Hanne nickte in Richtung ihres Kollegen, der im vorderen Teil der Bahn einstieg, während sie selbst die Tür ganz hinten öffnete. Sie setzte sich in die Nähe der Tür. Seufzend beobachtete sie die wenigen Menschen, die in die Bahn kamen. Ein junger, muskulöser Mann mit einem großen, schwarzen Koffer stolperte über seine eigenen Füße, schaffte es aber im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder zu finden. Was schleppte er auch einen so schweren Koffer mit sich herum? Sie kniff die Augen einen Moment zusammen und sinnierte über den Inhalt desselben. Die Bahn setzte sich mit einem kräftigen Rucken in Bewegung. Sie seufzte leise. Wie sie diese Abendschichten hasste! Sie würde jetzt viel lieber zu Hause bei ihrem Freund sitzen und sich irgendeinen Fernsehfilm ansehen. Scheiß-Job. Einen Moment lang starrte sie in die Dunkelheit draußen.
„Die Fahrkarten bitte!“, die Stimme ihres Kollegen riss sie aus ihren Gedanken.
„Die Fahrkarten, bitte“, im Aufstehen wiederholte sie den Satz ihres Kollegen. Aber er klang anders bei ihr, eine Spur freundlicher.
Sie hoffte inständig, dass alle Passagiere gültige Fahrausweise haben würden. Alles andere würde nur Mehrarbeit bedeuten und ihre Arbeitszeit gegebenenfalls verlängern. Sie kam an den Sitzplatz eines jungen Mannes mit verstruppelten, blonden Haaren. Er begann hektisch in seiner Tasche nach seinem Fahrschein zu wühlen, was ihr Gelegenheit gab in Ruhe sein Gesicht zu betrachten. Er war knallrot angelaufen, vielleicht war ihm die Situation peinlich.
„Wenn Sie keine Fahrkarte haben, dann geben Sie mir doch bitte ihre Personalien“, ihre Stimme sollte beruhigend klingen, aber sie spürte ein leichtes Zittern in ihr.
„Doch, habe ich. Warten Sie, irgendwo muss mein Studentenausweis sein.“
Seufzend vertiefte sie sich wieder in die Beobachtung des Gesichtes. Um seine Augen lag ein Schatten und die Ringe unter ihnen verstärkten den Eindruck von Müdigkeit. Aber der Schatten? Wo kam der her? Vielleicht hat er geweint – der Gedanke war plötzlich da und die Vorstellung rührte sie. Sie hörte auf mit dem Fuß zu tippen.
„Mensch Bastian, ich hab Dich ja gar nicht gesehen!“, ein dunkelhaariger Kerl mit Dreitagesbart drängte sich zu dem Blonden und klopfte ihm auf die Schulter.
Er sah ein paar Jahre älter aus. Wie um sich auszuweisen hielt er Hanne seinen Studentenausweis unter die Nase. Der Blondschopf starrte ihn einige Augenblicke an. Hanne runzelte die Stirn. Nichts wirkte so, als ob sie sich tatsächlich kennen würden.
„Kennen Sie sich?“, ihre Stimme klang jetzt barsch.
Der Dunkelhaarige lies sich nicht von dem Unterton beeindrucken. Stattdessen strahlte er sie an, seine Augen blitzten:
„Ja, klar. Wir studieren zusammen Medizin, siebtes Semester.“
Hanne stutzte – hatte dieser junge Kerl ihr eben zugezwinkert? Sie starrte ihn einen Moment lang mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Er lächelte sie an. Nicht doch, ich muss mich geirrt haben. Mit ihrer rechten Hand rückte sie ihre Brille zurecht.
„Das ist ja schön für sie Beide, aber einen gültigen Fahrausweis benötigt der Herr trotzdem.“, die vertraute Stimme ihres Kollegen lies sie aufatmen.
„Hat er doch. Ab sieben Uhr kann man doch als Student umsonst fahren.“
Hanne runzelte ihre Stirn und bedachte den Medizinstudenten mit einem langen Blick. Ganz schön vorlaut der Bursche.
„Aber nur, wenn Sie Ihren Studentenausweis dabei haben.“, ihre Stimme klang jetzt scharf während sie den blonden Kerl mit einem strengen Blick bedachte.
Sie hatte schon so viele Geschichten gehört. Manchmal wunderte sie sich wie phantasievoll die Menschen wurden, nur um dem Bußgeld zu entgehen. Die meisten waren unglaubwürdig und leicht zu durchschauen. Aber einige waren einfach verrückt, traurig, schräg oder herzzerreißend. Sie hatte sich schon überlegt diese Geschichten zu sammeln, sie alle in ein Buch zu schreiben. Aber nicht in der Spätschicht, da war sie nicht auf Geschichten eingestellt, da wollte sie eigentlich nur so schnell wie möglich wieder nach Hause.
„Ich muss ihn wohl zu Hause liegen lassen haben.“, die Worte klangen kleinlaut.
Hanne hatte jetzt endgültig keine Lust mehr sich weiter an der Nase herumführen zu lassen.
„Dann brauchen wir wohl doch Ihre Personalien.“
„Ich kann für ihn verbürgen. Wie gesagt, wir studieren zusammen.“
Schon wieder der vorlaute Kerl!
„Und was studiert der Herr?“, an der Stimme ihres Kollegen erkannte sie, dass er auch keine Lust mehr auf diese Geschichte hatte.
„Medizin, wie gesagt. Im siebten Semester.“
Warum lies er seinen Kommilitonen nicht selbst antworten? Kaum dass der seinen Mund aufgemacht hat, kam er ihm auch schon zuvor.
„Stimmt das?“, Hanne durchbohrte den blonden Mann mit ihrem Blick.
Wenn der andere jetzt wieder antwortet, dann verpass ich ihm auch ein Bußgeld! Völlig egal, ob er seinen Ausweis dabei hat oder nicht! Sie warf einen schnellen Blick zu dem Dunkelhaarigen, aber der stand ganz ruhig und lächelte. Der Angesprochene nickte. Hanne seufzte. Einen Moment lang verspürte sie eine leichte Enttäuschung, jetzt hätte sie sich doch gerne gestritten mit diesem vorlautem Kerl.
„Aber Ihnen ist klar, dass Sie auch als Student nur mit Ihrem Studentenausweis abends kostenfrei fahren können?“
Wieder nickte er und sah sie dabei mit großen Augen an. Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn. Sie tauschte einen langen Blick mit ihrem Kollegen. Wenn sie jetzt einfach nur formhalber die Personalien aufschreiben und so tun würde, als würde sie diese Geschichte glauben, dann hätten sie nicht mehr Arbeit. Dann käme sie vielleicht pünktlich zu den Tagesthemen nach Hause. Ihr Kollege verstand ihren Blick. Er nickte, ganz unauffällig und leicht. Wenn sie sich nicht schon so gut kennen würden, dann hätte sie das Nicken nicht gesehen. Sie lächelte, aber ihr Lächeln fiel kaum auf. Ihre Mundwinkel bewegten sich nur unmerklich.
„Gut, dann geben Sie mir jetzt bitte beide Ihre Namen. Wenn Sie noch einmal ohne Ausweis fahren, dann kostet Sie das vierzig Euro Strafgebühr.“
Sie schrieb die Namen auf ihr Papier. Der Blonde hieß tatsächlich Bastian. Sie zog ihre Stirn in Falten. Vielleicht hatte dieser vorlaute Kerl doch nicht gelogen? Aber sie hätte schwören können, dass dieser Bastian den anderen wie einen Fremden angestarrt hatte. Mit einem Schulterzucken verstaute sie Papier und Stift in ihren Taschen, nickte den beiden jungen Männern kurz zu und setzte sich dann zu ihrem Kollegen. Nächste Haltestelle würden sie wieder aussteigen, dann zehn Minuten auf die nächste Bahn warten und wieder kontrollieren. Sie hoffte inständig, dass dort alle ihre Fahrscheine haben würden. Beim Aussteigen warf sie noch einmal einen Blick in die Bahn. Wenn die beiden sich kennen, warum sitzen sie dann weiter getrennt? Sie sah dass der Blonde den anderen unauffällig aus seinem Augenwinkel anstarrte. Seltsam, wahrscheinlich war diese Geschichte doch erfunden, von dem Studenten. Der Blonde sah doch gerade mal aus wie Anfang zwanzig. Siebtes Semester Medizin, kaum glaubwürdig. Sie beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Kopfschüttelnd wandte sie sich ihrem Kollegen zu:
„Wie geht’s Deiner Frau?“
Uff!
AntwortenLöschenBin heute spät mit dem Update dran, hab die Geschichte aber eben erst fertig bekommen. Hoffe das sehnsüchtige Warten meiner unzähligen Leser hat sich gelohnt! *frech grins*
Viel Spaß beim Lesen!
Grüße
Kryps
"Viel Spaß beim Lesen!"
AntwortenLöschenDen hatte ich! Danke! Liest sich spannend und sehr flüssig. *daumenhoch*
Hallo Sonne,
AntwortenLöschengern geschehen & willkommen auf meiner Seite!
Hoffe Du wirst hier öfter noch mal ein wenig Spaß haben.
*lächelt verschmitzt*
Grüße
Kryps