. Ich bin nichts. Ich bin alles. Ich bin schwarz. Ich bin schwer und doch unendlich leicht.