Okay, wie angekündigt heute eine kleine Hintergrundszene.
Ist euch das schon mal passiert? Ihr fahrt jemanden besuchen, steigt aus dem Zug aus, doch statt von der Person abgeholt zu werden, steht plötzlich ein völlig Fremder vor euch? Was würdet ihr tun? Würdet ihr mit ihm mitgehen und, falls sich herausstellt, dass ihn tatsächlich die Person geschickt hat, die ihr eigentlich besuchen wollten, wärt ihr sauer?
Have fun! ;)
Sie wartete, bis der Zug bremste, ehe sie aufstand und mit einer schwungvollen Bewegung ihren Rucksack hoch und auf die Schultern hob. Mühelos schaffte sie es zur Tür, außer ihr wollte niemand in diesem Kaff aussteigen. Neben dem wieder losrollenden Zug blieb sie stehen und sah sich um.
Keine Spur von ihrer Mutter – das war so typisch! Im Kopf hörte sie schon die tausend Ausreden.
Wartest du schon lange, mein Schatz? Ich dachte, der Zug würde erst um halb ankommen!
Oder:
Es tut mir leid, ich habe es nicht schneller geschafft. Im Büro war mal wieder so viel los – ist dir kalt, Schatz?
Schnaubend knallte sie den Rucksack auf den Boden. Wieso hatte sie geglaubt, dass es diesmal anders wäre?
Luna, kannst du bitte am Wochenende kommen? Ich möchte etwas mit dir besprechen - wir werden viel Zeit zusammen haben.
Klar, das sah sie, wie viel Zeit sie hatten.
„Okay, Mama“, murmelte sie. „Wenn du bis zum nächsten Zug nicht hier bist, fahr ich wieder!“
„Luna?“
Sie wirbelte herum. Vor ihr stand ein völlig fremder Mann, mindestens Mitte vierzig, das dunkelbraune Haar trug er ordentlich auf eine Seite gekämmt und in seinem Gesicht hing ein Grinsen, das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Woher kannte er ihren Namen und wieso grinste er sie so blöd an?
„Hallo, ich bin Marco – Michaela schickt mich …“ Er streckte ihr seine Hand hin.
„Michaela?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen.
Die Art, wie er den Namen ihrer Mutter aussprach, gefiel ihr nicht. Sie schaute auf seine Hand, brachte es aber nicht über sich, nach ihr zu greifen.
„Deine Mutter“, setzte er hinzu, als glaubte er wirklich sie hätte nicht sofort verstanden von wem er sprach.
Immer noch war da dieses dämliche Grinsen in seinem Gesicht, aber wenigstens ließ er die Hand wieder sinken. Luna verschränkte die Arme und verlagerte das Gewicht auf ihren linken Fuß.
„Michaela wurde leider im Geschäft noch aufgehalten und hat mich gebeten dich abzuholen. Ist ja auch eine gute Gelegenheit …“, redete er weiter.
„Moment!“, fiel sie ihm ins Wort. Sie wollte überhaupt nicht wissen was für eine Gelegenheit das hier war. Es war eine miese Falle, die ihre Mutter ihr gestellt hatte, und ihre Mutter hätte ruhig den Mund aufmachen und die Wahrheit sagen können. Von wegen Zeit zusammen verbringen. „Ich ruf mal eben bei ihr an!“
Es war keine Frage. Trotzdem nickte dieser Marco ihr zu, als würde sie dafür seine Erlaubnis brauchen.
„Sicher, sie hat dir bestimmt beigebracht nicht mit jedem Fremden mitzugehen, oder?“ Das Grinsen zog sich jetzt von einem Ohr zum anderen.
Hatte er ihr eben zugezwinkert? War er noch ganz bei Trost? Fand er das mit jedem Fremden etwa witzig?
Ohne ihm zu antworten zog das Handy aus der Tasche. Sollte er seine blöden Witze doch bei jemand anderem machen! Im Display blinkte eine Nachricht von ihrer Mutter.
Tut mir leid Schatz, ich schaffe es nicht. Marco wird dich abholen – sei nett zu ihm, ja?
Vergiss es!, dachte sie und drückte auf Anrufen.
Schon beim zweiten Klingeln nahm ihre Mutter ab. Das war ein neuer Rekord.
„Luna? Alles in Ordnung?“
„Hallo Mama. Du sag mal, vor mir steht so ein Freak im Anzug, der behauptet, du hättest ihn geschickt …“
„Luna! Hör auf! Hast du meine Nachricht nicht bekommen?“ Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich, und Luna unterdrückte ein Lächeln.
Im Augenwinkel sah sie wie diesem Marco das dämliche Grinsen aus dem Gesicht fiel. Endlich.
„Welche Nachricht?“, fragte sie, und weil sie die Situation noch ein wenig auskosten wollte, setzte sie hinzu: „Du willst mir also sagen, dass dieser Freak hier kein entlaufender Psychopath ist, und du ihn wirklich geschickt hast?“
„Luna!“
Sie musste das Handy ein Stück weghalten, so laut brüllte ihre Mutter jetzt in den Hörer. Diesem Marco fiel die Kinnlade runter.
Tja, Shit happens, hmm?, dachte sie und jetzt war sie diejenige, die grinste.
„Was denn? Wenn mich ein völlig fremder Typ anspricht und behauptet meine Mutter würde ihn schicken – soll ich da einfach so mitgehen? Er hätte dich ja abschlachten und mich in eine Falle locken können!“
Neben ihr lachte Marco auf. Luna kniff die Augen zusammen. Es war nicht lustig, überhaupt nicht, aber das verstand jemand wie er offensichtlich nicht.
„Jetzt hör sofort auf! Marco und ich sind seit kurzem zusammen. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn ihr euch kennenlernt …“ Ihre Mutter presste die Worte heraus, Luna konnte ihr anhören wie schwer es ihr fiel sie nicht wieder anzuschreien.
„Vielleicht versuchst du das nächste Mal das Denken auf die Arbeit zu beschränken!“
„Luna! Hör endlich mit diesem Theater auf! Du wirst dich jetzt bei Marco entschuldigen und dann fährst du mit ihm nach Hause. Hast du mich verstanden?“
Einen Teufe werde ich, dachte sie, aber sie sagte es nicht.
„Laut und deutlich“, antwortete sie stattdessen.
„Gut, wir sehen uns nachher!“ Ihre Mutter legte auf, ohne ihr die Chance auf eine Antwort zu geben.
Einfach so. Als wäre jetzt alles gesagt. Die Hand zur Faust geballt steckte Luna das Handy zurück in die Tasche.
„Alle Fragen geklärt?“ Ertönte die Stimme dieses Marcos betont fröhlich neben ihr. „Wenn du willst, können wir noch bei Mac Donalds vorbeifahren – ich denke, Michaela wird noch ein wenig brauchen.“
Hatte der Typ noch alle Tassen im Schrank? Für wie alt hielt er sie? Glaubte er, wenn er sie auf ein Kindermenü einlud, wäre die Welt wieder in Ordnung? Glaubte er das wirklich, oder war er einfach nur zu dumm, um irgendetwas zu verstehen?
„Nein, danke.“ Mit Mühe unterdrückte sie den Impuls gegen ihren Rucksack zu treten.
Marco lachte wieder, als hätte sie einen furchtbar guten Witz gemacht.
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen hob sie den Rucksack auf. „Können wir dann, oder soll ich mir ein Taxi rufen?“
Er stellte sich neben sie und klopfte ihr auf die Schulter. Komplizenhaft, verschwörerisch. „Weißt du, ich an deiner Stelle wäre wahrscheinlich auch aus allen Wolken gefallen, wenn plötzlich ein wildfremder Typ auftauchen würde, um mich abzuholen …“
Sie verdrehte die Augen und entschied, so zu tun als hätte er nichts gesagt. Als ob dieser Freak irgendetwas verstehen würde. Als ob er wüsste, was zwischen ihr und ihrer Mutter war. Als ob.
(Luna)
Bis nächste Woche, viele Grüße,
Kryps
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