Montag, 30. März 2009

Im Regen I


Die Straßenbahn war längst um die nächste Kurve gefahren, aber Marie stand immer noch wie angewurzelt im Regen. Ein Tropfen lief ihr über das kurze Haar in den Nacken. Sie schüttelte sich und zog ihre Kapuze über. Das Schreien aus dem Kinderwagen war inzwischen etwas leiser geworden. Dennoch dröhnte es ihr immer noch unangenehm in den Ohren.
„Wenn Du nicht still bist, lass ich Dich hier stehen!“

Der kleine Wurm im Inneren des Wagens ließ sich von der Drohung nicht beeindrucken. Er krähte einfach weiter. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Sie berührte ihren linken Oberarm, der immer noch leicht schmerzte. Was war mit dem Kerl eigentlich los gewesen? Ist aus der Bahn gerannt als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Das Quietschen von Bremsen und die Hupe eines Autos zerrissen plötzlich die abendliche Stille. Als sie herum fuhr sah sie wie dieser Kerl einfach so über die Straße marschierte, als würde sie ihm alleine gehören. Er hob nicht einmal den Kopf, als das Auto nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen zum Stehen kam. Der Fahrer, ein Mann im Anzug so zwischen vierzig und fünfzig, riss seine Tür auf und sprang aus dem Auto.
„Hast Du keine Augen im Kopf?!?“, er brüllte, aber der Angebrüllte schien ihn nicht zu hören sondern lief einfach weiter.
Der Mann stand da und starrte mit offenen Mund. Er wirkte irgendwie hilflos als er ihrem Blick begegnete. Sie versuchte ein schiefes Lächeln und zog ihre Schultern kurz nach oben. Ein weiteres Quietschen, dann ein lauter Knall. Mit aufgerissenen Augen beobachtete sie wie der Wagen des Mannes sich einige Meter nach vorne bewegte. Einen Augenblick hielt sie die Luft an. Aus der Ferne drang das Schreien des Babys an ihr Ohr. Mechanisch schüttelte sie wieder den Griff des Wagens. Ein zweiter Mann, allerdings deutlich jünger, stieg aus dem Auto, welches in den Wagen des Mannes geknallt war. Aus der Beifahrertür stieg eine Frau, Anfang dreißig. Der ältere Mann war inzwischen um sein Auto gerannt und brüllte den jüngeren an. Der versuchte diesen mit einer Handbewegung zu beschwichtigen. Marie sah wie die Frau die hintere Tür aufmachte und mit zwei Mädchen auf der Rücksitzbank sprach. Der ältere Mann kam mit hochrotem Kopf auf Marie zu und packte sie am Arm, genau an der Stelle an der der blonde Kerl sie angerempelt hatte.
„Ey!“, mit einer heftigen Bewegung riss sie sich los und machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Du hast alles gesehen! Du bleibst hier als Zeuge, bis die Polizei kommt!“, er versuchte erneut sie zu packen. Zum Glück kam der jüngere Mann hinzu.
„Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal und zerren Sie nicht so an dem Mädchen herum!“
Marie schnaubte. Mädchen! Das sie nicht lachte! Sie wusste, dass sie mit ihrer Stupsnase und den großen Augen immer wesentlich jünger geschätzt wurde, als sie war. Aber seit sie den Kinderwagen vor sich her schob war sie von niemanden mehr als Mädchen bezeichnet worden. Sie registrierte plötzlich, dass das Kleine immer noch laut brüllte, nahm mechanisch das schreiende Bündel aus dem Wagen und drückte es fest an ihre Brust. Es war warm und weich. Die Berührung beruhigte ihren Herzschlag.
„Ich weiß nicht von welchem Mädchen Sie sprechen!“, sie hob ihre Nasenspitze und blitzte die beiden Männer an.
Der jüngere lächelte und nickte ihr zu:
„Oh, Verzeihung! Ich meinte selbstverständlich die junge Dame.“
Marie lies sich nicht dazu herab sein Lächeln zu erwidern, aber sie nickte ihm zu.
„Jedenfalls bleibt sie als Zeugin!“, der Ältere mischte sich wieder ein. Das stille Übereinkommen zwischen seinem Unfallgegner und ihr schien ihm nicht zu behagen.
Mit Erleichterung stellte sie fest, dass das Baby sich langsam beruhigte. Der Strampelanzug wurde feucht vom Regen.
„Scheiße!“, schnell legte sie das Kleine wieder in den Wagen und packte es fest ein. Ein Niesen aus dem Inneren lies ihr kurz den Atem stocken.
„Ich muss nach Hause ins Trockene, sonst holt sich die Kleine hier noch den Tod!“
Mit festem Griff umfasste sie den Kinderwagen und wollte ihn eben an den beiden Männern vorbei schieben.
„Halt! Das geht jetzt nicht – Sie müssen warten bis die Polizei da ist!“
„Einen Scheiß muss ich! Wenn Sie mich jetzt nicht sofort in Ruhe lassen zeige ich Sie wegen Körperverletzung an!“
Der Angeschriene starrte sie mit offenem Mund an.
„Aber...“
„Die junge Frau hat Recht, das Baby sollte wirklich nicht so lange in der Kälte bleiben. Geben Sie uns doch einfach Ihre Adresse, dann kann die Polizei sich bei Ihnen melden, wenn noch Fragen oder Unklarheiten aufgetaucht sind. Beziehungsweise wir können Ihre Daten an unsere Versicherungen weiterleiten.“, die Stimme des Jüngeren klang sehr freundlich.
Marie bemerkte, wie er versuchte zu vermitteln. Sie hatte kein Interesse daran in diesen Unfall mit hineingezogen zu werden. Sollten sie doch nach dem blonden Kerl suchen!
„Ich habe überhaupt nichts gesehen...“
„Natürlich! Sie standen doch da!“, der Ältere hob die Hand, schien es sich dann aber doch im letzten Moment anders zu überlegen, als er ihrem Blick begegnete und lies sie wieder fallen.
Der Andere hielt ihr Papier und Stift unter die Nase, zog aufmunternd die Augenbrauen nach oben und lächelte.
„Schreiben Sie sie doch einfach hier auf mit Telefonnummer.“, an den Älteren gewandt, „wir müssen die Straße räumen.“
Mittlerweile hatte sich schon eine Schlange von Autos gesammelt. Einige hupten ungeduldig. Marie seufzte und kritzelte etwas auf das Papier. In der Ferne waren Sirenen zu hören. Sie hoffte inständig, dass das nicht die Polizei für diesen Unfall sein möge. Sie faltete das Papier sorgfältig und drückte es mit einem Lächeln dem jüngeren Mann in die Hand. Dieser nickte ihr zu und steckte den Zettel ungesehen in seine Tasche. Sie murmelte etwas und setzte sich mit einem schnellen Schritt in Bewegung.
Wie gut, dass er den Zettel erst später auspacken wird, dachte sie still bei sich. Leise summend, mit einem Lächeln auf den Lippen überquerte sie die Straße. Plötzlich stutze sie. Stand dort vorne an der Ecke nicht der blonde Kerl? Einen Moment zögerte sie, drehte sich noch einmal zu den beiden Männern um, die mittlerweile in ihre Autos eingestiegen waren und diese mit Warnblinker an den Straßenrand fuhren. Dann schien sie es sich anders zu überlegen. Achselzuckend wandte sie sich wieder nach Vorne. Mit festem Schritt lief sie auf den blonden Kerl zu.

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