Donnerstag, 14. Januar 2010

Momentaufnahme


Sehe auf die Uhr. Bin müde – wie viele Stunden fahren wir jetzt eigentlich schon? Falte meine Jacke zu einem Knäuel zusammen und klemme sie zwischen die Scheibe und meinen Kopf. Richtig bequem ist das trotzdem nicht. Der Bus ruckelt und immer wieder schlägt mein Schädel hart gegen das Glas. Ich versuche dennoch meine Augen geschlossen zu halten. Konzentriere mich auf das Gemurmel meiner Teamkollegen, ohne wirklich hinzuhören. Warte darauf, dass der Schlaf sich endlich einstellt. Mein Hintern schmerzt vom langen Sitzen. Ich merke wie ich ungeduldig werde. Plötzlich zerreißt ein Geräusch die Luft. Es klingt wie zerspringendes Glas. Ich zucke zusammen. Etwas zischt an meinem linken Ohr vorbei. Im nächsten Moment höre ich einen Schrei. Drehe mich um.

Zwei Bänke hinter mir sitzt mein Kumpel. Mit verzerrten Gesicht presst er seine große Hand auf seinen rechten Arm. Zwischen seinen Fingern quillt eine rote Flüssigkeit hervor.
Blut!, schießt es mir durch den Kopf. Springe auf und bleibe wie angewurzelt stehen. Starre auf meinen Freund. Höre sein leises Stöhnen, will zu ihm hin laufen, bin unschlüssig. Das verzerrte Gesicht meines Freundes jagt einen Schauer über meinen Rücken.
„Deckung!“, ein lauter Ruf dringt durch den Bus.
Wer ist das? Ich bin verwirrt. Kenne doch die Stimmen meiner Teamkollegen. Jemand packt mich an der rechten Schulter und versucht mich auf den Boden zu zerren. Ich will mich wehren, die fremden Hände von mir wegreißen. Wieder ein Knall und ein Pfeifen. Plötzlich habe ich das Gefühl mein Körper wird in der Mitte zerrissen. Im Fallen spüre ich wie die Hände, die ich eben noch loswerden wollte, mich auffangen und langsam zu Boden gleiten lassen. Höre Stimmen durcheinander sprechen, spüre Finger, die nach mir greifen. Dann wird es still. Und dunkel. In der Stille höre ich Deine Stimme, meine Liebste. Du rufst nach mir. Ich will Dir antworten, aber es kommt kein Laut aus meinem Mund. Deine Stimme wird leiser und verschwindet langsam. Ich möchte Dich aufhalten und zurückrufen, habe aber weder Kontrolle zu sprechen noch mich zu bewegen. Gesichter ziehen an mir vorüber. Sie sehen mich aus stummen, ernsten Augen an. Ich kenne sie nicht. Suche nach Deinem Gesicht, kann es nicht finden. Bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich höre ich wieder die Stimmen meiner Teamkollegen. Spüre eine Hand auf meinem Gesicht. Mein linkes Augenlied öffnet sich ohne mein Zutun. Grelles Licht blendet mich. Ich versuche zu blinzeln. Mein Körper fühlt sich seltsam gefühllos an. Erkenne meinen Freund neben mir. An seinem rechten Arm trägt er eine weiße Binde mit einem tiefroten Fleck. Das Rot sieht seltsam aus, es passt nicht zu seinem grünen T-Shirt. Warum sagt ihm das niemand? Ich wundere mich. Du fällst mir wieder ein. Ich berühre seine Hand. Er sieht mich mit ernsten Augen stumm an.
„Geht es ihr gut?“, meine Stimme klingt seltsam fremd. Rau und tonlos – als gehöre sie überhaupt nicht zu mir.
Er nickt und drückt meine Hand fest. Ich lächle. Bevor mir meine Augen wieder zufallen sehe ich Tränen in seinen. Wieso weint er? Da fällt mir das Blut wieder ein. Sicher hat er Schmerzen. Aber warum hat er eigentlich geblutet? Ich will meine Augen wieder öffnen, um ihn zu fragen. Meine Lider sind so unglaublich schwer, bei aller Anstrengung ich bekomme sie nicht wieder auf. Mein ganzer Körper fühlt sich so schwer und müde an. Ich muss schlafen, nur ein wenig schlafen. Dann werde ich ihn fragen was hier eigentlich los ist und warum Du mich nicht gefunden hast. Ich bin so müde, ich könnte ewig schlafen. Habe das Gefühl in der Dunkelheit und Schwere zu zerfließen. Ich wehre mich nicht mehr, gebe einfach nach und lasse zu wie die Schwärze mich langsam ausfüllt. Verliere das Gefühl für Raum und Zeit. Wer bin ich? Lebe ich? Lache laut bei der Lächerlichkeit des Gedankens von Leben und Tod. Ich bin nichts. Ich bin alles. Ich bin schwarz. Ich bin schwer und doch unendlich leicht.