Montag, 16. März 2009

In der Straßenbahn I


Bernd stolperte beim Einstieg in die Straßenbahn. Um ein Haar wäre ihm sein Koffer aus der Hand gerutscht. Mit seiner freien Hand gelang es ihm gerade noch sich abzufangen. Obwohl er durch das Stolpern gezwungen wurde seinen Blick wieder auf seine Füße zu richten, stand ihm das Bild des Alten immer noch direkt vor Augen. Wie er langsam schlurfend und kopfschüttelnd zwischen den Bäumen verschwand. Plötzlich war da wieder dieser Blick. Diese zunächst ganz trüben und verwässerten, blauen Augen, die so ohne Vorwarnung im nächsten Moment aufblitzten. Ein Zittern lief durch seinen Körper als er erneut den tiefen Blick spürte.
„Sag, was sollte das? Seit wann verteilst Du Dein Geld an irgendwelche Penner?“, Lasses dunkle Augen starrten ihn durchdringend an, aber sein Blick drang nicht annähernd so tief in ihn, wie der des Alten.

Ächzend stellte er seinen Koffer neben den Sitzen ab und lies sich mit einem lauten Schnaufen in den Sitz plumpsen. Er erwiderte Lasses Blick mit ernster Miene. Suchte nach Worten, um seinem Freund zu erklären, holte Luft, zögerte und lies die Luft tonlos wieder ausströmen. Lasse zog die Augenbrauen hoch. Es war wie eine stumme Aufforderung. Bernd seufzte, zuckte mit den Schultern, schaute auf seine Schuhe während er erneut nach Worten suchte. Mit einem Mal blickte er wieder auf:
„Der Alte war heute schon bei meiner Show dabei. Also warum sollte ich mich bei meinem treuen Publikum nicht revanchieren?“
Lasse starrte ihn mit offenem Mund einen Moment lang an. Im nächsten Moment lachten sie beide laut auf.
„Nicht echt, oder?“
„Doch, wenn ichs Dir sage!“
Lasse wischte sich mit dem Ärmel seines Trenchcoats Tränen fort. Beide schnappten sie nach Luft und versuchten sich wieder zu beruhigen, bevor sich ihre Blicke erneut trafen und sie wieder losprusteten. Die Bahn setzte sich mit einem lauten Ächzen in Bewegung. Endlich beruhigte Bernd sich wieder.
„Wer war eigentlich das Mädel, mit der Du heute unterwegs warst?“
„Meinst Du die mit der seltsamen Mütze?“
Bernd zog seine Augenbrauen zusammen: „Lasse, willst Du mich verarschen? Du bist nur mit einem Mädel heute bei mir vorbeigelaufen. Also was solls? Keine Ahnung mehr, ob sie ne Mütze aufhatte oder nicht. Jedenfalls bist Du ihr wie ein Dackel gefolgt und hättest beinahe Deinen besten Kumpel übersehen!“
Betont echauffiert nahm er seine Nase nach oben und betrachtete Lasse von oben herab aus zusammengekniffenen Augen. Der sollte nur nicht denken, dass er sich so leicht abspeisen lassen würde! Er kannte seinen Freund und wusste, dass er immer versuchte nicht greifbar zu sein und alle Welt über seine Frauengeschichten im Dunkeln tappen lies. Vornehmlich natürlich die Damenwelt. Doch Bernd wollte ihn jetzt nicht so leicht davon kommen lassen. Der sollte sich schon einen guten Grund einfallen lassen, warum er seine Show links liegen gelassen hatte.
„Achso, DIE meinst Du.“, Lasse zwinkerte ihm zu und schien sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen zu können. Er grummelte, musste sich allerdings konzentrieren, um sich nicht wieder von Lasse anstecken zu lassen. Auffordernd zog er seine Augenbrauen nach oben und lies ihn mit schief gelegten Kopf nicht mehr aus den Augen.
„Okay, okay...“, Lasse atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor er endlich auspackte. „Ich kenn sie von diesem seltsamen Soziologieseminar. Du weißt schon, dass was ich mir unbedingt mal anhören wollte. Wegen dem Experiment, das der Professor dort durchführt. War echt seltsam, die haben tatsächlich alle da mitgemacht...“
Während Lasse sprach lies Bernd seinen Blick über die Schulter seines Freundes schweifen. Einige Sitze weiter saß ein Kerl mit kurzem, blonden Haar, der Lasse unentwegt auf den Rücken starrte. Als er Bernds Blick bemerkte, schaute er aus dem Fenster in die Dunkelheit hinein. Bernd wurde das Gefühl nicht los, dass er seinen Freund weiter über die Spiegelung des Fensters beobachtete.
„Der Kerl dort hinten glotzt Dich die ganze Zeit an. Ist der schwul, oder was?“
Lasse warf einen schnellen Blick über die Schulter. Als er sich wieder umdrehte hielt er mit Mühe ein Lachen zurück.
„Das ist der Lover von Agnes.“
„Echt?“, Bernd inspizierte den Kerl mit gerunzelter Stirn. „Woher weißt Du?“
„Quatsch, keine Ahnung wer er ist. Aber er scheint Geschmack zu haben, findest Du nicht?“, Lasse strich sich über sein Haar, schaute Bernd von unten herauf an und zwinkerte ihm mit geschürzten Lippen zu.
„Idiot!“, Bernd schlug ihn mit der flachen Hand auf das Knie, bevor sie beide in ein schallendes Gelächter ausbrachen.
„Die Fahrscheine bitte.“
Ein Herr mittleren Alters mit Schnauzbart schwang sich von einem Sitz im vorderen Bereich der Bahn auf und schlenderte mit wichtiger Miene den Gang entlang. Auch im hinteren Bereich war eine Gestalt aufgestanden. Doch sie war eine Frau, auch mittleren Alters mit einer kleinen Brille aus Silbergestell. Bernd kramte nach seiner Monatskarte. Die Frau war mittlerweile bei dem blonden Kerl angekommen, der mit hochrotem Kopf in seinen Taschen wühlte. Sie zückte Papier und Stift:
„Wenn Sie keine Fahrkarte haben, dann geben Sie mir doch bitte Ihre Personalien.“
„Doch, hab ich, irgendwo muss mein Studentenausweis sein. Warten Sie.“, er begann den gesamten Inhalt seiner Tasche auf dem Sitz neben sich auszubreiten.
„Mensch Bastian, hab Dich ja gar nicht bemerkt!“, Bernd zuckte zusammen, als Lasse aufsprang, sich neben die Frau stellte und dem blonden Kerl auf die Schulter klopfte. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er die folgende Szene.
„Kennen Sie sich?“, mit hochgezogenen Augenbrauen blickte die Frau zu Lasse.
„Ja klar, wir studieren zusammen. Medizin, siebtes Semester.“, Lasse hielt ihr seinen Studentenausweis unter die Nase.
„Das ist ja schön für sie Beide, aber einen gültigen Fahrausweis benötigt der Herr trotzdem.“, der Mann mit dem Schnauzer schob sich von der anderen Seite an Lasse ran.
„Hat er doch. Ab sieben Uhr kann man doch als Student umsonst fahren.“
Der Kontrolleur zog seine Augenbrauen nach oben.
„Aber nur, wenn Sie Ihren Studentenausweis einstecken haben.“
Der blonde Kerl packte seinen Rucksack wieder zusammen. Er sah von einem zum anderen, zuckte seine Achseln. Sein Kopf war immer noch tiefrot und seine Stimme klang ungewöhnlich zaghaft für einen jungen Mann:
„Ich muss ihn wohl zu Hause liegen lassen haben.“
„Dann brauchen wir wohl doch Ihre Personalien.“, die Frau tippte mit dem Fuß.
„Ich kann für ihn verbürgen. Wie gesagt, wir studieren zusammen.“
„Und was studiert der Herr?“, mit scharfen Blick fixierte der Kontrolleur den Blondschopf.
Dieser holte Luft, aber Lasse kam ihm zuvor:
„Medizin, wie gesagt. Im siebten Semester.“
„Stimmt das?“, die Frau sah den blonden Kerl abschätzig an. Dieser nickte stumm.
„Aber Ihnen ist klar, dass Sie auch als Student nur mit Ihrem Studentenausweis abends kostenfrei fahren können?“
Wieder nickte der Angesprochene. Die Frau sah von ihm zu Lasse. Sie tauschte einen langen Blick mit ihrem Kollegen und sah dann wieder zu dem Kerl.
„Gut, dann geben Sie mir jetzt bitte beide Ihre Namen. Wenn Sie noch einmal ohne Ausweis fahren, dann kostet Sie das vierzig Euro Strafgebühr.“
„Danke.“
„Bedanken Sie sich nicht bei mir, sondern bei Ihrem Kommilitonen!“, mit ernstem Gesicht schrieb sie die Namen auf ihr Papier.
Lasse lies sich mit einem breiten Grinsen wieder in seinen Sitz fallen.
„Wer ist jetzt hier der Samariter?“, Bernd fixierte seinen Kumpel kopfschüttelnd.
Lasse zuckte nur mit den Achseln und grinste weiter.
„Du weißt, wie die Pfadfinder: Jeden Tag eine gute Tat! Ich wollte einfach nicht hinter Dir zurückstecken!“
„Spinner!“
Einen Moment lang starrten sie sich mit zusammengepressten Lippen in die Augen. Bernd platzte zuerst und prustete los. Wieder hatten sie Mühe sich zu beruhigen.

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