Dienstag, 12. Mai 2015

Vom Suchen und nicht gefunden werden


Sie blätterte die Karten im roten Kästchen durch. Fein säuberlich nach Kategorie sortiert. Alle, die älter als sechs Monate waren, steckte sie in das blaue Kästchen. Eine Arbeit, gut, um die Gedanken auszuschalten und eine angenehme Leere im Kopf entstehen zu lassen. In solchen Momenten fiel sie aus der Zeit, da gab es nichts zu bereuen, und nichts, das lohnenswert genug war, um darauf zu hoffen. Sie kostete jede Sekunde dieser Tätigkeit aus, befreit von der Last der Vergangenheit, den gescheiterten Experimenten und verpassten Chancen. Frei von der Zukunft, die nicht existierte, für sie nie existiert hatte.
Die Tür schwang auf und unterbrach ihre stille Meditation. Ein Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, blieb vier Schritt vor der Theke stehen, den Blick auf die Karteikästchen gerichtet.
Sie hasste Unterbrechungen, doch die zwei hellen, großen Augen, die ihr nun fragend ins Gesicht sahen, ließen den Ärger verfliegen.
„Na? Wer bist du denn?“


„Was passiert mit den Fundsachen, wenn sie nicht abgeholt werden?“
Die Stimme des Mädchens war dünn, selbst der durch die Tür gedämpfte Lärm der Autos drohte sie zu übertönen.
„Wie bitte?“ Sie musste sich nach vorne beugen.
„Wenn Fundsachen nicht abgeholt werden?“
„Ja?“ Diese Augen, sie wollte dem Blick nicht standhalten, der sich in ihren Kopf, in ihre Gedanken brannte.
Ihre Hände krallten sich am Rand der Theke fest, sie unterdrückte den Impuls sich wegzudrehen. ‚Es ist nur ein Kind.‘
„Was passiert dann?“
„Dann?“ Sie musste sich konzentrieren, den Faden wieder aufnehmen, die Augen ignorieren.
„Ja.“
Ihr fiel der blaue Fleck im Gesicht auf. Er zog sich von der linken Braue die Wange hinunter. „Kommt darauf an. Je nach Zustand werden sie versteigert, gespendet oder weggeworfen.“
Es war viel zu müßig, dem Kind das genaue Prozedere zu erklären. Und es war nicht ganz falsch, was sie da sagte. Nur ungenau. Sie hasste Ungenauigkeiten.
„Und wenn jemand es abholen will?“
„Dann muss er beweisen, dass es ihm gehört und bekommt es zurück.“
Wieder viel zu ungenau. Aber das Kind würde den Papierkram sowieso nicht verstehen. Es war doch nicht wichtig, musste sie sich immer in den Details verlieren?
„Wie kann er das beweisen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Kleine Schadstellen, Angaben wo es verloren wurde, Farbe, Macken und all sowas. Jeder Besitzer hinterlässt andere Spuren auf seinem Gegenstand.“
„Aber, wenn er ihn schlecht behandelt hat?“
Es klang nicht nach einer Frage. Eher nach einem Vorwurf.
„Besitz ist Besitz, da kann man nichts machen.“
„Das ist nicht richtig! Wenn er sich nicht gekümmert hat – vielleicht wollte die Sache dann verloren gehen?“
„Ja, vielleicht …“
Wenn Gegenstände einen freien Willen hätten, dann, ja dann vielleicht. Aber was sollte es ihnen nutzen?
Ein Stoffhase fiel ihr ins Auge. Sie griff ihn und hielt ihm dem Mädchen hin, obwohl sie wusste, sie würde es gleich bereuen. „Hier.“
„Für mich?“ Die Augen des Kindes blitzten auf.
Sie musste lächeln, lächeln über die kleinen Finger, die das an vielen Stellen abgewetzte, graue Fell entlang strichen. Als wäre er echt, der Hase.
„Ich habe ihn unter einem parkenden Auto gefunden. Du hättest ihn sehen sollen, das eine Ohr und die Vorderpfote hingen nur noch an drei dünnen Fäden. Und schmutzig war er, das war unglaublich. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Hase ist, bevor er aus der Waschmaschine kam.“
Ölflecken zierten das graue Fell. Sie hatte ihn selbst gefunden, strenggenommen war er keine richtige Fundsache. Auch wenn sie pflichtgetreu eine Karteikarte für ihn ausgefüllt hatte. Die Karte war erst fünf Tage alt, und das verursachte ihr ein unangenehmes Kribbeln im Magen.
„Und wenn das Kind kommt, dem der Hase gehört?“, fragte das Mädchen, als hätte es ihre Gedanken erraten.
„Hast du nicht eben gesagt, manchmal will jemand verloren gehen?“
„Stimmt.“ Das Mädchen strahlte sie an, und fast rechtfertigte dieses Strahlen das Kribbeln in ihrem Bauch. „Danke.“
„Keine Ursache. Magst du was trinken?“ Sie deutete auf einen Stuhl in einer kleinen Nische. „Setz dich.“
Erst beim Füllen des Wasserkochers fiel ihr auf, sie hatte, von löslichem Kaffee abgesehen, nichts, was sie dem Kind anbieten konnte.
„Soll ich dir warmes Wasser machen? Es ist kalt draußen.“ Sie spähte um die Ecke, wo das Kind auf dem Stuhl saß, den Hasen fest an die Brust gedrückt.
Es lächelte, und sie wertete dieses Lächeln als Zustimmung.

„Was hast du da gemacht? An deinem Auge?“, fragte sie später, mit eine Tasse Kaffee in der Hand an die Wand gelehnt.
Sie registrierte das Flackern im Blick des Mädchens, ehe es zu Boden sah.
„Von der Schaukel gefallen …“, sagte es leise, so leise als wolle es nicht beim Lügen erwischt werden.
„So, so. Als ich so klein war wie du habe ich mich auch ständig verletzt.“ Sie spürte den Blick des Kindes, aber sie sah zu den Karteikästchen auf der Theke. „Mein Vater war sehr wütend damals.“
Der Anblick der Karten beruhigte sie. Jede hatte ihren Platz.
„Meiner auch“, flüsterte das Mädchen in die entstandene Stille hinein.
Sie zwinkerte ihm zu.
„Wie willst du ihn nennen?“, fragte sie auf den Hasen deutend.
Das Mädchen zog die Schultern nach oben und schwieg.
„Nenne ihn Ben!“
„Ben?“
„Das bedeutet ‚Glückskind‘ und hat er nicht großes Glück gehabt dich zu finden?“
Erneut strich das Kind mit den Fingern über das abgewetzte Fell, als könnte es so prüfen wie viel Glück in dem Hasen steckte. „Die anderen haben ihn ausgelacht, weil er immer irgendwo Löcher hatte. Alle haben es geglaubt. Ständig ist er gegen was dagegen gerannt oder gestolpert.“
„Aber niemand hat verstanden, was wirklich los war.“ Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Kaffeetasse, in Gedanken weit fort.
Das Mädchen schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Hasen zu wenden. „Nein, niemand.“
„Er hat den Mund gehalten, hatte Angst keiner glaubt ihm. Und noch mehr Angst sie könnten kommen und ihn holen.“ Sie betrachtete die braune Brühe in ihrer Tasse. Unmöglich auf den Grund zu sehen. „Er hätte seine Besitzer verraten.“
Wieder nickte das Mädchen und verlor sich im Blick der aufgenähten Augen.
„Am Ende hätte doch niemand etwas tun können. Besitz ist schließlich Besitz.“ Abrupt drehte sie sich zur Spüle und schüttete den Kaffee hinein.
„Aber dann ist er verschwunden!“
Lächelnd sah sie auf die braunen Schmierer am weißen Tassenboden. „Ja, was für ein Glück.“
Sie drehte sich um, verlor sich im Gesicht des Mädchens. Für einen Moment vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart und sie schaute in ihr eigenes, junges Gesicht.
Die Tür schwang auf und zerstörte den Augenblick.
„Entschuldige …“, murmelte sie und trat hinter die Theke.
Ein Polizist baute sich vor ihr auf. Sie musterte ihn und er zwang sich unter ihrem Blick ein Lächeln ab.
„Guten Tag. Ist bei Ihnen ein kleines Mädchen aufgetaucht?“
Sie zog die Augenbrauen hoch, ohne ein Wort zu sprechen.
„Ungefähr so groß.“ Er hielt seine Hand auf Hüfthöhe. „Sechs Jahre alt, graue Augen, das rechte Hosenbein zerrissen.“
Einen Schritt zurücktretend lugte sie um die Ecke. Der Stuhl war leer. Nur die Tasse, halbvoll mit heißem Wasser, stand noch auf der Sitzfläche. An den Polizisten gewendet schüttelte sie den Kopf.
„Nein? Hmm, sollten Sie etwas bemerken oder die Kleine bei Ihnen auftauchen, melden Sie sich bitte im Revier.“ Er legte ein Kärtchen auf die Theke. „Ihre Eltern machen sich Sorgen.“
Er nickte ihr zu und eilte zur Tür.
„Vielleicht will sie nicht gefunden werden?“, sagte sie, mehr zu sich selbst.
Der Polizist, der bereits mit dem Fuß den Asphalt berührte, drehte sich um. „Bitte?“
Aber sie hörte nicht, sortierte Karteikarten vom roten ins blaue Kästchen, so, als hätte sie diese Arbeit nie unterbrochen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen