Das hier war die Probeszene für die Reihe. Manchmal frage ich mich, was es mit dem blonden Mädchen auf sich hat, und was sie wollte. Oder wie das Mädchen ohne Gedächtnis wohl reagieren wird, wenn sie im Krankenhaus die Kaugummipackung wieder aus der Tasche zieht und eine Adresse darauf finden wird. Und wo die Adresse sie hinführt.
Vielleicht schreibe ich diese Geschichte eines Tages zu Ende. Oder vielleicht schreibt jemand anderes sie, wer weiß? Ach, es gibt so viele Geschichten, die erzählt werden wollen …
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen, manche Passagen werdet ihr auch im Buch wiederfinden, das Mädchen leider nicht. Aber dafür taucht ja jetzt Elias auf, das ist ja auch nicht schlecht, oder? Wenn ihr Lust habt, dann kommentiert doch, ob die Szene euch neugierig macht hat oder nicht. Ich bin gespannt!
Niemandsland
Aufwachen fühlt sich an, wie aufsteigen von ganz tief unten. Auf halber Strecke kann ich nicht mehr. Fast so, als hätte ich tagelang nicht geschlafen. Bin müde, so müde.
Der Boden, auf dem ich liege, ist hart und drückt gegen meine Schulter. Ich taste mit den Fingern, Grashalme streichen über meine Haut. Es kitzelt.
Ein Windhauch bläst mir ins Gesicht. Er riecht nach Sommer und nach Regen. Ich lächle und erschrecke im selben Augenblick über meine Lippen, die aneinander kleben, völlig ausgetrocknet. Hoffentlich kommt er bald, der Regen.
Einmal noch einatmen und ich öffne die Augen.
Über mir der leuchtendblaue Himmel, so blau, wie …
wie …
Ich versuche das Bild zu greifen, an das mich dieser Himmel erinnert, aber es lässt sich nicht einfangen.
Leuchtendblau, nicht hell, aber auch nicht dunkel, so, wie …
wie …
Ich weiß es nicht mehr. Aber ich muss es wissen. Warum weiß ich es nicht?
Bevor der Gedanke mich verrückt machen kann, stemme ich mich hoch. Ein Stechen jagt quer durch meinen Brustkorb, reißt an mir, und fast kippe ich zurück ins Gras. Mit aufgerissenem Mund versuche ich zu atmen, aber sie ist weg, die Luft. Einfach weg.
Scheiße! Was ist das? Ersticke ich jetzt? Ich höre mich japsen, versuche im Sekundentakt Luft in meine Lunge zu pressen und kann es nicht. Gleißend weiße Sternchen flimmern vor meinen Augen. Gleich verliere ich das Bewusstsein. Gleich werde ich umfallen und aufhören zu atmen. Meine Fingerspitzen bohren sich in die ausgetrocknete Erde. Selbst zum Schreien fehlt mir die Luft. Das Gras vor mir verschwindet hinter einem schwarzen Mantel, nur noch die Sternchen flimmern in meinem Gesichtsfeld. Ich verliere die Kontrolle und es gibt nichts, was ich tun kann. Nichts, womit ich mich retten kann.
„Ausatmen. Du musst dich aufs Ausatmen konzentrieren.“ Es ist die Stimme von einem Kind.
Sie kommt mir bekannt vor, oder auch nicht, ich bin mir nicht sicher. Ich bin so konzentriert auf den Nachklang dieser Stimme, ich vergesse meinen Atem und plötzlich geht es wieder wie von selbst. Nur das Stechen bleibt. Bei jedem Einatmen bohrt es sich in meine Brust. Aber es geht, solange ich nicht zu viel Luft hole. Langsam verschwindet der schwarze Mantel und zwischen den Sternchen schimmern Grashalme.
Ich hebe den Kopf und sehe mich um.
Vor mir stehen mit wildem Wein bewachsene Bögen über einem Weg. Rechts von mir ist eine Mauer und links führt eine Treppe einen Hügel hinunter. Neben der Treppe sitzt ein Mädchen, lässt die Füße baumeln und sieht mich an. Sie trägt ein knallrotes Sommerkleid, die blonden Haare sind zum Zopf geflochten, ihre tiefblauen Augen beobachten mich.
Tiefblau, wie der Himmel über mir.
„Hallo Klara, was ist passiert?“
Klara? Ich drehe mich um, aber es sitzt niemand außer mir auf dem kleinen Stück Wiese zwischen den Mauern.
„Ich heiße nicht Klara“, sage ich und versuche zu lächeln.
Das Mädchen legt den Kopf schief. Wie alt ist sie? Dem Gesicht nach zu urteilen vielleicht fünf oder sechs, so alt wie …
wie wer?
„Nicht? Wie heißt du dann?“, fragt sie und ich sehe die Grübchen an ihren Wangen.
„Ich … ich heiße … ich …“
Scheiße! Wie heiße ich? Das gibt es doch nicht, oder? Ich heiße … verdammt! Meine Gedanken lassen sich nicht fokussieren. Es fühlt sich an, als wäre ich aus mir selbst ausgesperrt, irgendwo im Niemandsland. Vor mir ein riesiges, schwarzes Loch. Bin ich dort verloren gegangen?
Das Mädchen lacht. „Ich hab dir fast geglaubt! Was ist passiert, Klara?“
„Ich … es … ich …“
Was ist passiert? Ich bin vor dem Loch und kann nicht springen. Was, wenn ich mich auflöse?
„Was machst du?“, fragt das Mädchen.
Ich stehe auf den Füßen und wanke mehr, als das ich gehe. Auf die Torbögen zu.
„Ich muss nach Hause“, murmle ich.
Sie springt auf und läuft neben mir her.
„Nach Hause?“, fragt sie und es klingt, als ob es überhaupt keine Frage wäre.
„Ich … hör zu: Musst du nicht auch nach Hause? Es wird bald dunkel. Wo sind denn deine Eltern?“
Warum lässt sie mich nicht in Ruhe? Sie bleibt stehen und sieht mich an. In ihren Augen liegt eine Traurigkeit, aber ihr Mund lächelt. Eine seltsame Mischung.
„Ich weiß, wo du wohnst. Soll ich dich nach Hause begleiten, Klara?“
Etwas an der Art, wie sie mir das vorschlägt, jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Soll ich dich nach Hause begleiten?
Ich drehe mich weg und laufe so schnell ich kann aus dem Park. Meine Augen scannen im Bruchteil einer Sekunde die Umgebung. Autos am Straßenrand. Laternen, die schon eingeschaltet sind, obwohl es noch nicht dunkel ist. Gegenüber, ein Hotel. Links, auf der nächsten Querstraße, eine Baustelle. Es dauert einen Moment, ehe ich verstehe wonach ich suche. Ein Fixpunkt, irgendetwas, woran ich mich erinnern kann.
„Vielleicht ist es besser, wenn du ins Krankenhaus gehst, Klara?“ Das Mädchen steht wieder neben mir.
„Ich bin nicht Klara! Lass mich in Ruhe, ja? Lass mich endlich in Ruhe! Du musst nach Hause gehen, deine Eltern suchen dich bestimmt schon!“
Ich will mich wieder wegdrehen, aber ihre Worte erreichen mich, bevor ich gehen kann.
„Glaubst du nicht, deine Eltern machen sich Sorgen, Klara?“
Ich bleibe stehen und sehe sie an. „Wer bist du?“
Sie lächelt, so, als müsste ich wissen, wer sie ist. Aber ich weiß es nicht.
„Was glaubst du, Karla?“
„Ich glaube überhaupt nichts, ich … Moment! Hast du mich eben Karla genannt?“
„Habe ich?“ Wieder ist dieses Lächeln in dem Kindergesicht.
Sie sieht harmlos aus, wirklich. Trotzdem, irgendetwas versucht sich in mein Bewusstsein zu drängen. Ein Bild blitzt auf, aber in dem Moment, in dem ich hinsehe, ist es wieder weg.
„Ich muss gehen“, sage ich und laufe die Straße hinunter, weg von der Baustelle.
„Wohin?“, fragt sie und hüpft neben mir her.
Wohin?
Ich bleibe stehen. Rechts ein Drogeriemarkt, links, auf der anderen Straßenseite, ein Supermarkt, die Post und dazwischen ein Durchgang.
Wo bin ich?
Meine Atmung wird schneller, ich spüre ein Flimmern in der Magengegend und weiß nicht, wie ich mich beruhigen soll. Ich weiß nicht wo ich bin. Was aber viel schlimmer ist, ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich sehe an mir herunter. Helle Jeans mit Grasflecken an den Knien, knallrote Converse, so rot wie das Kleid des Mädchens, mit einer braunen Kruste um die Sohlen und ein gelbes Shirt, bedruckt mit einem in Weiß eingerahmten blauen Schriftzug: Totally Unique.
Nichts von den Klamotten kommt mir bekannt vor. Ich greife in die Taschen der Jeans, hoffe einen Hinweis zu finden, irgendetwas, das mir sagt, wer ich bin. Einen Zettel vielleicht, oder, besser noch, einen Ausweis mit meinem Bild.
Bis auf einen Streifen Kaugummi sind sie leer. Ich schmeiße ihn auf den Boden. Das Mädchen hebt ihn wieder auf. Sie lächelt immer noch.
„Wenn du willst warte ich mit dir, bis der Krankenwagen kommt. Oder ich bring dich nach Hause. Was ist dir lieber?“
Wie bitte? Welcher Krankenwagen? Ich brauche keinen Krankenwagen, alles, was ich brauche, bin ich.
Wo bin ich?
„Wer bist du?“, frage ich noch einmal.
Sie hält mir den Kaugummi hin und ich stecke ihn wieder in die Tasche.
„Die wirkliche Frage ist doch, wer bist du. Klara? Karla? Wer willst du sein?“, antwortet sie.
„Ich … ich bin … ich …“ Ich schließe die Augen und springe. Doch als ich die Augen wieder öffne, stehe ich noch immer im Niemandsland. Als wäre ich nie gesprungen. „Scheiße! Ich bin ich, okay? Lass mich in Ruhe!“
Sie legt den Kopf schief, immer noch dieses blöde Lächeln im Gesicht. „Wie du willst, Klara-Karla.“
In ihren tiefblauen Augen blitzt die Frage wieder auf.
Wer bist du?
Der Boden unter meinen Füßen bricht weg. Ich stürze und es gibt nichts, was mich hält. Kein Gesicht, kein Geruch, nicht einmal ein Fragment, oder ein Name.
Nichts.
Die Erkenntnis trifft mich wie eine Welle, die mich nach unten reißt. Ich ersticke. Und obwohl es nicht sein kann, fühlt es sich an, als würde ich nicht existieren. Als wäre ich nie geboren. Nichts ist an der Stelle, an der Erinnerungen sein müssen. Nichts, außer diesem viel zu großen, schwarzen Loch. Es löscht mich aus. Es ist ein Virus, der meine Erinnerungen frisst. Solange, bis meine Festplatte tot ist. Solange, bis meine Existenz gelöscht ist. Elektroschrott. Unbrauchbar.
Ich denke, also bin ich, schießt mir durch den Kopf. Ich denke, also bin ich. Ich bin.
Einatmen … Ausatmen … Einatmen
Ich bin.
Aber wer?
Ich gehe auf den Drogeriemarkt zu und versuche mein Spiegelbild in der Scheibe zu sehen. Ich muss in die Hocke gehen, weil sie genau auf Kopfhöhe bunte Schmetterlinge aufgeklebt haben. Das Gesicht eines Mädchens mit zerzausten, blonden Haaren starrt mir entgegen. Sie ist vielleicht fünfzehn, oder sechzehn.
Ich bin fünfzehn oder sechzehn?
In der Ferne klingen Sirenen.
Ich mustere die Gesichtszüge, die meine sein müssen, aber nichts in mir wachrufen. Die tiefblauen Augen, die mich aus dem Schaufenster heraus ansehen, sind mir fremd.
Tiefblau, wie der Himmel über mir.
Ich kann mich nicht lösen, von der Spiegelung dieses Mädchens, die mir vertraut sein müsste und es nicht ist.
Wer ist sie?
Mein Magen krampft, und ich schiebe den Gedanken weg.
Die Sirenen werden lauter. Ich drehe mich zu dem kleinen Mädchen, das auf dem Gehsteig stehen geblieben ist und mich beobachtet.
„Okay“, sage ich und versuche das Stechen in meinem Burstkorb zu ignorieren. „Bring mich nach Hause.“
Es ist ein Fehler, bestimmt ist es ein Fehler.
Trotzdem, sie ist die einzige Chance, die ich habe.
Sie schüttelt den Kopf.
„Es ist zu spät“, flüstert sie.
„Wie bitte?“
Bevor sie mir antworten kann, kommt ein Krankenwagen neben uns zum Stehen. Türen öffnen sich und zwei Männer springen heraus. Sie gehen auf uns zu. Ich packe das Mädchen an der Hand.
„Lauf!“, schreie ich, drehe mich um und zerre sie hinter mir her.
Aber ich bekomme kaum Luft, kann nicht richtig rennen und schon nach drei Metern holen die Männer uns ein. Sie fassen mich an der Schulter, halten mich fest.
„Das ist das Mädchen!“, sagt einer von ihnen und ich weiß nicht ob er von mir, oder von ihr spricht.
„Lassen Sie mich los!“ Ich boxe gegen seinen Brustkorb.
„Jetzt mal ganz ruhig, Kleine“, sagt der, der noch lauter schnauft als ich.
Er ist dick und auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. „Wie heißt du?“
„Ich … ich heiße Karla“, sage ich, weil es der erste Name ist, der mir einfällt.
„Und wie noch?“
„Karla … Karla …“
Er nickt, als hätte ich seine Frage beantwortet. „Und wo wohnst du?“
„Nicht weit von hier.“
Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht seinen Kollegen an.
„So, so, und in welcher Straße?“, fragt der.
Ich sehe mich um, suche nach einem Straßenschild, kann aber keines finden. „Hören Sie, was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe überhaupt nichts gemacht!“
„Jemand hat in der Leitstelle angerufen und uns von einem orientierungslosen Mädchen erzählt. Wie es aussieht kannst du uns weder deinen Namen, noch deine Adresse nennen. Wir bringen dich besser erst mal ins Krankenhaus.“
„Wer hat bei der Leitstelle angerufen? Wer?“, schreie ich ihn an, als ob mir diese Information weiterhelfen könnte.
Was wollen sie von mir? Ich schaue zu dem Mädchen. Sie steht zwei Schritte neben mir und sieht mich mit ihren tiefblauen Augen an.
Die Männer tauschen einen Blick, und der mit den Schweißperlen auf der Stirn antwortet endlich. „Keine Ahnung. Irgendwer eben. Komm jetzt bitte mit, besser ein Arzt schaut nach dir und zur Not rufen wir die Polizei. Die finden schon heraus, wo du wohnst. Okay?“
„Das ist nicht nötig. Das Mädchen weiß wo ich wohne, sie kennt auch meine Eltern. Sie kann mich nach Hause bringen.“
Der Mann sieht mich an. „Welches Mädchen?“
Ich sehe zur Seite, aber die Stelle, an der sie eben noch stand, ist leer. Das gibt es nicht! Der einzige Mensch, der mir helfen kann, ist weg? Ich muss sie suchen, sofort. Ich muss sie finden, ich darf sie nicht verlieren. Ich versuche mich loszureißen, aber die beiden Männer halten mich fest. Sie nehmen mich in ihre Mitte und tragen mich mehr, als das ich selber laufe, zum Krankenwagen.
Ich strample, schreie, kreische.
Passanten bleiben stehen, sehen mich an, aber niemand hilft mir. Auf offener Straße werde ich gegen meinen Willen in den Krankenwagen gezerrt und niemand tut etwas. Das geht doch nicht, oder? Das dürfen sie nicht, ganz sicher nicht!
Drinnen werfe ich mich gegen die Tür, hämmere an die Scheibe, aber es hilft nicht.
Jemand startet den Motor und ich gebe auf. Ich starre nach draußen auf den mittlerweile schwarzblau gewordenen Himmel, suche die Straße nach dem Mädchen ab, kann sie nicht finden und stütze meinen Kopf in die Hände. Plötzlich setzt er ein, der Regen, den ich vorhin schon gerochen habe. Die Tropfen prasseln gegen das Dach und laufen die Scheiben hinunter. Ich werde ruhiger.
Im Augenwinkel sehe ich die Blicke der beiden Männer. Sie schauen mich an, als wäre ich eine Verrückte.
Vielleicht bin ich das? Ver-rückt.
Der Krankenwagen fährt ohne Sirene los. Durch das Seitenfenster behalte ich den Drogeriemarkt im Auge, bis wir um die Kurve biegen.
Und alles, was ich weiß, ist, ich muss hierher zurückkommen. Ich muss sie wiederfinden. Koste es, was es wolle.
Samstag, 30. Juli 2016
Niemandsland
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Heidrun was ist Dein Weg, wo willst Du hin, was ist die Aussage?
AntwortenLöschenAnonym, 42 ist die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. ;)
AntwortenLöschenIch verstehe leider nicht worauf Du mit Deinen Fragen hinaus willst?
Viele Grüße & schönen Sonntag,
Kryps