Donnerstag, 2. April 2009

Im Regen II


Karl-Heinz griff zum Lautstärkeregler seines Autoradios und drehte die Musik lauter. Eigentlich war das ja nicht seine Art, aber der Regen, die Dunkelheit und das Lied aus dem Radio weckten alte Erinnerungen. Die Vergangenheit strich ihn mit ihrem kalten Flügel und ließ einen bittersüßen Geschmack von Wehmut und Sehnsucht zurück. Überwältigt von diesem Gefühl schloss er die Augen. Nur einen kurzen Augenblick. Als er sie wieder öffnete blieb ihm das Herz beinahe stehen. Ein junger Mann lief direkt vor sein Auto. Er war so überrascht, dass er zu keinem klaren Gedanken fähig war. Glücklicherweise übernahmen andere Hirnregionen die Steuerung. Automatisch trat sein rechter Fuß auf das Bremspedal, die Reifen blockierten. Wie durch einen Nebel nahm er wahr wie das Auto über die regennasse Fahrbahn immer näher an den jungen Mann heran rutschte. Das Bild von spritzendem Blut auf seiner Windschutzscheibe stand ihm vor Augen. Er kniff sie zusammen und hielt den Atem an. Der Gedanke an Tobias, seinen Sohn, schoss ihm durch den Kopf. Im letzten Augenblick kam das Auto vor den Füßen des jungen Mannes zum Stehen. Mit klopfendem Herzen, nicht zu einem klaren Gedanken fähig, beobachtete er wie der weiter lief. Als sei nichts geschehen. Als hätte er nicht eben sein Leben riskiert.

Er saß wie erstarrt mit offenem Mund in seinen Sitz gepresst. Sein Atem ging heftig. Der junge Mann war bereits auf der anderen Seite der Fahrbahn angekommen und lief weiter ohne sich umzusehen. Seine Hand fasste den Türgriff und er sprang mit einem Satz aus dem Auto.
„Hast Du keine Augen im Kopf?!?“, sein Brüllen verhallte in der Dunkelheit ohne jegliche Reaktion.
Mit weit aufgerissenen Augen, immer noch schwer atmend, starrte er auf den Rücken des Jungen, der sich langsam in der Dunkelheit verlor. Er hätte tot sein können! Stand er unter Drogen oder warum reagierte er überhaupt nicht? Tobias Gesicht war plötzlich wieder da – blutverschmiert, mit leerem Blick. Er stöhnte auf, senkte den Kopf und schlug sich mit einer Hand an die Stirn. So verharrte er einen Moment mit geschlossenen Augen, die Hand fest auf die Lider gepresst. Als er wieder auf sah war der junge Mann verschwunden. Den Kopf in alle Richtungen drehend sah er sich um. Bei der Straßenbahnhaltestelle in der Mitte der Straße stand ein junges Mädchen mit einem Kinderwagen. Sie starrte ihn an. Bestimmt hatte sie alles gesehen. Mit ihrem erstarrten Gesicht wirkte sie ebenso fassungslos wie er selbst es war. Plötzlich hörte er das Quietschen von Reifen hinter sich. Noch ehe er sich umdrehen konnte ertönte ein lauter Knall und sein Wagen schoss nach Vorne. Es gelang ihm gerade noch zur Seite zu springen, fast wäre sein Fuß von den Hinterrädern überrollt worden. Erstarrt sah er sich um. Sein Blick war leer. Er brauchte einige Augenblicke um zu realisieren, dass eben ein anderes Auto auf sein eigenes geknallt war. Verdammt! Das gibt es doch nicht! Waren heute Abend nur Idioten auf der Straße? Er rannte nach hinten, um sich das Ausmaß des Schadens anzusehen. Schweiß stand ihm auf der Stirn, er vergaß zu atmen.
„Sie Idiot! Sind Sie zu dumm zum bremsen? Jetzt schaun Sie sich doch nur die Bescherung an! Unglaublich! Der Kofferraum ist hinüber!“, die Worte sprudelten aus ihm heraus. Er merkte wie seine Stimme sich überschlug und spürte ein Zittern am ganzen Körper.
Er war angespannt und hatte Mühe sich zu beherrschen. Sein Unfallgegner war bestimmt zwanzig Jahre jünger als er selbst. Er hatte ein ernstes aber sehr ruhiges Gesicht und berührte ihn leicht am Arm mit seiner Hand. Versuchte beschwichtigen auf ihn einzureden.
„Nehmen Sie ihre Hände weg!“, Karl-Heinz riss seinen Arm nach hinten.
Wieder wandte er den Kopf. Sein Herz machte einen kurzen Satz, als er das Mädchen noch drüben bei der Straßenbahnhaltestelle stehen sah. Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete sie die ganze Szenerie und rüttelte dabei rhythmisch am Griff des Kinderwagens. Ohne zu denken ging er auf sie zu. Fast schon rennend. Er sah wie sie einen kleinen Schritt zurückwich und ihren Kopf nach hinten schob. Ihre eine Hand lag immer noch auf dem Griff des Kinderwagen. Das Schütteln hatte sie jetzt allerdings eingestellt. Er griff nach ihrem freien Arm.
„Ey!“, sie riss sich mit einer heftigen Bewegung von ihm los.
Er lies sich nicht davon irritieren und fasste erneut nach ihrem Arm:
„Du hast alles gesehen! Du bleibst hier als Zeuge, bis die Polizei kommt!“
Er spürte eine Berührung auf seiner Schulter. Mit einer schnellen Drehung sah er sich wieder seinem Unfallgegner gegenüber. Einen Moment sah es so aus als würde er den Schwung der Drehung nutzen, um zuzuschlagen. Dann blieb seine Faust in der Luft stehen und sank nach unten. Ganz langsam.
„Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal und zerren Sie nicht so an dem Mädchen herum!“, die Stimme klang ruhig, die Augen versuchten seinen unruhigen Blick einzufangen.
Mit halben Ohr bekam er mit, wie das Mädchen sich darüber beschwerte als Mädchen bezeichnet zu werden, aber er hörte nicht mehr richtig hin. Sein Blick ging an dem Anderen vorbei zu dessen Auto. Dort stand eine Frau. Sie hatte die Tür zur Rücksitzbank aufgemacht und sprach mit zwei Kindern. Das Gesicht des kleinen Tobias tauchte aus den Tiefen seiner Erinnerung auf. Ein strahlendes Kindergesicht mit glucksendem Lachen und hellblauen, großen Augen, die einen erwartungsvoll ansahen und die Welt sehen wollten. Wie lange war es her, dass ihn diese Augen so angesehen hatten? Tage? Monate? Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Seine Lippen zitterten als er den glasig gewordenen Blick zu Boden senkte. Die Stimmen der anderen Beiden drangen wieder an sein Ohr. Er hob den Blick wieder, seine Stimme zitterte kaum merklich:
„Jedenfalls bleibt sie als Zeugin!“
Das Mädchen hatte inzwischen das Baby fest an ihre Brust gepresst.
„Scheiße! Ich muss nach Hause ins Trockene, sonst holt sich die Kleine hier noch den Tod!“
Er warf einen schnellen Blick von ihr zu seinem Unfallgegner.
„Halt! Das geht jetzt nicht – Sie müssen warten bis die Polizei da ist!“, seine Stimme klang jetzt sehr bestimmt.
„Einen Scheiß muss ich! Wenn Sie mich jetzt nicht sofort in Ruhe lassen zeige ich Sie wegen Körperverletzung an!“
Er starrte sie mit offenen Mund an. Waren denn alle verrückt geworden? Wieso schnauzte sie ihn so an? Hatte sie keinen Respekt? Seine Hand zitterte als er sich vorstellte, dass er ihr eine Ohrfeige geben würde, um sie zur Vernunft zu bringen.
Er beugte seinen Oberkörper leicht in ihre Richtung und spürte wie sie wieder ein Stückchen zurückwich. Große Schnauze, aber nichts dahinter. Sein Unfallgegner mischte sich ein. Gut, sollte der sich die Adresse geben lassen. War eigentlich egal. Der der auffährt hat ja eigentlich immer Schuld. Er sah, wie sich hinter ihren beiden Autos bereits eine lange Schlange von Blechkarossen gebildet hatte. Vielleicht war es nicht schlecht, wenn sie die Fahrbahn frei machen würden bis die Polizei käme. Wenn nicht die Straßenbahnhaltestelle gewesen wäre, hätten sie einfach um den Unfall herum fahren können – aber so?
Im Auto bemerkte er dass seine Anzugjacke durchnässt vom Regen war. Seine Hände waren eiskalt. Das Mädchen überquerte die Straße vor ihm, als er den Motor an ließ. Er starrte auf den Kinderwagen. Wie alt war Tobias heute? Einen Moment lang hielt er den Atem an. Durfte er daran überhaupt denken?
Später beantwortete er mechanisch die Fragen der Polizei. Die Beamten fragten ihn, ob sie ihn nach Hause bringen sollten, er sei so blass. Wozu? – antwortete er und stieg in sein Auto, um in die Werkstatt zu fahren. Ob Tobias heute immer noch so lachen würde?, schoss es ihm durch den Kopf, als der Motor stotternd wieder zum Leben erwachte. Er schloss einen Moment die Augen, atmete tief durch. Dann setzte er den Blinker und fuhr los. Langsam, ganz langsam.

1 Kommentar:

  1. Wunderschönen guten Morgen!
    Ich hoffe die etwas melodramatisch ausgefallene Geschichte verdirbt euch nicht die gute Frühjahrs-Laune!

    Grüße

    Kryps

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