Donnerstag, 19. August 2010

Begegnung in drei Teilen - Teil III


Ein kalter Wind nimmt Pete in Empfang und raubt ihn für einige Sekunden den Atem. Unwillkürlich zieht er seine Lederjacke enger. Nach wenigen Schritten hat er die Distanz bis zu der Bank überwunden. Zum ersten Mal eröffnet sich ihm die Frontansicht des Rückens. Gedankenverloren sieht er in das fremde Gesicht einer alten Frau. Schweigend verharrt er einige Augenblicke. Seine Schultern entspannen sich und in seinen Mundwinkeln zuckt ein stilles Lächeln.

Er beobachtet, wie der Wind mit dem dunklen Haar spielt, das von einem grauen Schimmer durchzogen ist. Einige Strähnen sind seinem Ruf gefolgt, haben sich aus der Haarspange gelöst und tanzen einen wilden Tanz in der Luft. Die kleine Nase entlang ziehen lilane Äderchen bunte Muster bis hin zu den von der Kälte rotverfärbten Wangen. Offensichtlich hat sich diese Dame keinerlei Mühe damit gegeben die Äderchen umständlich hinter Puder zu verbergen. Gerne würde er die Farbe ihrer Augen sehen, aber sie ist verborgen hinter den geschlossenen Lidern. Er betrachtet kurz das faltige Gesicht und entscheidet sich dann für wasserblau, denn alte Augen verlieren mit den Jahren die Kraft ihrer Farbe. Wie alle schlafenden Gesichter strahlt auch dieses Ruhe aus. Plötzlich zuckt Pete zusammen. Nicht doll, eher von außen kaum spürbar, an dem leichte Zucken seiner Nasenflügel zu erkennen. Der große Bruder des Schlafs vermag es beinahe noch mehr Gesichtern einen besonderen Frieden zu verleihen.
Alte Bilder tauchen wieder auf. Das Bild von der Gestalt im Sarg und dem jungen Mann, der vor dem offenen Sarg steht und von einem Fuß auf den anderen tritt. Die ältere Frau, die sich ganz auf den jungen Mann stützt, ihr Gesicht halb verdeckt von einem Taschentuch. Und als sie sich abwenden will ihn plötzlich kaum mehr loseisen kann. Seine Füße stehen mit einem Mal fest auf dem Boden, sein Blick ruht auf der Gestalt, die vor ihm liegt.
Pete kann sich genau erinnern wie er an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben dem Tod begegnete und in stiller Faszination seinen Blick nicht mehr von ihm wenden konnte. Diese Ruhe, die einen sanften Schleier über den Mund gelegt hat. Dessen so oft zusammengepresste Lippen nicht mehr zu erkennen waren. Hinter diesem Schleier konnte man sich kaum mehr die laute, harte Stimme denken. Und da war noch etwas, was ihn zutiefst verstörte. Dieses harte Gesicht, dass ihn im Leben abfällig angesehen hatte, die beiden Hände, deren Fäuste er oft genug zu spüren bekommen hatte, das alles hatte irgendwie seine Kraft verloren. Die Härte war aus dem Körper verschwunden. An ihre Stelle war etwas anderes gekommen. Nur was? Pete kann es schwer in Worte fassen. Eine Ruhe und vielleicht so etwas wie, ja nach diesem Wort hat er gesucht, so etwas wie Frieden. Und wenn er sich jetzt ganz genau zurück erinnert dann kann er plötzlich etwas Verletzliches an seinem unangreifbaren, alten, verbitterten Vater erkennen. Verletzlich? Der Mann, für den schon ein Lächeln ein Zeichen von Schwäche war? Das ist absurd! Fortgewischt der harte, entschlossene Gesichtsausdruck, der keinen Widerspruch duldete. Der Tod ist ein Gaukler! Er macht sich eine Spaß daraus starke Männer wie verweichlichte Idioten aussehen zu lassen. Der Tod ist eine Chance! Eine Chance die eigene Schwäche zu zeigen. Was hätte der Vater gesagt, wenn er sich so hätte sehen können?
„Schließt den Sarg!“, hätte er gebrüllt, „Keiner soll mich so sehen! Dieses schwache Nichts, das bin nicht ich! Legt ein Bild von mir auf den Sarg, damit die Leute sehen können wie ich gelebt habe!“
Pete ist dankbar, dass der Vater im Tod nichts mehr zu sagen hatte. Er fühlt, was er nie zuvor für ihn empfunden hat. Nicht Liebe, nein für diesen Menschen hat er keine Liebe übrig. Aber etwas Versöhnliches, so etwas wie Mitleid. Ja, leid tut ihm der Vater plötzlich, so schutzlos in dem kalten Sarg. Und so allein.
Der Schrei einer Möwe holt ihn wieder zurück in die Gegenwart. Still betrachtet er das Gesicht der alten Frau. Eine kaum fassbare Ruhe strahlt ihm entgegen. Es ist anders als das tote Gesicht des Vaters. Dieses hier ist nicht leer, nein, es ist voll mit – und hier fehlt ihm wieder das Wort. Zufriedenheit? Ja, diese Frau sieht so unglaublich zufrieden aus, schlafend auf der Bank im kalten Wind. Aber was wenn sie doch tot war? Alle Muskeln spannen sich an. Sein Gehirn gibt den Befehl an die Füße wegzugehen, schnell und unauffällig. Aber die gehorchen nicht. Sie bleiben stehen, wie angewurzelt. Erst als sich das Halstuch löst und sich an seinem Bein verfängt beugt er sich schnell hinunter und hält es fest. Im Aufrichten fängt sein Blick wieder ihr Gesicht ein. Und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt zuckt die kleine Nase. Pete lächelt. Und die Augen, die sich langsam öffnen, und versuchen sich zu orientieren sind wasserblau. Er muss noch ein wenig stärker lächeln. Jetzt sind sie wach und betrachten still sein Gesicht. Es ist ein langer und aufmerksamer Blick. Nicht unangenehm, aber doch seltsam. Auf der Stirn ziehen sich die Falten zusammen.
„Hat es geregnet?“, die Worte der alten Frau hängen zwischen ihnen.
Pete lässt ihr weiches, seidenes Halstuch durch seine Hände gleiten. Er weiß keine Antwort.

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