Donnerstag, 6. Februar 2014

Am Abend


Die Nacht breitete ihren schwarzen Mantel über die Weinberge und das Gehöft zu deren Fuß.
Auf der Bank in der Wohnküche saß ein Mann. Er war nicht alt und nicht jung, und so, wie er da saß und der Dunkelheit zusah, wie sie Besitz von dem Land um ihn herum ergriff, war es fast, als würde er selbst in ihr verschwinden.


Eine Gartenlaterne warf spärliches Licht zu ihm hinein und er betrachtete den Schatten seines Tischs, der ihm ein Loch in den Boden zu reißen schien.
Er stand auf und schlich zur Spüle, peinlich darauf bedacht kein Geräusch zu verursachen, als wären die Kinder noch hier. Dabei waren sie längst mit ihr fortgegangen. Anfangs hatte er noch geglaubt, dass sie wieder zu Hause wären, wenn er zurückkehrte. Aber sie blieben verschwunden und ließen eine Leere in dem großen Haus zurück, der er nicht gewachsen war.
Er nahm einen Schluck Wasser und lauschte. Es gab nichts zu hören, außer der Stille, die nur von seinen eigenen Atemzügen und dem Brummen des Kühlschranks unterbrochen wurde. Also lauschte er in die Stille hinein und in seinen Gedanken mischte sich das Flap-Flap kleiner, tappsender Füße und das glucksende Lachen heller Stimmen in das Schweigen des Hauses. Eine Träne glitzerte in seinem Auge, doch, ehe sie sich ihren Weg bahnen konnte, zwinkerte er sie fort.
„Ich muss nach dem Wein sehen“, murmelte er, stieß sich von der Spüle ab, griff einen Mantel und schlurfte auf den Hof.

-

Im Gebäude gegenüber brannte noch Licht. Er sah seine Mutter hinter dem Fenster stehen, spürte ihren Blick im Rücken und stieg dennoch die Treppen zum Weinkeller hinab.

„Sie müssen den Hof aufgeben.“ Hatte Frau Meier ihm geraten. „Sie können nicht weitermachen, wie bisher. Sie müssen sich umorientieren.“
Erst hatte er genickt und anschließend den Kopf geschüttelt.
„Sie müssen den Hof verkaufen. Mit dem Geld können sie neu anfangen, verstehen Sie das nicht?“ Hatte Frau Meier hinzugefügt.
Nein, das verstand er nicht. Er war hier geboren und groß geworden und er würde hier sterben. Wie sein Großvater und sein Vater vor ihm. Als einziges Kind war es an ihm gewesen das Weingut zu übernehmen und er hätte sich nie etwas anderes vorstellen können. Begriff sie das nicht? Selbst wenn er eine Idee hätte, was er mit dem Erlös machen sollte, so könnte er sich dennoch nicht vorstellen von hier fortzugehen. Aber er hatte ohnehin keine Idee.

Unten, zwischen den Fässern, war die Luft dichter. Er kannte es noch, das Gefühl zu fallen mit dem Geschmack des Weins auf der Zunge. Trinken, bis der Kopf aufhört zu denken und die Erinnerungen verblassen. Aber er war stärker als das Verlangen. Frau Meier hatte ihn unterschätzt. Auch seine Frau hatte ihn unterschätzt. Sie würde es noch merken und wieder zurückkommen, da war er sich ganz sicher. Und mit ihr würden die Kinder wiederkommen und die Stille vertreiben.
Er griff nach dem Becher neben einem der Fässer. Nicht zum probieren. Frau Meier hatte ihm eingeschärft, dass er keinen Wein mehr trinken durfte. Was wusste sie schon von ihm und seinem Wein? Aber er wollte sie nicht verärgern, er würde nur mit Hilfe des Geruchs die Qualität seines Weins prüfen. War er doch Weinbauer mit Leib und Seele.
Ein herber, holziger Duft stieg ihm in die Nase. Ja, das war ein guter Wein dieses Jahr. Lächelnd stellte er den Becher fort und wandte sich wieder der Treppe zu. Aber er stieg nicht nach oben. Er hing dem Geruch nach, verglich ihn mit Früheren und hatte das Gefühl, dass er dieses Jahr voller und runder war, als jemals zuvor. Das war unmöglich, es war doch ein schlechtes Jahr gewesen. Jedes Kind weiß, dass der Wein viel Sonne braucht. Er wollte Sicherheit und ohne zu denken griff er den Becher und spülte den Mund mit der golden schimmernden Flüssigkeit.
Kaum berührte der Wein seine Zunge war ihm, als explodiere ein Feuerwerk in seinem Inneren. Alte Bilder kamen mit einer solchen Heftigkeit, dass er an der Wand nach Halt suchen musste. Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Atem ging schneller, als hätte er ein Gespenst berührt. Plötzlich schrie jede Pore seines Körpers nach der Flüssigkeit, die so viel besser schmeckte, als all die Jahre zuvor. Diesmal griff er bewusst das große Glas, das hinter dem Fass versteckt stand. Langsam füllte er es auf. Bis zum Rand. Er genoss jeden einzelnen Schluck und spürte wie der Wein in alle Poren seines Körpers drang. Lächelnd gab er sich der Schwere hin.
Heute konnte er noch einmal so viel trinken, wie er wollte. Ab morgen würde er wieder trocken sein. Für immer. Er war Weinbauer mit Leib und Seele. Er war stärker. Sie würden es alle schon noch sehen. Frau Meier, die Nachbarn, seine Mutter und vor allem seine Frau. Und sie würde zu ihm zurückkommen. Reumütig und schuldbewusst. Die Kinder würden wieder da sein und das Haus würde aufhören zu schweigen. Aber das war alles morgen. Heute durfte er noch einmal trinken. Das ganze Fass, wenn er wollte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen