Also für alle, die die Anthologie Rübezahl ausgezählt noch nicht bestellt haben, hier ein kleiner Vorgeschmack. Zur Erinnerung:
Sie enthält Musäus-Märchen, neu erzählt.
Ich bin sicher, nach der Lektüre der Leseprobe müsst ihr dieses Buch haben! ;)
Hier also eine Leseprobe meiner Geschichte
Tauben auf Dächern
Eine neu Interpretation des Musäus-Märchens "Stumme Liebe"
Viel Spaß beim Lesen!
Später, im Herbst, fragte Pau sich oft, warum er an jenem Morgen
stehen geblieben war. Vom Nachtzug auf dem Münchner
Hauptbahnhof ausgespuckt und nur einem Wunsch angetrieben:
Ein Café zu finden in dem er frühstücken konnte.
Für Miquel, seinen besten Freund, war die Sache in dem Moment klar, in
dem Pau ihm das Mädchen beschrieb.
„Blond? Wär ich auch stehen geblieben!“, hatte er ihn angegrinst und
so fest auf die Schulter geklopft, dass Pau ins Stolpern kam.
Doch Pau wusste, das war nicht der Grund. Er war in Schweden gewesen
und hatte die richtig blonden Mädchen gesehen. Die, von denen er
Miquel nach seiner Rückkehr Photos zeigte.
„Ja, sie sehen gut aus, nicht wahr?“, hatte er den Freund gefragt, der die
Schönheiten auf den Bildern mit Blicken verzehrte. „Aber weißt du was?
Sie küssen nicht so gut wie unsere Mädchen. Sie sind Eisprinzessinnen,
kalt und unnahbar.“
Verglichen mit den Schwedinnen waren die Haare des Mädchens nicht
wirklich blond. Doch verglichen mit seiner Schwester, die wie er dunkles,
fast schwarzes Haar hatte, waren sie wie durch Wolken brechendes Licht.
Nicht das strahlende Leuchten der Sonne, an das ihn der Anblick der
Schwedinnen erinnerte. Es war eher das matte Schimmern des Mondes,
der sein Antlitz im Wasser spiegelt, verzerrt, nicht ganz zu greifen.
Nein, die Haare waren es nicht gewesen. Da war Pau sich sicher, auch
wenn er mit Miquel darüber nicht weiter stritt. Was wusste der Freund
schon von Liebe? Was hatte er selbst davon gewusst, ehe er an jenem
Morgen durch die Seitengasse in der Nähe des Bahnhofs gestolpert war?
Nichts hatte er gewusst. Seine Seele hing noch in Schweden bei den richtig
blonden Mädchen, nichts ahnend.
Die Haare waren es nicht gewesen.
Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen in der Gasse rief Pau sich
jenen Morgen in sein Gedächtnis zurück und versuchte, sich an jedes
Detail zu erinnern. Er sah noch einmal das Mädchen mit dem mattleuchtenden
Haar die Blumenkübel nach draußen tragen und wusste plötzlich,
was ihn hatte inne halten lassen. Dabei war nicht sie es gewesen, die
seine Seele an Ort und Stelle rief. Noch ehe er sie überhaupt wahrnahm,
stellte sich ihm etwas in den Weg. Etwas, was sich nicht benennen ließ,
etwas, was die Bilder der Schwedinnen aus seinem Kopf blies, ihn zwang
die Augen zu öffnen und den Blick für das Mädchen freimachte.
Er sah, wie
sie beim Abstellen eines Blumenkübels ins Stolpern kam, sich zu weit nach
vorne beugte. Der Stängel einer Blume brach, sie stockte mitten in der
Bewegung und starrte mit aufgerissenen Augen auf das Ergebnis ihres
Missgeschicks. Aus ihrem Gesicht wich die Farbe. Pau hielt den Atem an,
ohne zu begreifen was ihn so erschreckte. Ihr Mund öffnete sich, als wollte
sie einen Schrei ausstoßen, schloss sich jedoch wieder ohne einen Laut.
Erst Monate später begriff er ihre stumme Verzweiflung, die in ihm den
Anblick seines kleinen Bruders wachgerufen hatte. Wie er hochgesehen
hatte an dem Tag, an dem Pau ihn im Treppenhaus kniend vorfand, mit
einem feuchtglänzenden Bündel auf dem Schoss. Pau erinnerte sich, sich zu
ihm gebeugt zu haben, und fühlte den Schauder mit einer Deutlichkeit, als
sähe er eben die Katze. Den Glanz auf dem Fell konnte er erst auf den zweiten
Blick als Blut identifizieren. Pau wusste, dass sie tot war. Er spürte wieder,
wie sein Herz zu rasen begann und er dem Bruder die Hand auf die
Schulter legte, wie um sich selbst zu beruhigen. Er sah noch einmal in die
großen, dunklen Augen, deren Blick ihm einen Stich versetzte.
Mit genau diesem Ausdruck blickte das Mädchen auf die gebrochene
Blume. Pau wusste, sein Bruder hatte an jenem Tag begriffen,
alles im Leben ist endlich. Beim Tod der Großmutter ein halbes Jahr später
suchte er vergeblich nach dem Schmerz im Gesicht des Bruders. Die
Katze hatte ihn ihre Lektion gelehrt.
Das Blumenmädchen war älter, Pau schätzte sie auf fünfzehn, vielleicht
sechzehn Jahre. Jedenfalls zu alt, als dass sie der Anblick einer gebrochenen
Blume aus der Fassung bringen sollte. Es konnte nicht die erste sein.
Dennoch tasteten ihre Finger den Stängel entlang, als könnten sie ihn so
wieder in seine ursprüngliche Form zurückzwingen.
An jenem Morgen bekam er den Zusammenhang nicht zu fassen. Er
begriff nicht, dass er stehenblieb, weil es ihm immer noch leid tat um die
Katze, die er nicht mehr hatte lebendig machen können. Als wäre es möglich
das Unvermögen gegenüber dem kleinen Bruder an einer Fremden
wieder gut zu machen, eilte er über die Straße.
Er kniete sich vor ihr auf das Pflaster und griff nach der gebrochenen
Blume. Seine Hände streiften ihre Finger, das Mädchen zuckte zurück
und sah ihn mit einem Ausdruck an, als hätte er drei Augen oder zwei
Nasen im Gesicht.
„May I?“ Er stellte die Frage auf Englisch, die Sprache, die er neben
Katalanisch und Spanisch sprach.
In Schweden war er trotz seines starken Akzents damit gut durchgekommen.
Im Gesicht des Blumenmädchens konnte er nicht ablesen, ob
sie ihn verstanden hatte oder nicht. Er zog die gebrochene Blume aus
dem Kübel, hielt sie mit beiden Händen und versuchte sich an einem
Lächeln.
„I would like to buy this flower – how much does it cost?“
Das Gesicht des Mädchens verfärbte sich rot, sie zuckte mit den
Schultern und blickte zu Boden.
Pau begriff, dass ihr Englisch nicht an die Kenntnisse der
Schwedenmädchen oder seine eigenen reichte. Er zog seinen Geldbeutel
hervor, sie verstand endlich und deutete auf das Schild im Kübel.
„Your country?“, fragte sie ihn und es war mehr wie das Raunen des
Windes, als deutlich gesprochene Worte.
Er hielt mit dem Geldzählen inne und sah sie an.
„Barcelona“, antwortete er, weil er Spanien nicht sagen wollte und sich
sicher war, dass sie mit Katalonien nichts anzufangen wusste.
Da huschte ein Lächeln über ihre Lippen.
„Buenos dias!“, grüßte sie ihn.
„Bon dia“, antwortete er.
Auf Spanisch fragte er sie nach ihrem Namen, aber sie verstand ihn
nicht. Ein wenig enttäuscht registrierte er, dass es keine Sprache zu geben
schien, die sie beide verstanden. Sie schwiegen einen Moment, ehe er ihr
das Geld in die Hand drückte und ihr die Blume hinhielt.
„Für mich?“, fragte sie, weil sie im Augenblick der Überraschung vergaß,
dass er kein Deutsch sprach.
Er nickte und lächelte sie mit einem Lächeln an, dass das Rot ihrer
Wangen verstärkte.
„Whats your name?“, wollte er wissen.
Doch bevor sie ihm antworten konnte, kam eine Frau aus dem Laden
gestürmt, mit demselben mattleuchtenden Haar. Nur war sie fünfundzwanzig
Jahre älter als das Mädchen.
„Fee!“, beantwortete die Frau ihm ungewollt seine Frage. „Was machst du da?“
„Nichts.“ Das Mädchen sah ihm noch immer ins Gesicht.
„Gib mir die Blume und gib dem Kerl sofort das Geld zurück!“, schimpfte
die Frau, und an Pau gewandt. „Du glaubst wohl, du kannst meine
Tochter kaufen, aber da hast du dich geschnitten, mein Freundchen!“
„Mama, er spricht kein Deutsch.“
Das rührte die Mutter nicht. Und auch wenn Pau die Worte nicht verstand,
so erkannte er doch am Tonfall, die Frau wollte ihn loswerden.
Sie schickte das Mädchen in den Laden. An der Tür blieb es einen
Moment stehen und sah ihn an. Er zwinkerte und sein Herz machte einen
Sprung, als er das Lächeln auf ihrem Gesicht sah, ehe sie den Kopf wegdrehte
und verschwand.
„Du schaust jetzt, dass du hier wegkommst – hast du mich verstanden?
Sonst rufe ich die Polizei!“ Die Frau baute sich mit in die Hüften gestemmten
Händen vor Pau auf.
Er lächelte sie an, dachte aber nur an ihre Tochter im Laden.
Weil ihm jemand einmal erzählt hatte Deutsche seien sehr förmlich,
deutete er eine Verbeugung an, ehe er ging.
„Auf Wiedersehen“, sagte er und war froh, von der Zugfahrt wenigstens
diese Phrase behalten zu haben.
„Nix auf Wiedersehen! Wir wollen dich hier nicht mehr sehen,
Freundchen!“, rief die Frau ihm hinterher.
Doch er hörte nicht mehr auf den Klang der Worte, die keinen Sinn
ergaben.
Fee, dachte er und fragte sich, ob es Zufall war, dass ihre beiden Namen
nur eine Silbe hatten.
Pau und Fee.
Felicitas, wie das Blumenmädchen eigentlich hieß, sah dem fremden
Jungen ohne Namen vom Laden aus nach. Weit konnte ihm ihr Blick in
der engen Gasse nicht folgen.
Am Abend zog sie heimlich die Blume, eine Calla mit leuchtend orangeroten
Blütenblättern, aus dem Abfalleimer. War es doch die Erste, die
sie jemals von einem Jungen geschenkt bekommen hatte. Wozu auch
einem Blumenmädchen Blumen schenken? Von der Mutter unbemerkt
hängte sie die Blüte zum Trocknen in ihren Kleiderschrank, um sie später
wie einen Schatz in einem Schuhkarton unter dem Bett zu verwahren. Mit
achtzehn Jahren war sie schon zu alt, als dass die Mutter sich noch um die
Ordnung in ihrem Schrank gekümmert hätte.
Noch Monate später fing ihr Herz wild zu klopfen an und sie hatte wieder
ein Kribbeln im Bauch, wenn sie an den Augenblick dachte, an dem
die Hand des fremden Jungen ihre Finger streifte. Es war das Kribbeln des
Verbotenen.
An jenem Abend suchte sie im Internet nach Bildern von Barcelona und
träumte sich an die mit bunten Mosaiksteinen besetzte Mauer auf der
Terrasse im Park Güell. Dort stand sie neben dem Jungen, von dem sie
dachte, er sei Spanier, nicht ahnend, wie beleidigend dieser Irrtum für
den Katalanen mit Leib und Seele ist. In seinem Arm sah sie die ersten
Strahlen der Sonne aus dem Meer steigen. Felicitas wusste, dass ein Kuss
bei Tagesanbruch wie ein Auftakt für eine neue Liebe ist. Folgt ihm ein
Kuss im verglühenden Licht am Ende des Tages, so ist es ein Versprechen
der ewigen Liebe.
...
So, wer jetzt gerne weiterlesen und wissen möchte ob es Pau und Fee gelingen wird trotz der Sprachbarriere und der wütenden Mutter einen Weg zueinander zu finden, dem lege ich die Anthologie ans Herz! Da sind noch viele andere spannende Geschichten!
Freitag, 13. März 2015
Leseprobe meiner Geschichte aus der Anthologie "Rübezahl ausgezählt"
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