Donnerstag, 30. Juli 2009

Begegnung im Dunklen I


Nach fünf Metern hatte Janina die Alte Frau schon fast wieder vergessen. Lasses breites Grinsen, mit dem er ihr im Kinosaal die zehn Euro überreichte, war nach der kurzen Unterbrechung wieder aufgetaucht. Sie biss ihre Zähne zusammen. Ihre Kiefermuskulatur trat hervor, was ihr einen leicht trotzigen Gesichtsausdruck verlieh. Sie kniff ihre Augen zusammen und trat noch etwas kräftiger in die Pedale. Wortfetzen flogen durch ihren Kopf, unaufhörlich, aber ohne dass sie sie zu greifen bekäme oder stoppen hätte können:
Arschloch! Ich – nicht – Nein! Käuflich!?!
An der nächsten Abzweigung bog sie nach rechts ein. Mit einem Affenzahn raste sie um die Kurve und hatte Mühe ihr altes, klappriges Fahrrad auf der nassen Fahrbahn zu halten. Plötzlich spürte sie einen Ruck an ihrer rechten Schulter. Im nächsten Moment verlor sie die Kontrolle über das Rad. Mit einem lauten Knall landete sie auf der Straße. Durch den Schwung schlitterte sie noch ein ganzes Stück, ehe Stille eintrat.

Als sie sich langsam hochrappelte sah sie, dass ihre Strumpfhose einen Riesenschnitt hatte.
„Scheiße!“
„Bist Du verletzt?“, die Stimme tauchte völlig unerwartet neben ihr auf.
Verwirrt und leicht überfordert sah sie auf. Sie blickte direkt in zwei hellblaue Augen, die sie unter hochgezogenen Augenbrauen ansahen. Eine Hand fasste nach ihrer und zog sie das letzte Stück nach oben.
„Scheiße, Du blutest ja!“, mit einer schnellen Bewegung beugte sich der der Typ mit den blauen Augen zu ihrem Bein.
Sie folgte ihm mit ihrem Blick. Sie sah, wie sich am Rand des Risses ihre Strumpfhose dunkel verfärbte. Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und rot wie Blut. Woher kannte sie diesen Vergleich? Sie zog ihre Stirn in Falten.
„Hmm, sieht nur nach Schürfwunden aus. Tut es weh?“, der blonde Schopf wandte ihr wieder seinen Blick zu.
Sie starrte ihm in die Augen. Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Der Typ erhob sich wieder. Er griff nach ihrem Arm und rüttelte leicht:
„Sag, tut Dein Bein Dir weh? Oder irgendwas anderes?“
Mechanisch schüttelte sie ihren Kopf. Sie spürte gar nichts im Moment, außer der Kälte. Wieder fingen diese hellblauen Augen ihren Blick auf. Sie starrte in seine Augen und konnte ihren Blick nicht mehr abwenden.
„Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt! Rast um die Kurve – hättest mich beinahe umgefahren! Und ...“, mit einem breiten Grinsen rieb er sich seine rechte Schulter, „naja, wundert mich, dass Dir Deine Schulter nicht weh tut – war ein ganz schöner Rums!“
Janina starrte ihn an, hatte aber Mühe ihm zuzuhören. Sein Grinsen hatte etwas Verschmitztes. Immer noch hielt sie der Blick dieser blauen Augen. Lasse hat braune Augen – dunkel und warm. Der Gedanke war plötzlich da, sie wusste nicht wieso. Im nächsten Moment sah sie alles verschwommen. Das Bild von Lasses braunen Augen war wie eingebrannt in ihren Kopf. Auf der anderen Straßenseite hörte sie einen Hund bellen. Jemand pfiff.
„Was, was, was ist denn jetzt los?“, der Blondschopf lockerte leicht seinen Griff an ihrem Arm und trat von einem Bein auf das andere.
Janina fing an zu zittern. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Sie unterdrückte ein Schluchzen. Der Typ vor ihr sah sie mit großen Augen an. Ihr war so kalt. Vorsichtig klopfte er ihr auf die Schulter. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber sie hörte nicht was er sprach. Mit einer sanften Bewegung näherte sie sich ihm und legte vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter. Sie spürte, wie er einen kleinen Schritt zurückwich und seine Arme nach hinten nahm. Irgendetwas sagte er zu ihr. Sie schüttelte ihren Kopf und drückte sich fest an ihn. Langsam spürte sie wie er sanft seine Arme um ihren Oberkörper legte und ihr mit einer Hand beruhigend auf die Schulter klopfte. Sie hörte sein Murmeln und lächelte leise. Die Wärme seines Körpers tat gut. Sie schloss ihre Augen und dachte an Lasse. Sie stellte sich vor er würde sie hier so halten. Neue Tränen suchten sich ihren Weg über ihr Gesicht und sie drückte sich noch fester an diesen fremden Kerl mit seinen blauen Augen, von denen sie sich wünschte sie wären braun. Nach einer Weile drückte er sie sanft ein Stück von sich weg und blickte ihr wieder ins Gesicht.
„Was ist denn los?“, es war mehr ein Flüstern. Ein leichtes Zittern schwang in seiner Stimme mit.
Mit einer Hand strich er ihr sachte über ihr Gesicht und wischte eine ihrer Tränen weg. Janina schloss ihre Augen und spürte seiner Berührung nach. Sie öffnete ihre Augen wieder. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. Auf die Entfernung konnte sie in der Dunkelheit seine Augenfarbe nicht mehr erkennen. In Gedanken malte sie sie braun an. Mit einer Hand berührte sie seinen Hinterkopf und zog ihn langsam aber bestimmt auf sich zu. Als ihre Lippen seine berührten spürte sie wie sein ganzer Körper sich anspannte und sein Kopf ein kleines Stück zurückwich. Einen Augenblick später erwiderten seine Lippen ihre Berührung. Janina schloss ihre Augen und spürte der Wärme seines Körpers und der Feuchtigkeit seiner Lippen nach. Lasses Gesicht war jetzt ganz nah.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Fahrradunfall II


Constanze warf einen prüfenden Blick in ihre Handtasche während sie ihren Autoschlüssel langsam rausfischte. Dabei kam ihr ihr Handy zwischen die Finger. Sie schaute kurz auf das Display bevor sie es mit einem Seufzer wieder in ihre Tasche gleiten lies. Sie hatte Rainer doch schon vor fast vier Stunden eine Nachricht hinterlassen! Wieso war er eigentlich nicht ran gegangen? Sagte er nicht, dass er den Rest des Nachmittags mit dem Einkaufen von Weihnachtsgeschenken beschäftigt wäre? Tief atmete sie ein. Das war wiedermal so typisch für ihren kleinen Bruder! Nicht einmal die Hälfte von dem, was er einem erzählte konnte man glauben. Beim Quietschen einer Fahrradbremse zuckte sie zusammen. Schnell sah sie nach vorn. Ein dumpfer Schlag folgte dem Bremsgeräusch. Sie atmete aus, als sie feststellte, dass das Fahrrad noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war. Während sie sich langsam der Szenerie näherte zogen sich ihre Augenbrauen mehr und mehr zusammen. Unbemerkt ließen ihre Finger den Autoschlüssel wieder in die Tasche fallen.

Sie sah, wie eine kleine Gestalt mit einem dunklen, dreieckigen Kopftuch sich unsicher zur Seite beugte und mit ihrem Gleichgewicht rang. Etwas fiel ihr aus der Hand und sie stieß einen leisen Schrei aus. Constanzes Herz krampfte sich bei diesem Anblick zusammen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Die Radfahrerin, ein Mädchen, so um die zwanzig, dessen auffälligsten Kleidungsstücke eine weiße Wollstrumpfhose und ein oranger Schal waren, wendete ihr Fahrrad und wandte sich mit erhitztem Gesicht der Gestalt zu. Obwohl sie nur noch wenige Schritte entfernt war verstand Constanze nicht, was die junge Frau sagte. Aber sie sah, wie die kleine Gestalt zu zittern begann. Ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen, dunkelbrauner Faltenrock, braune Halbschuhe und graue Wolljacke, schien sie schon älter zu sein. Constanze legte ihr sanft ihre Hand auf die Schulter, während sie sich nach unten bückte, um den Gegenstand aufzuheben.
„Was ist denn hier los?“, die Frage schoss ihr aus dem Mund während sie noch die Schachtel beäugte, die sie soeben aus einer Pfütze gefischt hatte. Vogelfutter.
Als sie wieder stand sah sie der Gestalt ins Gesicht. Ohne Überraschung sah sie in das alte und faltige Gesicht einer Frau.
„Ist das Ihre?“, sie hielt ihr die Schachtel hin.
Die Frage war eigentlich sinnlos, Constanze hatte ja gesehen wie der Frau das Futter aus der Hand gefallen war. Aber deren Gesicht war so blass und die Augen immer noch weit aufgerissen, dass sie hoffte sie mit ihrer Frage irgendwie beruhigen zu können. Die Alte riss ihr die Tiernahrung so heftig aus der Hand, dass sie kurz zusammen zuckte. Automatisch tätschelte ihre Hand die Schulter der Alten. Constanze war sich nicht sicher, wen sie damit beruhigen wollte – sich selbst oder die alte Frau? Ihr Herz geriet für ein paar Schläge außer Takt, als sie beobachtete, wie diese mit zitternden Fingern die Schachtel prüfte und sie dann fest an ihre Brust drückte.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen!“, die junge Frau schob sich vor sie beide. Ihre Stimme hatte einen beschwichtigenden Tonfall.
Einen Moment lang starrte Constanze dem Mädchen direkt ins Gesicht. Was hatte sie denn mit ihren Augen gemacht? Völlig schwarz umrandet verlieh die Schminke den ansonsten sehr sanften Gesichtszügen etwas Hartes. Und der Lippenstift! Dunkelblau. Sah aus, als wären ihre Lippen nicht durchblutet. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen:
„Du kannst ja auch nicht einfach so den Fahrradweg entlangrasen...“
Tiefe Falten erschienen auf der Stirn der jungen Frau. Um ihren Mund verspannte sich die Haut für einige Augenblicke. Dann holte sie tief Luft:
„Hallo? Sie sagen es! Das hier ist ein Radweg. Wieso läuft die Frau ohne zu gucken einfach los? Dann ist sie auch noch total dunkel angezogen – wie hätte ich sie denn rechtzeitig sehen sollen?“
Einen Moment lang starrte Constanze wie gebannt in das Flackern dieser Augen, die für das pechschwarze Haar viel zu hell wirkten. Dann sah sie von dem Mädchen hin zu der alten Frau und zu sich selbst. Waren Schwarz oder dunkelbraun die Modefarben diesen Winters? Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht:
„Gut, dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Die Worte klangen versöhnlich, im ersten Augenblick starrte die junge Frau sie an. Plötzlich schien sie zu verstehen und erwiderte Constanzes Grinsen.
Nachdem sie sich ausführlich entschuldigt hatte und Constanze versprochen hatte sich um die alte Frau zu kümmern, schwang sich die junge Frau auf ihr Rad. Constanze sah ihr noch einige Augenblicke hinterher, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Mit langsamen Schritten begleitete sie die Alte auf die Mitte der Straße, zu der Haltestelle der Straßenbahn. Diese stützte beinahe ihr ganzes Gewicht auf Constanzes linke Seite. Die Hand der Alten, die fest ihren Arm umklammert hielt, zitterte noch immer. Sie beäugte die kleine Frau aus den Augenwinkeln. Ohne Unterlass presste diese das Vogelfutter an ihre Brust. Erleichtert atmete Constanze auf, als sie das Gewicht der Frau an die Bank abgeben konnte. Dort angekommen strich die Alte mit zitternden Fingern wieder über die Packung. Ein seltsamer Anblick war das. Da wurde sie von einer Fahrradfahrerin beinahe umgefahren und das Einzige, was sie zu kümmern schien, war diese Schachtel.
„Geht es wieder?“, irgendwie wirkte die Frau leicht verwirrt.
„Ja, ja vielen Dank...“, für einen kurzen Augenblick sah sie auf und lächelte Constanze zu.
„Haben Sie es weit?“
„Nur drei Haltestellen.“
Constanze überlegte einen Augenblick. Vielleicht stand die Frau ja unter Schock? Dann wäre es sicher nicht gut sie alleine hier auf der Bank sitzen zu lassen. Wer weiß, ob sie sich überhaupt orientieren konnte? Einen Moment lang überlegte sie die Alte nach dem Datum zu fragen. Aber dann hatte sie eine bessere Idee.
„Kommen Sie, ich fahr Sie schnell nach Hause. Bevor Sie noch länger hier in der Kälte auf die nächste Bahn warten müssen.“, sie bot der Alten erneut ihren Arm an und lächelte ihr zu.
Zögernd sah diese sie an.
„Sie haben doch bestimmt einen Schreck gekriegt, als die junge Frau Sie angefahren hat. Es macht mir keine Umstände, ich muss sowieso in diese Richtung.“, das war glatt gelogen.
Sie musste irgendwie seriös wirken. Sonst kam die Frau vielleicht noch auf den Gedanken, dass sie sie überfallen wollte. Das war nun wirklich nicht ihre Absicht. Sie alleine hier sitzen lassen, ging aber auch nicht. Wenn sie einen Krankenwagen rufen würde, dann würden die von der Rettungsstelle sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Die alte Frau schien ja völlig unverletzt.
„Aber nein, das ist doch nicht nötig...“
„Doch, doch! Kommen Sie die drei Stationen sind mit dem Auto ein Katzensprung!“, aufmunternd hackte sie sich bei der alten Frau unter.
Als diese mit langsamen Schritten wieder mit ihr die Straße überquerte bemerkte sie, dass sie ihr rechtes Bein leicht nachzog.
„Haben Sie sich verletzt?“, sie warf der Alten einen besorgten Blick zu.
„Nein, nein...“, diese schüttelte nur murmelnd ihren Kopf.
Dafür presste sie Packung Vogelfutter, wie einen Schatz, noch ein wenig fester an ihren Körper. Constanze seufzte leise.

Donnerstag, 2. Juli 2009

Fahrradunfall I


Gertrud schlürfte leicht gebückt aus dem Laden hinaus. Ihre Hand schloss sich fest um eine Pappschachtel, die sie an ihre Brust gedrückt hielt. So fest, dass man das Weiß ihrer Fingerknöchel sehen konnte. Mit der anderen zupfte sie ihr Kopftuch zurecht, als Schutz gegen den Nieselregen. Das Tuch hatte sie in Manier einer Bäuerin gebunden, auch wenn sie längst nicht mehr auf dem Feld arbeitete. Vor ein paar Jahren war sie auf das Anraten ihrer Kinder in eine kleine Wohnung in der Stadt gezogen. Das Einzige was ihr von Haus und Hof geblieben war war Hansi, ihr blauer Wellensittich.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als die Schachtel mit jedem Schritt leise klapperte. Sie hielt sie sich erneut vors Gesicht, vielleicht zum fünfzehntenmal seit die freundliche Verkäuferin sie ihr in die Hand gedrückt hatte.
„Die Vital-Nahrung, die Ihrem kleinen Liebling ein langes und unbeschwertes Leben garantiert!“
Sie blieb kurz stehen und schüttelte die Packung. Mit geschlossenen Augen lauschte sie auf das Geräusch. Das Lächeln lag immer noch auf ihren Lippen und lies ihr Gesicht strahlen. Das Klappern verklang, sie drückte die Pappschachtel wieder fest gegen ihre Brust und setzte sich in Bewegung. Langsam, denn ihre Füße fanden kaum sicheren Halt auf den vom Regen durchnässten Pflastersteinen. Ihre Beine zitterten bei jedem Schritt. Dennoch benutzte sie keinen Gehstock. Sie lief über den Parkplatz und wollte eben auf den Gehweg einbiegen. Etwas streifte sie hart an ihrem linken Arm. Sie stieß einen leisen Schrei aus, geriet ins Stolpern, machte hastig einige Schritte zur Seite bevor sie wieder zum Stehen kam. Ihr rechter Fuß knickte leicht um. Ein stechender Schmerz, schoss ihr Bein hinauf. Sie beugte sich hinunter. Dabei glitt ihr die Schachtel aus den Händen. Mit großen Augen beobachtete sie, wie die Pappe in einer Pfütze Wasser landete und sich sehr schnell mit Wasser voll sog. Ein zweiter Schrei entfuhr ihr und sie streckte ihre Hand nach dem Futter aus.
„Mensch, Sie müssen schon aufpassen, wenn Sie auf den Gehweg einbiegen!“, es war eine sehr junge Stimme, die neben ihr erklang.
Aber Gertrud achtete nicht weiter auf die Stimme. Vielmehr versuchte sie die Pappschachtel zu Greifen zu bekommen, bevor sie sich gänzlich auflöste.
„Was ist denn hier los?“, Schritte von hinten und erneut die Stimme einer Frau, aber deutlich älter als die erste.
Eine Hand berührte Gertrud an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Im Augenwinkel sah sie wie eine Frau mit langem, blondem Haar im dunklen Kostüm sich neben ihr hin kniete und die Futterschachtel aus der Pfütze fischte.
„Ist das Ihre?“, die Frau sah sie an und hielt ihr die Schachtel hin.
Gertrud nickte, riss ihr fast das Futter aus den Händen und drückte es fest gegen ihre Brust. Die Frau lächelte ihr zu.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen...“, ein Mädchen schob sich vor die Beiden.
Gertrud zuckte zusammen, als sie in das Gesicht des Mädchens blickte. Ihre Augen waren dunkel umrandet, sie sah aus wie eine Teufelin! Zitternd drückte sie sich an die blonde Frau. Diese legte sanft ihren Arm um sie.
„Trotzdem musst Du Dich umsehen und kannst nicht einfach so den Fahrradweg entlang rasen!“
„Hallo? Genau wie Sie sagen, dass hier ist der Fahrradweg. Wie soll ich bitte damit rechnen, dass mir plötzlich die alte Frau vors Rad läuft? Und dann ist sie auch noch total dunkel angezogen.“
Die andere musterte das Mädchen von oben bis unten:
„Ja, gut dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Ein Lächeln sprang zwischen dem Mädchen und der Frau hin und her. Schließlich streckte das Mädchen ihre Hand zu Gertrud:
„Ey, tut mir wirklich leid! Ich hab Sie echt nicht gesehen. Haben sie sich wehgetan?“
Gertrud schüttelte schnell ihren Kopf und wich noch ein Stück mehr in den Arm der blonden Frau. Diese schaute sie prüfend an, bevor sie sich wieder an das Mädchen wandte:
„Ich kümmere mich um die Dame. Denke Du kannst weiter fahren.“
„Meinen Sie echt?“
Die Frau nickte, das Mädchen zuckte mit den Schultern und blickte noch einmal zu Gertrud:
„Okay, also es tut mir leid und ich hoffe Sie sind nicht zu sehr erschrocken. Aber Sie haben mir auch einen Riesenschreck eingejagt!“
Gertrud nickte nur. Das Mädchen streckte ihr erneut ihre Hand hin. Nachdem sie sie nicht ergriff, zuckte sie mit den Schultern, murmelte einen Gruß und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.
„Müssen Sie mit der Bahn fahren?“
Gertrud sah zu der blonden Frau und nickte erneut.
„Kommen Sie, ich begleite Sie rüber zur Haltestelle, dann können Sie sich auf die Bank setzten, okay?“
Als sie gemeinsam die Straße überquerten spürte sie wieder das Stechen in ihrem Bein. Ihr Herz klopfte ihr noch immer bis zum Hals, aber der Arm der Frau hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Auf der Bank angekommen betrachtete sie eingehend die Futterschachtel. Hoffentlich hatte das Futter keinen Schaden genommen!
„Gehts wieder?“
„Ja, ja, vielen Dank...“, es war nicht mehr als ein leises Flüstern, was über Gertruds Lippen kam.
Trotzdem lächelte sie der blonden Frau zu, während sie mit einer Hand über die feuchte aber unversehrte Pappschachtel strich.