Montag, 22. Dezember 2008

Hauptstrasse II

Agnes starrte mit leerem Blick auf die Strasse vor sich. Sie bemühte sich ihre Augen nicht zu fokussieren, um nicht versehentlich mit einem der Passanten in der Fußgängerzone Blickkontakt aufzunehmen.
`Ich bin ein Roboter`, dachte sie bei sich während sich ihre Gesichtszüge ein wenig entspannten und sie ihr Tempo etwas anzog.
Wortfetzen und Gekicher drangen an ihr Ohr: „Die spinnt!“, „Ey, schau mal die da drüben!“, „Die hat ja mal echt ’nen Knall!“
Ihr linkes Auge begann leicht zu zucken und sie spürte, wie ihre Wangen langsam heiß wurden. Schnell beugte sie sich nach unten zu ihrer Banane und schnalzte mit der Zunge:
„Komm, Kleiner, mach hinne!“. Sie kam sich ganz schön blöd vor.
`Hoffentlich erkennt mich keiner … ich hätte doch besser mit der Straßenbahn in die nächste Stadt fahren sollen …`, ihre Hand, um die sie fest die Paketschnur gewickelt hatte, begann zu zittern. Nicht stark, aber stark genug um einen aufmerksamen Beobachter ins Auge zu stechen. Während Agnes sich wieder hoch beugte, um erhobenen Hauptes und mit glühenden Wangen ihren Weg fortzusetzen, sog sie einen tiefen Atemzug in ihre Lungen.
Was für eine beschissene Schnapsidee! Wieso hatte sie sich eigentlich auf dieses dämliche Experiment eingelassen? Dieser bescheuerte Soziologieprofessor saß wahrscheinlich die ganze Zeit über in irgendeinem Straßencafé und lachte sich kaputt über die Schar dummer Studenten, die gerade brav das Experiment durchführten. Und sie, Agnes, machte sich bereits in ihrem 2. Semester zum Gespött der Fußgängerzone. Ach was! Zum Gespött der ganzen Stadt! Und weshalb? Weil sie sich einfühlen sollte.
„Damit ihr euch tatsächlich in die Realität eines Behinderten einfühlen könnt schlage ich euch folgendes Exempel vor: Macht etwas gänzlich Ungewöhnliches oder zieht euch besonders auffällig an und geht an einem belebten Nachmittag durch die Fußgängerzone. Ihr werdet schnell merken wie es sich anfühlt, wenn alle Menschen stehen bleiben, tuscheln und euch anstarren.“, hatte der Professor mit seiner tiefen angenehmen Stimme gesagt und Agnes dabei direkt in ihre Augen gesehen. Was hätte sie da tun sollen? Alle waren sie Feuer und Flamme für diesen absolut dämlichen Vorschlag gewesen. Agnes schnaubte heftig bei dem Gedanken wie stolz sie zu Hause auf ihre Idee mit der Banane gewesen war. Ihre Wangen glühten noch ein wenig mehr, als sie sich erinnerte mit welch erhabenem Gefühl sie vorhin am Beginn der Fußgängerzone die Banane aus ihrem Rucksack genommen und auf den Boden gelegt hatte. Jetzt würde sie am liebsten im Boden versinken, wenn sie sah wie sich vor ihr die Menschenmenge teilte, um der Verrückten Platz zu machen.
Schnellen Schrittes ging sie weiter. Bis zum Weihnachtsmarkt war ausgemacht gewesen und dort dann runter zur Mensa, wo sie sich mit dem Rest des Kurses treffen sollte. Wie weit war das noch? Agnes verschätzte sich jedes Mal in dieser Fußgängerzone, da es ja praktisch nur die eine Straße war, die sich endlos entlang zu ziehen schien. Plötzlich hörte sie auffordernde Rufe direkt hinter sich. Was war das? Betont langsam drehte sie sich um und sah sich direkt zwei halbstarken Jungs gegenüber, bestimmt 3 oder 4 Jahre jünger als sie. Einen Moment starrte sie die Beiden an, bevor sie ihren Blick zu der Banane hin wandte und während sie mit der Zunge schnalzte an der Paketschnur zog und sich wieder nach Vorne wandte. Falls das noch möglich war beschleunigte sie ihren Schritt nun noch ein wenig mehr.
Na super! Jetzt rannten ihr noch diese beiden Jungs hinterher und zogen mit ihren Zurufen noch mehr Aufmerksamkeit auf sich. Das Herz sank ihr in die Hose und sie fiel ein wenig in sich zusammen. Am liebsten hätte sie auf der Stelle abgebrochen mit diesem dämlichen Experiment – aber das ging nicht. Sie wollte sich vor dem Professor und den anderen Kursteilnehmern nicht blamieren. Außerdem würden die beiden Jungs sie wahrscheinlich dennoch weiterverfolgen – egal ob sie die Banane jetzt wegpackte oder nicht. Im Augenwinkel beobachtete sie, dass ihr noch eine weitere Gestalt seitlich folgte. Schön, falls sie irgendwann mal Kontakt suchen würde, dann schien es ein super Opener zu sein mit einer Banane durch die Fußgängerzone zu laufen. Sie drehte kurz ihren Kopf und zog ihre Stirn in Falten, als sie sah dass da neben ihr ein bestimmt 10 Jahre älterer Typ herlief und sie nicht aus den Augen lies. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, während sie schnell den Kopf wieder nach vorne drehte.
An dem kleineren Vorplatz, gegenüber des Teeladens, erschienen die ersten Stände des Weihnachtsmarktes. Bis zum Hauptmarkt waren es von hier aus allerdings immer noch mehrere hundert Meter. Agnes blieb beinahe das Herz stehen, als sie an dem Stand mit den gebrannten Nüssen ein vertrautes Gesicht erkannte. Verdammt! Da vorn stand Bastian mit ein paar Freunden! Abrupt blieb sie stehen, ihre Augen flogen schnell von links nach rechts. Rechts stand die dritte Gestalt, hinter ihr waren die beiden Jungs und vor ihr Bastian. Wenn sie nicht schnell handelte war es nur eine Frage der Zeit, bis dieser aufsah und sie hier stehen sehen würde. Zumal sie nicht gerade wenig Aufsehen erregte.
Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich nach links zur nächsten Seitengasse. Hinter ihr war ein schleimiges Geräusch zu hören, als sie von der gespannten Paketschnur aufgehalten wurde. Gelächter von Hinten. Agnes drehte sich um und sah wie einer dieser beiden Kerle auf ihrer Banane stand die beiden sich kaputt lachten. Ihre Augen wurden zu Schlitzen und sie ging mit einer schnellen Bewegung auf die Beiden zu. Die sahen sich kurz an bevor der eine langsam seinen Fuß von der Banane nahm und Agnes mit erhobenen Augenbrauen ansah.
„Agnes?“, Bastians Stimme war genau neben ihrem Ohr.
Ihre Wangen wurden heiß und ihr Atem stockte. Mit aufgerissenen Augen starrte sie von den beiden Jungs zu Bastian und zurück.
„Ey, Deine Alte spinnt ganz schön!“, meinte der eine.
„Mein Beileid…“, murmelte der andere, dann machten die Beiden sich aus dem Staub.
„Agnes? Geht’s Dir gut?“, Bastian sah fragend von ihr zu den langsam verschwindenden Jungs, zu der zertretenen Banane vor ihren Füßen und wieder zurück in ihr Gesicht.
„Oh, hallo Bastian … schön Dich zu sehen … ich habs leider etwas eilig im Moment … man sieht sich, bis bald dann, tschüß!“, mit einer schnellen Bewegung hob sie die Banane auf, lächelte Bastian ganz kurz zu bevor sie sich wegdrehte und weiter Richtung Mensa ging. Sie musste sich sehr zusammen nehmen, um nicht loszurennen. Ihr Gesicht brannte, sie sah den Weg nur noch verschwommen vor sich. Dieser Scheiß-Professor mit seiner verdammt freundlichen Stimme und dieser Schnapsidee!

4 Kommentare:

  1. Hallo krypskytter,
    du schreibst wirklich tolle Geschichten. Gibt es noch einen dritten Teil von Hauptstraße? Bin gespannt auf mehr...

    Gruß
    Sandra

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  2. Hallo Sandra,
    vielen Dank für das Kompliment! ;)
    Naja, der Dritte Teil von der Hauptstrasse spielt leider (unpassenderweise) am Weihnachtsmarkt - hab in meinem Konzept nicht so ganz bedacht, dass am Donnerstag der Weihnachtsmarkt ja schon wieder abgebaut ist. *verlegen lächel*

    Gruß
    Kryps

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  3. Hallo Kryps,
    wirklich schön! Interessant das Ganze aus zwei Blickwinkeln zu betrachten. Kurosawa Fan?
    Was bedeutet eigentlich "Krypskytter"?
    Gruß,
    DS

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  4. Hallo DS,
    von Kurosawa habe ich noch nichts gesehen - sollte ich aber vielleicht mal tun. Wurde er nicht als Inspiration für die Gloreichen Sieben verwendet? Wo wir gerade bei Japanern sind: Ich empfehle Dir die Murakami Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt - falls die jetzt nicht schon abgebaut wurde.

    Krypskytter ist norwegisch und bedeutet Wilddieb (zumindest laut meinem Wörterbuch) ;).

    lieber Gruß
    Kryps

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