Donnerstag, 12. März 2009

Am Busbahnhof II


Marvin fasste mit seiner Hand zu seinem linken Knie und verzog das Gesicht. Als er weiter lief zog er das Bein ein wenig nach. Verdammt! Schon wieder diese Schmerzen! Sein linker Fuß stieß gegen eine Blechdose. Für einen Moment vergaß er das schmerzende Bein und trat mit einem lauten Lachen heftig gegen die Dose. Ein heißer Blitz zuckte durch seinen Körper. Er heulte leise auf und knickte zusammen. Mit einem leisen Klacken landete sein Rucksack auf den Pflastersteinen.

Er kniete auf dem rechten Bein und umschlang sein Linkes mit beiden Armen. Seine Stirn berührte das Knie. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf den Schmerz. Er hielt für einen Moment den Atem an und presste die Lippen zusammen. Langsam lies das Brennen nach. Zentimeter für Zentimeter richtete er seinen Körper wieder auf und kam schließlich auf beiden Füßen zum Stehen. Sein Atem ging schnell und schwer. Mit versteinerter Miene sah er sich um. Sein Blick streifte einen jungen Mann, der sich wohl vor dem Regen untergestellt hatte und ihm aus dem Schutz des Glashäuschens heraus blöde anstarrte.
„Was glotzt Du so blöd?“, es war mehr ein Zischen als ein Schreien.
Die Worte kamen gepresst über seine zitternden Lippen. Sein Blick fand keinen Fixpunkt. Er flog von dem Mann über den Platz hinweg, wieder zurück, hin zu seinen Füßen, hinüber zu den Bäumen hinter ihm, kam über den Brunnen erneut zurück und blieb schließlich hängen. Sein Rucksack. Die Pfütze in der er lag, war die vom Regen? Hastig beugte er sich nach unten, das plötzliche Stechen in seinem Bein ignorierend. Mit zitternden Fingern machte er sich an der Schnur zu schaffen. Der Regen fiel in dichten Streifen auf die Erde. Wasser tropfte von seinen zerfranstem, dunklen Haar und lief ihn übers Gesicht. Endlich hatte er den Knoten gelöst. Ein Husten schüttelte seinen Körper. Mit einem Würgen kam etwas nach oben. Er spukte den Klumpen in Richtung des Brunnens, während er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Tasten seiner Hand im Rucksack richtete. Als seine Finger die Flasche spürten verzogen seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen. Sie war noch ganz. Mit einer langsamen Bewegung beförderte er sie nach draußen, schraubte sie auf und nahm einen tiefen Schluck. Der bleierner Geschmack in seinem Mund wich dem Bitteren des Schnapses. Er schloss seine Augen während sich die Wärme langsam von seinem Magen aus weiter in seinem Körper ausbreitete. Nach dem zweiten Schluck war das Stechen in seinem Bein kaum mehr zu spüren. Er verzog seinen Mund erneut zu einem Grinsen. Mit einem lauten Rülpsen verstaute er die Flasche wieder im Rucksack. Diesmal kam er schneller auf die Füße. Allerdings so plötzlich, dass er beinahe wieder umgefallen wäre. Er stolperte ein paar Schritte zur Seite, bevor er sich auffangen konnte und leicht schwankend zum Stehen kam. Den Rucksack hielt er fest umklammert. Er sah sich um und sein Blick blieb erneut an dem jungen Mann hängen. Inzwischen hatte sich eine zweite Gestalt dazu gesellt. Die beiden schienen miteinander zu sprechen. Marvin kniff die Augen zusammen. Mit Mühe erkannte er, dass die andere Gestalt sehr kräftig war und das dichte Haar, dass ihr fast bis zum Hintern reichte, zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
„Der Feuerspucker“, er lächelte.
Wankend ging er in Richtung der beiden Männer. Vor dem Glashäuschen blieb er abrupt stehen, als wäre dort eine magische Grenze, die er nicht übertreten könnte. Er hob seine Stimme und streckte den Männern seine rechte Hand mit der offenen Handfläche entgegen:
„Eno sorme Kliekaa?“
Im Augenwinkel sah er wie der junge Kerl mit den dunklem, halblangen Haar zurückwich. Er unterdrückte ein Grinsen und zog es stattdessen vor den Feuerspucker mit großen Augen anzusehen. Es war besser wie ein Irrer zu sprechen. Dann stellen die Leute keine Fragen und drücken einem viel lieber ganz schnell ein wenig Kleingeld in die Hand, nur damit man sie schnell wieder in Ruhe lies. Schon seltsam wie leicht alles wird, wenn man sich die Unsicherheiten der Menschen zu nutze macht .
Hälst Dich wohl für was Besseres? Marvin musste sich beherrschen dem jungen Kerl nicht ins Gesicht zu brüllen, der jetzt mit dem Rücken an die Wand des Glashäuschens gedrückt dastand und sich mit seinem Unterarm die Nase zu hielt. Glaubst ich wäre Abschaum, hä? Täusch Dich mal bloß nicht, Dummkopf! Ich kann mich noch erinnern, weißt Du? Ich hab nicht schon immer so gestunken, bin nicht schon nach Schnaps riechend und schlurfend geboren worden. Auch wenn Du das glaubst. Aber weißt Du was die Wahrheit ist? Die Wahrheit ist, dass wir alle am Rand des Abgrunds laufen. Und es reicht ein einziger Augenblick Dich nach unten zu stürzen. Ein einziger, klitzekleiner Augenblick – verstehst Du? Wenn Du erst mal dort unten bist, dann gibt es keinen Weg mehr zurück. Nur weiter hinunter geht es, immer tiefer und tiefer. Bis Du schließlich ganz vergessen hast, wer Du bist. Aber ich, ich kann mich noch erinnern, noch erinnern. Die Gedanken wirbelten unsortiert durch seinen Kopf, während er den Kerl weiter im Augenwinkel beobachtete.
Mit trüben Blick und unbewegter Miene fixierte er währenddessen den Feuerspucker und konzentrierte sich ganz darauf die Gedanken nicht auszusprechen. Er biss sich auf die Lippe. Der Geschmack von Blut breitete sich langsam in seinem Mund aus. Der Feuerspucker legte ihm ein wenig Kleingeld in die ausgestreckte Hand.
„Vergelts Gott!“, er drückte den Arm des Feuerspuckers kurz und fest.
Ein Lächeln huschte über dessen Gesicht. Unsicher und im nächsten Moment schon wieder verschwunden. Marvin murmelte Unverständliches in seinen langen Bart und löste seinen Griff von dem Arm. Einen kurzen Augenblick begegneten sich ihre Blicke und es war so etwas wie ein Erkennen in ihnen. Marvin zögerte und stand wie fest gewachsen. Mit einer plötzlichen Bewegung, die den Feuerspucker zusammen zucken lies, wandte er sich ab und schlurfte in Richtung des Brunnens davon. Sein Kopf wackelte hin und her, ohne dass er es hätte kontrollieren können.
„Ich habe nicht vergessen, nein, nichts habe ich vergessen. Ich erinnere mich noch!“
Er murmelte die magische Formel immer noch vor sich hin, als die Dunkelheit zwischen den Bäumen ihn längst verschluckt hatte.

1 Kommentar:

  1. War nicht so einfach in der fremden Stadt ein Netz zu finden ... wie der arme Fischer, der sein Netz sucht :).
    Das ist der erste Artikel, der nicht noch mal von meinem persönlichen Lektor Korrektur gelesen wurde - hoffe ist trotzdem lesbar.
    Grüße
    Kryps
    *Mit wasserblauen Augen zwinker*

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