Samstag, 29. Juni 2013

Und brannte im Herzen die Schuld


Gaspard zügelte sein Pferd und ließ den Blick über das vor ihm liegende Anwesen schweifen. Hier wohnte er also, dieser William, der vor siebzehn Jahren Gaspards Leben eine neue Richtung gegeben hatte. Etwa ein halbes Jahr nachdem der englische Bastardkönig 1425 nach Reims zu seiner Krönung gezogen war. Ein Engländer mit der französischen Krone auf dem Kopf. Von nichts anderem mehr hatten die Leute damals gesprochen. Die Schmach vor einem Engländer das Knie beugen zu müssen wiegte schwerer als die Sorge etwas zu Essen für die Familie auf den Tisch zu bekommen.
William aus Ringwood. Allein der Klang dieses Namens schnürte Gaspard die Kehle zu und sein Herz verdreifachte den Takt. Als spüre es seine Unruhe scharrte das Pferd schnaubend mit dem Huf im Dreck. Die Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken und er trieb das Tier den Hügel hinunter.

„So, einer vom Festland? Mir war nicht bekannt, dass der König jetzt mit dem unterjochten Feind zusammenarbeitet? Wie heißt Du?“ Die steingrauen Augen dieses Williams musterten den jungen Mann, als sei er ein Pferd, das dem Herrn zum Kauf angeboten wurde.
Gaspard zwinkerte, er hatte Schwierigkeiten dem Blick standzuhalten. Etwas griff nach seinem Magen und drückte so fest zu, dass er sich übergeben wollte. Er merkte, dass seine Finger zitterten während ihm gleichzeitig der Schweiß auf der Stirn stand. Mit beiden Händen wischte er sich über das Gesicht.
„Pierre.“ Schnell steckte er den Brief mit dem königlichen Siegel wieder in die Tasche.

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„Hier ist das Siegel – bist Du sicher, dass Du weißt, was Du da tust?“ Jean sah Gaspard in die Augen.
„Du würdest das Selbe tun, wenn es Deine Mutter gewesen wäre.“ Die Stimme klang fest, aber Gaspard wich dem Blick seines Freundes aus.
„Wenn sie Dich erwischen, hängst Du dafür am Galgen.“
„Ich weiß.“ Gaspard drehte sich zum Fenster und beobachtete wie der Stallbursche ein Pferd über den Hof führte.
Jean legte die Hand auf seine Schulter. „Du weißt, dass niemand Dich mit uns in Verbindung bringen darf. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Onkel meinen Vater schützen würde.“
Gaspard nickte. Wahrscheinlich würde Philipp le Bon seinen Bruder ausliefern.
„Ich weiß was auf dem Spiel steht. Vertraue mir, niemand wird erfahren woher ich dieses Siegel habe!“ Er drückte Jeans Hand.
Ein letzter Blick zwischen den beiden Freunden ehe Gaspard aus dem Raum eilte. Er verlor kein Wort über Jacques und dessen Kontakte. Seine Finger tasteten nach dem Siegel. Sie brauchten nur eine Vorlage, um es glaubwürdig kopieren zu können.

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„Ah, ein durch und durch französischer Name. Zu schade, dass es kein Frankreich mehr gibt!“ Ein Grinsen zog Williams Mundwinkel zu einer Fratze auseinander.
Gaspard presste die Lippen zusammen. Bilder tauchten auf, unerwartet und heftig. Um seine Balance zu halten musste er sich mit einer Hand gegen eine Kommode stützen, die im Flur an der Wand stand. Es war die Stimme, es musste die Stimme gewesen sein und die Art, wie er die Worte betonte. Vielleicht war es auch dieses Grinsen mit genau dem er Gaspard vor siebzehn Jahren angesehen hatte.

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Gaspard schleppte zwei Wassereimer vom Brunnen zum Wirtshaus. Die Sonne stand hoch und er schwitzte unter ihrem Gewicht. Hier im Grenzgebiet zur Grafschaft Vemandois war das Leben nach Ende des Krieges ruhig und friedlich. Die Grafschaft war Gebiet der Burgunder und obschon das Dorf und das Gasthaus zum von den Engländern besetzten Frankreich gehörten, bot der Schatten Burgunds den Bewohnern eine gewisse Sicherheit vor den Beutezügen der englischen Armee. Dennoch sympathisierte man hier weder mit den Engländern noch hatte der Graf von Vemandois ein hohes Ansehen. Die Männer in der Wirtschaft schimpften abends beim Bier über die Burgunder und deren Verrat am Vaterland, ohne die es den Engländern niemals möglich gewesen wäre einen Fuß auf französischen Boden zu setzen. Geschweige denn nach der Krone zu greifen.
Hufschlag störte die Stille des Tages. Gaspard wandte sich um, am Horizont sah er eine Gruppe Reiter, die sich im schnellen Tempo dem Dorf näherte. Die Wassereimer glitten ihm aus der Hand. Im nächsten Moment packte jemand den Jungen an der Schulter.
„Gaspard, schnell, weg von der Straße!“ Seine Mutter zerrte ihn hinter sich her.
„Was ist los? Wer ist das?“ Er stolperte.
Sie zog ihn in die Schmiede, schloss die Tür und verkroch sich mit ihm zusammen hinter einem Stapel Kisten an der Wand. Gaspard fasste nach ihrer Hand, sie war kalt. Er sah in ihr Gesicht und merkte dass alle Farbe daraus gewichen war.
„Mama, was ist los?“ Auf der Suche nach einer Antwort studierte er ihre Mimik.
Aber sie zog ihn nur zu sich, schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen. Einige Minuten später hörten sie draußen Pferde wiehern, Schreie, von denen er glaubte die Stimmen zu erkennen und das Bellen von Hunden. Gaspards Herzschlag war so laut, dass er fürchtete man könne ihn bis zur Dorfgrenze hören. Er verstand nicht was vor sich ging, aber er hoffte dass die Männer mit den rauen Stimmen nicht zu ihm und seiner Mutter in die Schmiede kamen.

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„Was ist? Habe ich Deinen Nationalstolz verletzt?“ Williams Lachen drang in seine Gedanken. „Es ist unglaublich, wie ein Volk voller Dilettanten nach siebzehn Jahren noch um sein Vaterland trauert!“
Gaspard zwang sich zu einem Lächeln. „Zum Glück hat sich England unserer angenommen und mir die Möglichkeit gegeben die Insel kennen zu lernen!“
Er zweifelte genug Seife in diesem Haus zu finden, um sich die Lügen wieder aus dem Mund waschen zu können. William musterte ihn einen Augenblick.
„So gefällst Du mir, mein Junge! Du kannst im Stall schlafen, aber vorher kommst Du in den Salon, trinkst mit mir und unterhältst mich mit Deinen Reisegeschichten!“ Er klopfte ihm auf die Schulter und ging voran.
Gaspard beobachtete wie William im Gehen ein Bein nachzog. Seit wann lud man Boten in den Salon ein?

Eine Frau, nicht einmal so alt wie Gaspard, reichte ihnen die Getränke. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Sie sah aus, als würde sie kaum etwas essen und ihr Gesicht und ihre Haut hatten die Farbe einer Toten. Ein starker Kontrast zu den schwarzen Locken, die die Wangenknochen umrahmten. William klopfte ihr auf den Hintern.
„Das Beste vom Festland sind die Frauen!“ Er lachte auf. „Mit ihnen kann man Dinge im Bett machen, die würde sich keine anständige englische Frau gefallen lassen.“
Das war es also. Der Alte hatte ihn nur herein gebeten um ihn und sein Land weiter zu demütigen. Die Frau sah zu Boden und eilte mit geröteten Wangen aus dem Raum. Gaspard zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf das Glas in seinen Händen.

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Mit einem Knall flog die Tür auf und das Licht der Sonne leuchtete verräterisch in die Schmiede. Seine Mutter drückte ihn weiter nach unten. Fünf Männer stürmten den Raum und fingen an die Kisten zu durchsuchen. Einer näherte sich ihrem Versteck. Gaspard sah, dass der als Einziger ein Wappen trug. Ein Schwert, das auf dem Knauf stand und oben wuchs eine Blume aus der Klinge. Er beugte sich ein Stück nach vorne, um es genauer betrachten zu können. Plötzlich hielt der Mann inne und starrte ihn an. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Er rief den anderen Männern etwas in einer fremden Sprache zu und zerrte Gaspard aus seinem Versteck.
Seine Mutter sprang auf und warf sich dem Mann vor die Füße. Später fragte sich Gaspard oft, ob die Soldaten sie vielleicht übersehen hätten, wenn sie still geblieben wäre. Vielleicht hätten sie ihn dann einfach nur aus der Schmiede gejagt.
„Gnade, bitte meine Herren, habt Gnade! Was hat mein Sohn euch getan?“
Der Soldat mit dem Wappen schupste Gaspard in die Hände eines seiner Kameraden. Er kniete sich zu Gaspards Mutter, hob ihr Kinn und sagte etwas in seiner fremden Sprache, ohne dass er sie aus den Augen ließ. Das Lachen der Männer hallte durch die Schmiede. Es klang für Gaspard wie Donnergrollen kurz vor einem Gewitter. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er beobachtete wie einer der Männer nach draußen lief. Seine Mutter hielt dem Blick des Wappenträgers stand. Zwei Soldaten packten sie und drückten sie gegen eine Wand. Sie wehrte sich und schrie die Männer an, aber die lachten sie nur aus.
„Nein!“ Gaspard versuchte vergebens sich freizuwinden.
Der Soldat der ihn festhielt gab ihm eine Ohrfeige. Gaspard fror in der Bewegung ein und starrte den Mann fassungslos an. Die Tür flog wieder auf und ihr Kamerad kam mit einem weiteren Mann zurück. Aber das konnte kein Soldat sein, denn er trug keine Waffe. Der Mann mit dem Wappen sagte etwas zu dem Waffenlosen und der beeilte sich sich vor ihm zu verbeugen ehe er sich an Gaspards Mutter wandte.
„Ist das Dein Sohn?“ Er sprach perfektes Französisch, allerdings einen Dialekt, den Gaspard noch nie gehört hatte.
Seine Mutter nickte. Der Mann sprach mit dem Wappenträger, auf dessen Gesicht sich ein Grinsen breit machte. Erneut rief er seinen Kameraden etwas zu und sie gaben ihm Antwort. Ihr Lachen verursachte ein Kribbeln in Gaspards Magen. Er tauschte einen Blick mit seiner Mutter, konnte aber nicht erraten was in ihr vorging. Schließlich sagte der Wappenträger etwas zu seinem Übersetzer. Der starrte ihn an. Einer der Soldaten gab ihm einen Schubs und drückte ihm den Knauf seines Schwertes in den Rücken. Er hob die Hände, nickte und wandte sich an Gaspards Mutter, sah ihr jedoch nicht in die Augen. „Sie wollen ihren Spaß mit Dir haben und Dein Sohn soll zusehen.“
Gaspard starrte ihn mit offenem Mund an, ohne genau zu verstehen wovon er gesprochen hatte.
„Was …“ Seine Mutter riss die Augen auf und sah zu Gaspard.
Grinsend nickte der Wortführer seinen Kameraden zu. Der eine, der weder Frau noch Junge hielt, stellte sich neben ihn.
„Nein, das, nein, das dürft ihr nicht tun!“
Gaspard war überrascht über die Wut in der Stimme seiner Mutter.
Der mit dem Wappen gab dem Soldaten neben sich ein Zeichen und der schlenderte zu Gaspards Mutter, die von seinen beiden Kameraden immer noch gehalten wurde und riss ihr die Kleider vom Leib. Gaspard hörte die Schreie seiner Mutter und suchte sich loszureißen, aber vergebens. Völlig nackt stand sie vor sechs fremden Männern. Der Übersetzer wandte sich ab. Schutzlos war sie diesen Kerlen ausgeliefert, die Gaspard mehr wie Tiere als Menschen vorkamen. Er musste sie schützen, er war ihr Sohn und er hatte es Vater doch versprochen.
Aber er war zu schwach für den Soldaten, der ihn an den Armen hielt. Hilflos musste er mit ansehen wie der Wappenträger sich vor seine Mutter stellte, die Hose öffnete, mit Gewalt ihre Schenkel auseinanderdrückte, um sich seine Befriedigung bei ihr zu holen. Gleichzeitig mit ihrem hallte Gaspards Schrei durch die Schmiede und war diesmal mit Sicherheit bis zum Waldrand zu hören. Der Soldat, der ihn hielt, gab ihm lachend einen Schlag auf den Hinterkopf und feuerte mit seinen Kameraden den Wappenträger an.
„Nein! Nein! Nein!“ Gaspard warf sich nach vorne.
Die Finger des Soldaten schnitten ihm das Blut an den Armen ab, aber er spürte es nicht. Seine Mutter starrte zu ihm hinüber. Ihr Blick jagte ihm einen Schauer ein. Es war, als würde sie durch ihn hindurchschauen und gleichzeitig sah er eine Träne ihre Wange hinunter laufen. Schnell blickte er zu Boden. Aber auch wenn er sie jetzt nicht mehr sah, dröhnte ihm dennoch das Stöhnen des Wappenträgers ebenso in den Ohren, wie die Rufe und das Gelächter der Männer. Plötzlich war ihm kalt. Er starrte auf seine Füße, den Blick verschwommen, und versuchte alle Geräusche auszublenden.
Ein letztes Aufstöhnen, dann war der Wappenträger fertig. Er ließ ab von ihr und überließ sie seinen Kameraden. Einer nach dem anderen öffnete die Hose und verging sich an ihr. Wenn sie sich wehrte oder den Kopf wegdrehte, wenn einer versuchte sie zu küssen, schlugen sie ihr ins Gesicht und brüllten sie an. Genau vor Gaspard baute der Mann mit dem Wappen sich auf, er verschränkte seine Arme und beobachtete jede Regung im Gesicht des Jungen. Dabei lag ein Lächeln auf seinen Lippen, das Gaspard den Magen umdrehte. Erst als der letzte Soldat mit ihr fertig war sah Gaspard wieder zu seiner Mutter hin. Sein Herz blieb einen Moment stehen. Wie ein ausgedientes Werkzeug hatten sie sie auf dem Boden liegen lassen. Immer noch nackt suchte sie mit Armen und Beinen ihren Körper zu verdecken. Ihr Gesicht war feucht und er konnte die Spuren der Fäuste darauf sehen. Sie zitterte. Gaspard war sich nicht sicher, ob aus Kälte oder Angst oder vielleicht beides zusammen. Er hörte sie wimmern und sah weg, sein Blick streifte ein Schwert am Gürtel eines der Soldaten. Jeden Muskel angespannt wünschte er sich dieses Schwert in die Hände, um dem Mann mit dem Wappen das Lachen aus dem Gesicht zu schlagen. Aber sein Wunsch blieb unerhört.

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„So, warum genau bist Du nun unterwegs?“ Die steingrauen Augen durchbohrten Gaspard.
Er sah auf und zuckte mit den Schultern. „Wer weiht schon den Boten in Einzelheiten ein?“
„Verstehe.“ William stand auf, schlurfte zum Kamin und ordnete mit dem Schürhacken die brennenden Holzscheite. „Ein sehr altes Siegel hast Du da. Erstaunlich, dass unser König es wieder verwendet.“
Gaspard wäre fast das Glas aus der Hand gefallen. Er stellte es auf ein Tischchen und richtete sich auf. „Ich bin nur der Bote. Von Politik verstehe ich nichts.“
Der Alte nickte und setzte sich in einen Sessel seinem Gast gegenüber. Ein großer, grauer Hund legte sich ihm zu Füßen und beäugte den Fremden.
„Was ist mit Deiner Hand passiert?“
Gaspard starrte auf seine rechte Hand. „Ach das. Ein Unfall als ich noch ein Kind war.“
Mehr sagte er nicht.
„Mit nur einer Hand bist Du ein Krüppel, oder nicht?“
Gaspard formte mit seinen Fingern eine Faust, sie schloss nicht richtig. „Das Greifen mit der hier ist anders, aber ich habe gelernt damit umzugehen.“ Sein Blick fiel auf den Hund. „Ist wie mit einem Tier, das ein Bein verliert. Ein Jahr später kann man es auf drei Beinen rennen sehen, wie die anderen auch.“
Das Lachen des Alten schnitt wie ein scharfes Messer durch Gaspards Fleisch.
„Du gefällst mir!“ Die steingrauen Augen fixierten ihn wieder. „Was genau ist passiert?“
Gaspard starrte weiter auf den Hund. „Ein Feuer. Ich hatte Glück dass ich es lebend raus geschafft habe.“
„So, ein Feuer. Warst Du alleine?“ William drehte das Glas in den Händen ohne seinen Gast aus den Augen zu lassen.
„Nein.“ Gaspard schüttelt den Kopf. „Meine Mutter kam wegen mir in die Scheune.“ Er hob den Blick und starrte auf den Kamin im Rücken des Alten. „Sie hat es nicht überlebt.“

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Gaspard presste die Lippen aufeinander und starrte dem Wappenträger ins Gesicht. Wieder sagte er etwas in seiner fremden Sprache, ließ das Kind nicht aus den Augen und gab dem Übersetzer einen Wink. Der schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin. Aber der Wappenträger zischte ihn an und deutete auf zwei der Soldaten, die ihre Waffen zogen. Der Mann fasste sich an die Stirn und ging vor Gaspard in die Hocke.
Er flüsterte mehr, als das er sprach. „Er will Deine Mutter töten und Dich glauben machen Du könntest sie retten…“
Das Schnauzen des Wappenträgers unterbrach ihn. Sofort hob er beschwichtigend die Hand und nickte.
Im normalen Tonfall sprach er weiter, aber er sah Gaspard eindringlich an. „Er sagt dass Du diesen heißen Stein so lange halten musst, bis er bis zehn zählt. Dann soll sie leben.“
Gaspard starrte ihn an und dann hinüber zu seiner Mutter. Einer der Soldaten hielt einen Dolch an ihren Hals. Sie sah zu ihm, aber in ihren Augen lag kein Leben. Ohne zu begreifen nickte er.
„Streck Deine Hand aus.“, flüsterte der Mann.
Gaspard sah ihm einen Moment in die Augen, doch der Übersetzer wich dem Blick des Jungen aus. Wieder schaute er zu seiner Mutter, ihm war als würde sie den Kopf schütteln. Sein Blick fiel auf den Stein, den einer der Soldaten mit einer Zange vor ihn hielt. Er streckte die Hand nach vorne. Kurz bevor der Stein seine Haut berührte konnte er die Hitze bereits spüren. Feuer peitschte von seiner Hand den Arm entlang. Er schrie, beinahe hätte er im Reflex losgelassen, aber er erinnerte sich an den Dolch am Hals seiner Mutter und an das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte. Der Schmerz zwang ihn in die Knie und es kostete ihm seine ganze Willensstärke den glühenden Stein festzuhalten. Das Lachen der Soldaten schlug ihm um die Ohren, er versuchte sich auf seine Mutter zu konzentrieren.
„Un … deux … trois … quatre …“ Der Wappenträger zählte auf Französisch und er ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen, als wären es nicht Zahlen sondern Delikatessen, deren Geschmack er genießen musste. „Cinq … six … sept …“
Gaspard spürte wie die Hitze seine Hand zerfraß. Er schrie und jaulte wie ein Hund, der seine Pfote in einer Bärenfalle verklemmt hat. Nicht loslassen, nur nicht loslassen! Halte durch, Du hast es gleich geschafft! Plötzlich bekam er Panik, er konnte seine Hand nicht mehr spüren. Er zwang seinen Blick auf den Stein, um sicherzugehen, dass er ihn noch hielt. Der Geruch von verbranntem Fleisch setzte sich in seiner Nase fest. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Er sah zu seiner Mutter, aber die hatte ihren Blick auf den Boden gerichtet. Wut keimte in ihm auf. Er stieß einen Schrei aus, der nichts menschliches mehr hatte. Die Augen seiner Mutter sahen ihn an und er glaubte Tränen in ihnen glitzern zu sehen.
„Huit …“ Der Wappenträger verschränkte die Arme.
Gaspard sah zu ihm auf. Neuf! Dix! Zähl schneller, los! Sein ganzer Arm zitterte.
„Neuf ...“ Der Mann grinste von einem Ohr zum anderen.
Zu spät merkte Gaspard wie ihm der Stein aus der Hand glitt. Er versuchte ihn festzuhalten, aber seine Finger versagten ihm den Dienst. Mit einem dumpfen Schlag fiel er zu Boden und lag da, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Einen endlosen Augenblick starrte der Junge den Mann an. Der schüttelte mit dem Kopf, immer noch das Grinsen im Gesicht und schnippte in Richtung seines Kameraden, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen. Gaspards Blick folgte seinem Fingerzeig und er sah wie der Soldat seine Mutter an den Haaren packte, ihren Kopf hob und mit dem Dolch an ihrer Kehle entlang glitt. Blut floss über ihren nackten Körper. Einen Moment blickte sie Gaspard noch in die Augen, dann verdrehte sie ihre in Richtung Decke.
„Nein! Nein!“ Gaspard schrie seine ganze Verzweiflung mit diesen beiden Worten heraus, als könne er sie so wieder zum Leben erwecken.
Er wollte aufspringen, aber jemand packte ihn an seiner verbrannten Hand. Ein Blitz zuckte durch seinen Körper, ihm wurde schwindelig. Er sackte zu Boden, wo Dunkelheit ihn empfing und den Mantel des Vergessens über seinen Geist legte.

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Eine Wolke verdeckte den Mond und Gaspard schreckte von seinem Nachtlager im Stall auf. Ein Traum, den er lange nicht mehr geträumt hatte, hatte ihn heimgesucht. Wieder war er in der Schmiede gesessen mit dem Stein in der Hand. Aber anders als sonst, wo er ihn immer bei irgendeiner Zahl zwischen eins und neun fallen ließ hatte er ihn diesmal bis zehn gehalten. Er wischte sich über das Gesicht, seine Hände zitterten.
Es war nicht leicht gewesen dem Hund unbeobachtet das Schlafmittel zu verabreichen. Er ging zu seinem Pferd und machte es bereit zum Aufbruch, schließlich konnte er nicht sicher sein ob er dafür später noch Zeit haben würde. Im Schutz der Dunkelheit schlich er hinüber zum Herrenhaus. Vor der Hintertür hielt er inne. Eigenartig, wie weit er gekommen war.

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Seine Hand verdankte Gaspard Louis, dem Grafen von Vemandois, der am nächsten Tag durch das Dorf am Grenzgebiet reiste. Der Wirt erzählte dessen Gefolgsleuten von den englischen Soldaten, die wie wilde Tiere eine Spur der Verwüstung zurückgelassen hatten. Gaspards Mutter war nicht das einzige Opfer gewesen. Die Männer hatten drei Mädchen verschleppt, damit ihre Kameraden im Felde nicht so einsam sind. Sie wurden nie wieder gesehen. Gaspard verstand nicht warum Louis ihn mitnahm. Vielleicht weil er jetzt keine Mutter mehr hatte, ein Krüppel war und die Burgunder für den Sieg der Engländer verantwortlich waren. Vielleicht aber auch nur, weil Gaspard das Alter von Louis Sohn Jean hatte. Der Waisenjunge wurde Stallbursche aber auch bester Freund des Sohns des Grafen.
Wäre Jean nicht gewesen, hätte Gaspard niemals Englisch gelernt. Allein der Klang der Worte brachte ihn wieder zurück in die Schmiede und machte ihn zu dem hilflosen Jungen, der verantwortlich war für den Tod seiner Mutter. Aber alle mussten die Sprache der Besatzer lernen, selbst im unabhängigen Burgund.
Genauso wenig, wie er dem Freund jemals Einzelheiten erzählte über das Geschehen in der Schmiede an jenem Nachmittag, erzählte Gaspard ihm auch nie von seiner Begegnung mit Jacques, fünf Jahre nach dem Tod seiner Mutter. Niemand in der Grafschaft wusste von dem Doppelleben des Stallburschen. Von seiner Ausbildung im Widerstand und den Versprechungen, mit denen Jacques ihn lockte. Versprechen von Rache, aber auch von Frieden. Versprechen vom Kampf um die große Sache und die Befreiung Frankreichs.

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Die Tür des Schlafgemachs knarrte beim Öffnen. Gaspard sah sich um. Der Hund schlief auf dem Boden am Fußende des Bettes. Er schlich in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Mit dem Fuß stupste er das Tier an, aber es drehte sich nur schnarchend auf die Seite. Ein Lächeln huschte über Gaspards Gesicht.
„Hab ich es mir doch gedacht, dass der junge Mann mir heute Nacht noch einen Besuch abstatten wird.“ William aus Ringwood richtete sich im Bett auf.
Gaspard fror in der Bewegung ein. Mit einem schnellen Blick durchsuchte er erneut den Raum, aber sie waren allein. „Wie viel Zeit bleibt mir, bis die Wachen kommen?“
Der Alte lachte. „Wachen? Nein, mein junger Freund, ich habe keine Wachen gerufen. Setz Dich!“
Er deutete auf einen Stuhl, der genau für diesen Zweck neben dem Bett zu stehen schien. Gaspard zögerte. Bei all seinen Vorstellungen wie die Nacht seiner Rache verlaufen würde war nicht dabei gewesen, dass er sich von diesem Mann Befehle geben ließ. Er blieb stehen und verschränkte die Arme.
„Gut, dann setzt Du Dich eben nicht.“ Der Alte zuckte mit den Schultern. „Habe mich immer gefragt, was wohl aus dem kleinen Jungen geworden ist.“
Gaspards Augen verformten sich zu Schlitzen aber er schwieg.
„Zu schade, Du hättest es fast geschafft.“ William sah zu ihm auf. „Es hat mir tatsächlich leid getan Deine Mutter umbringen zu lassen – sie war ein hübsches Ding. Nur eine Sekunde länger und sie könnte heute noch leben…“
„Genug!“ Gaspard schnellte nach vorne und drückte ihm einen Dolch an die Kehle. „Wie fühlt sich das an? Was glaubst Du, soll ich Dich vorher noch schänden, damit Du verstehst wie es ihr ging?“
William sah ihm ungerührt ins Gesicht. „Ich bin nicht derjenige, der bei neun den Stein hat fallen lassen, vergiss das nicht.“
„Halte den Mund!“ Er gab dem Alten eine Ohrfeige.
William lachte.
„Na los, dann mach schon, bring mich um!“ Die steingrauen Augen fixierten den jungen Mann. „Glaubst Du das wird Dich von Deiner Schuld befreien?“
Gaspards Hand zitterte und seine Augen blinzelten. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Siebzehn Jahre? Siebzehn Jahre in denen er Nacht für Nacht schweißgebadet aufwachte und sich schwor eines Tages alles wieder gerade zu rücken?
„Was ist? Worauf wartest Du?“ William grinste ihn mit dem gleichen Grinsen an wie damals in der Schmiede. „Oder seid ihr Festländer nicht einmal dafür Manns genug?“
Gaspard starrte dem Alten in die Augen. Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Hand wollte nicht aufhören zu zittern. Es schnürte ihm die Kehle zu. Er schnappte nach Luft.

Die Wolken um den Mond rissen auf und gaben den Blick auf einen Reiter frei, der sein Pferd im Galopp über die Felder hetzte, als sei der Teufel selbst hinter ihm her. Williams Lachen dröhnte in Gaspards Ohren und gleichzeitig starrten ihn die leeren Augen seiner Mutter an. Seine Finger tasteten nach dem Griff des Dolches. Das Blut an der Klinge war getrocknet, aber der Alte in seinem Kopf hörte nicht auf zu lachen.

1 Kommentar:

  1. Nur falls sich jemand wundert:
    Eine der Themenstellungen war eine parallele geschichtlichen Entwicklung zwischen 500 oder 1500 n.Chr..
    Ich habe mich für einen alternativen Ausgang des 100jährigen Krieges entschieden, muss aber zugeben, dass meine Erzählung auch in unserer Geschichte fast so hätte stattfinden können ;).
    Viel Spaß beim Lesen,
    Kryps

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