Donnerstag, 17. Oktober 2013

Leseprobe zur Anthologie "Die kleine Meerjungfrau weint nicht um ihren Prinzen"


Also für alle, die sich die Anthologie Die kleine Meerjungfrau weint nicht um ihren Prinzen mit den neu interpretierten Märchen von Hans Christian Andersen noch nicht bestellt haben, hier ein kleiner Vorgeschmack. Ich bin mir sicher, dass ihr nach der Lektüre der beiden Leseproben unbedingt dieses Buch haben müsst! :D In dem ihr sowieso noch viele weitere wunderschöne Märchenadaptionen finden könnt ;).
Ich stelle euch eine Leseprobe meiner eigenen Geschichte "Apfelmus" rein, sowie eine Leseprobe von "Die Dame in Blau" von Larissa Burkard.

Apfelmus
(nach dem Märchen "Sie taugte nichts")

Prolog
Hallo, ich bin Finn und ich bin neun Jahre alt. Ich finde, Finn ist ein blöder Name! Mal ganz ehrlich: Würdest du es gut finden, wenn es in deinem Jahrgang noch zwei andere Jungs mit deinem Namen gibt? Dabei habe ich noch Glück. Wir haben zwei vierte Klassen in unserer Schule. Ich bin in der 4b und da bin ich der einzige Finn. Die in der 4a haben Pech. Die sind zu zweit. Nur dass der Fynn Markensteiner mit y geschrieben wird. Aber das hört man nicht. Ist also egal, er weiß trotzdem nicht, ob die Lehrer ihn rufen oder den anderen Finn. Manchmal ist das auch ganz praktisch. Wenn man zum Beispiel auf dem Pausenhof was ausgefressen hat und die Lehrer brüllen: „Finn, komm sofort her!“ Dann kann man immer schnell zu einem der anderen Finns gucken und so tun, als ob man gar nicht gemeint ist. Trotzdem ist mein Name doof! Mama behauptet, dass keiner sein Kind so genannt hat, als ich geboren wurde. Wieso wir dann drei Finns sind, kann sie mir auch nicht erklären. Sie findet meinen Namen so toll, weil er „der Wanderer“ bedeutet. Mama heißt Francesca und das bedeutet „die Freie", und deshalb passen unsere Namen so gut zusammen, denn wer wandert ist frei. Das behauptet zumindest Mama. Wir wandern nie, darum weiß ich nicht ob das stimmt. Wir gehen höchstens sonntags in den Park. Aber auch nur, wenn Mama nicht zu müde ist und keine Kopfschmerzen hat. Die hat sie oft.
Mein Name bedeutet außerdem noch „der blonde Krieger“. Ich habe blonde Haare, also meint Mama, dass ich bestimmt mal ganz stark werde und es zu was bringe im Leben. So wie mein Vater, der hat es auch zu was gebracht. Der hat eine eigene Schreinerei gehabt und es ist uns gut gegangen. Aber nicht lange, weil er Konkurs anmelden musste. Ich weiß nicht genau was Konkurs ist, Mama kann mir das nicht erklären. Nur dass mein Vater die Schreinerei verloren hat und wir in unsere kleine Wohnung ziehen mussten, wo es kein Kinderzimmer mehr gibt und ich auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafe. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich mal ein eigenes Zimmer hatte. An meinen Vater erinnere ich mich auch nicht mehr. Obwohl ich vier Jahre alt war, als er von der Brücke gesprungen ist. Mama mag es nicht, wenn ich sage, dass er gesprungen ist. Sie behauptet immer er sei an gebrochenem Herzen gestorben, und das wäre so schön poetisch. Aber ich glaube nicht, dass man sich das Herz bricht, wenn man von einer Brücke springt. Eher die Beine, oder die Rippen.
Der Hannes hat mal einen Apfel aus unserem Klassenzimmer im vierten Stock geworfen. Unten auf dem Pausenhof war der nur noch Apfelmus. Er hat gemeint, dass der Kopf von meinem Vater genauso geplatzt ist. Das ist aber Quatsch, weil, mein Vater ist ja von einer Brücke gesprungen und unten war Wasser und kein Asphalt. Ich habe Frau Müller gefragt, ob man sich das Herz brechen kann, wenn man irgendwo hinunterspringt. Frau Müller ist unsere Heimat- und Sachkundelehrerin, ich dachte mir, die muss sowas wissen. Sie hat mich mit ihren Kuhaugen ganz groß angesehen und gemeint ich müsste das mit dem gebrochenen Herzen mehr bildlich sehen. Ich habe so getan, als wüsste ich genau, wovon sie spricht. Aber in Wirklichkeit habe ich das mit dem bildlich sehen nicht verstanden.
Ich wollte viel lieber Linus heißen wie mein bester Freund. Eigentlich ist Linus mein einziger Freund, aber wenn man nur einen hat, dann ist das ja automatisch der Beste – oder nicht? Wir sitzen in der Schule nebeneinander und verbringen fast jeden Nachmittag zusammen. Zumindest wenn Linus kein Fußballtraining hat. Meine Mama sagt Fußballschuhe sind zu teuer, ich soll doch auf den Spielplatz gehen. Linus hat noch einen Vater, der in einer Bank arbeitet und kein gebrochenes Herz hat. Die Mama von Linus arbeitet in einem Büro, ich glaube sie ist Architektin oder sowas. Sie arbeitet nur den halben Tag und ist nachmittags meistens zu Hause. Nicht so wie meine Mama. Die Eltern von Linus sind ganz nett. Die gucken mich nicht schief an, obwohl ich immer in zu großen Second Hand Klamotten rumlaufe. Meine Mama sagt ich soll nicht so undankbar sein, sondern froh, dass ich überhaupt Klamotten habe. Wenn sie zu groß sind, dann kann ich sie länger tragen, sagt sie. Aber meistens sind sie schon völlig kaputt, wenn sie mir endlich passen.
Linus hat zu Hause sogar Internet. Wir haben mal zusammen nachgesehen, was sein Name bedeutet. Der hat eine ziemlich doofe Bedeutung: `Der Jammerlappen´. Ich musste ihm versprechen, dass ich das niemandem sage. Jetzt bin ich froh, dass ich nicht Linus heiße. Wäre auch irgendwie doof, wenn mein bester Freund und ich den selben Namen hätten, oder? Wahrscheinlich wären wir dann gar nicht befreundet. Und das wäre ziemlich schade, weil, Linus und ich haben total viel Spaß zusammen!

I
Montag, sieben Uhr morgens. Ich bin wie immer der Erste in der Schule. Draußen ist es kalt, weil wir April haben und meine Jacke nicht mehr richtig warm hält. Zum Glück sperrt unser Hausmeister, Herr Schäfer, das Schulgebäude immer um sieben auf. Obwohl eigentlich nie jemand vor halb acht kommt. Nicht einmal Herr Richter, unser Rektor, und der ist ja der Chef von unserer Schule. Als ich Mama erzählt habe, dass ich noch vor dem Rektor da bin, hat sie gelacht und gemeint, das wäre ein gutes Zeichen.
Linus hat mich mal gefragt, warum ich immer so früh da bin. Ich habe gesagt, weil meine Mama und ich morgens zusammen losgehen, aber das war gelogen. Mama fängt nämlich schon um fünf Uhr das Putzen an. In einem Bürogebäude. Um halb sieben gehen sie und Maren in eine Zahnarztpraxis und machen da sauber. Maren ist die Kollegin von meiner Mama und ich glaube ihre beste Freundin. Sonst hat Mama nämlich keine Freunde. Ich treffe mich jeden Morgen in der Zahnarztpraxis mit ihr. Die liegt auf dem halben Weg zur Schule. Mama sagt, dass ich vorbeikommen soll, damit sie weiß, dass ich auch aufgestanden bin. Aber eigentlich wartet sie auf ihre zwei kleinen Fläschchen Jägermeister, die ich vom Kiosk vor unserem Haus mitbringe. Die kann sie nämlich nicht selbst mit auf die Arbeit nehmen. Ihr Chef kontrolliert manchmal die Taschen. Mama sagt wenn ihr Chef den Jägermeister findet, dann schmeißt er sie raus. Aber das geht nicht, weil dann hätte Mama ja keine Arbeit mehr, und wir könnten uns die Miete nicht mehr leisten und müssten auf der Straße leben und hungern. Also bringe ich ihr den Jägermeister. Um halb sieben kontrolliert der Chef keine Taschen mehr.
Ich setzte mich in unserer Schule im Gang auf eine der Heizungen. Die Wände sind aus Glas, und ich kann auf beide Pausenhöfe gucken. Eigentlich ist es nicht so schlecht, dass ich so früh da bin. Wenn ich mich nachmittags mit Linus treffe, mache ich keine Hausaufgaben, und zu Hause schau ich meistens Fernseher. Oder ich spiele auf der alten Nintendo DS von Linus. Die hat er mir geschenkt, weil er zu Weihnachten eine Bessere bekommen hat.
Aber jetzt habe ich sowieso nichts anderes zu tun. Die Matheaufgaben sind ziemlich schwierig. Ich habe meinen Stift schon fast durchgekaut, soviel muss ich denken. Vielleicht schreibe ich später auch bei Linus ab.
„Was machst du um diese Uhrzeit schon in der Schule, Finn?“
Mir fällt fast der Stift aus der Hand, so sehr erschrecke ich. Herr Richter, unser Rektor, steht genau vor mir. Sein dunkler Mantel ist offen, und er trägt einen schwarzen Anzug. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise trägt er immer eine dunkle Hose, ein Hemd und einen Pullunder in einer langweiligen Farbe. Grau oder dunkelgrün. Heute hat er nicht einmal den lustigen, roten Schal um. Dabei ist es draußen kalt. Ich möchte ihn fragen, ob irgendwas Besonderes ist wegen seinem Anzug, aber ich trau mich nicht. Ich starre ihn mit großen Augen und offenem Mund an. Hoffentlich bemerkt er nicht, dass ich gerade meine Hausaufgaben mache. Herr Richter hat seine Arme verschränkt. Seine kleinen Augen mustern mich von oben bis unten. Mir ist das unangenehm. Linus sagt, dass die Augen von Herrn Richter wie die von einem Schwein aussehen. Daran muss ich jetzt denken. Ich gucke schnell auf die blitzblank lackierten Schuhe und hoffe, dass Herr Richter nicht gesehen hat, dass ich eben grinsen musste.
„Guten Morgen, Herr Richter.“, murmle ich zu den Schuhen.
„Guten Morgen, Finn. Wenigstens hat man dir Manieren beigebracht – was ein Wunder ist, bei deiner Mutter!“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und überlege, warum Herr Richter meine Mama beleidigt.
„Sieh mich einmal an, Finn!“ Die Stimme von Herrn Richter klingt streng.
Obwohl ich ihn eigentlich lieber nicht ansehen würde, schiele ichvorsichtig hoch. Ich will ihn nicht verärgern.
„Kommst du von deiner Mutter?“
Ich nicke.
„Hast du ihr wieder Schnaps gebracht?“
Ich zucke mit den Schultern. Bin mir nicht sicher, was ich sagen soll. Meine Mama nennt den Jägermeister ihre Medizin, die sie mit Kaffee vermischt wach macht am Morgen und am Abend besser einschlafen lässt. Zumindest behauptet sie das. Die Schweinsaugen von Herrn Richter starren mich an, und er zieht die Brauen zusammen. Am liebsten würde ich wieder seine Schuhe anschauen, aber ich trau mich nicht wegzusehen.
„Das ist ein Jammer! Nutzt ihren hübschen, kleinen Jungen aus!“ Er schüttelt mit dem Kopf. „Dabei hätte aus dir ordentlich was werden können! Aber mit der Mutter? Nein, die taugt nichts, deine Mutter! Jammerschade!“
Jetzt starre ich Herrn Richter an. Mein Mund steht wieder ganz offen. Er legt mir seine schwere Hand auf die Schulter. Am liebsten würde ich mich losmachen, aber ich trau mich nicht. Eigentlich bin ich ganz schön wütend über das, was er über meine Mama sagt! Er schüttelt wieder seinen Kopf, so richtig selbstgefällig.
„Ein Jammer! Du wärst besser ohne deine Mutter dran. Früher war sie einmal ganz hübsch anzusehen – aber jetzt?“ Er zuckt mit den Schultern. „Was der Alkohol aus ihr gemacht hat. Deine Mutter ist eine Alkoholikerin! Ich fürchte, aus dir kann nichts mehr werden.“
Er nimmt die Hand wieder von meiner Schulter, dreht sich weg und geht in Richtung des Lehrerzimmers. Jetzt mache ich keine Matheaufgaben mehr. Ich kann nur noch Herrn Richter nachstarren, der längst um die Ecke gebogen ist. Plötzlich gibt mir jemand einen Schubs.
„Was ist denn mit dir los?“ Linus baut sich vor mir auf und grinst mich an. „Machst ein Gesicht, als hättest du eben ‘nen Geist gesehen!“
Ich zucke mit den Schultern und versuche zu lächeln. Zum ersten Mal weiß ich nicht, was ich Linus sagen soll.


Die Dame in Blau
(von Larissa Burkard nach dem Märchen "Die kleine Meerjungfrau")

Prolog
Es begann mit einem Jungen, der sich weigerte, den Haien die Flossen abzuschneiden. Dieses Schauspiel widerte ihn an und so wandte er sich ab, auch wenn er damit seinen Vater enttäuschte. Sein Blick glitt über schäumende Wellenkronen, in deren Mitte er plötzlich ein Paar blauer Augen fand. Ein Mädchen, das nicht Schwimmerin, nicht Taucherin war. Nicht verlorengegangen; nicht menschlich? Eine Seele des Meeres, eine Meerjungfrau. Ihre Haut war blassgrau, ihre Haare dunkel fast schwarz gefärbt von der Tiefe des Meeres. Das Messer des Vaters klang hinter dem Sohn. Es folgte ein Platschen. Wieder hatte ein Riffhai diesen Kampf verloren.
Verschwinde, riefen die Augen des Jungen. Die Meerjungfrau hatte Angst, aber es war ihr Blick auch berührt von einer Hoffnung, die er nicht verstand. Im nächsten Moment war sie verschwunden.
Wann immer Vater und Sohn danach zur See fuhren, die Meerjungfrau fand der Sohn nicht wieder, wie sehr er seine Augen auch bemühte. Bis zu dem Tag, an dem ein mächtiger Sturm das Boot erfasste. Den Vater riss er in den Tod und auch der Junge überlebte nur knapp. Man fand ihn am Strand mit dem Biss eines Hais am rechten Bein.

1. Der Sturm
Für die meisten mag das Heulen des Sturms ein Ausdruck von Zorn, ein wütendes Rufen sein, doch ich glaube, dass es die Art des Sturms ist, seine Liebe für das Meer auszudrücken. Es liegt in seiner Natur, rau über das Land zu streifen, an den Blätterkronen der Bäume zu zerren und sich gegen die Wände der Häuser zu werfen. Er will gehört werden von dem stummen Meer, will es aus seinem trauernden Schlaf reißen, zu einem Tanz überreden, einer innigen Umarmung, einer unvergesslichen Nacht. Und das Meer antwortet, schickt leise, murmelnde Worte hinauf gen Himmel, von schmeichelnden, salzgetränkten Küssen begleitet, getragen von Wellen, die sich auftürmen. So beginnen sie ihren Tanz, schmettern Boote gegen Riffe, drücken salzige Fluten tief in das Land, zertrümmern spielend Stein, Holz und Knochen. Sie verlieren sich im Treiben der Zeit, im Rausch des Gefühls, dass niemand sie zähmen kann. Doch dem Sturm wurde gewahr, dass das Meer eine eifersüchtige Geliebte sein kann. Denn eines Nachts erblickte der Sturm eine Meerjungfrau im Toben der Wellen, wie sie einen Menschenjungen, der in dieser Nacht hätte sterben sollen, an den Strand trug. Ihre blauen Augen nahmen ihn gefangen, als sein Blick sie streifte. Ängstlich und doch mit fester Entschlossenheit flehten sie ihn an zu schweigen. Nur ein Schweigen für die faszinierende Schönheit der Dankbarkeit in diesen Augen? Der Sturm versprach es, und der Himmel wurde still. Das Meer wollte ihn wieder in die Kreise ihres Tanzes ziehen, doch der Sturm schwieg. Wütend und verletzt stieß es ihn zurück, wandte sich von ihm ab und bemerkte erst da, dass es um ein Leben betrogen worden war.
„Verrat", hallte es über die Wellen hinweg, die sich scharf in den Himmel bohrten. „VERRAT!"
Mit wildem Blick rief die Dame des Wassers dem Sturm entgegen:
„Warst du es, der mich hinterging?"
Doch der Sturm schwieg und so zerrte ihn das Meer vom Himmel, band ihn mit Flüchen an die Grenzen einer Stadt der Menschen, über deren Straßen in der Nacht die schweigenden Geister herrschten. „Reih' dich ein unter deinesgleichen, schweige mit ihnen bis du an deinen ungesagten Worten erstickst!"
Die Dame des Wassers kehrte der Küste den Rücken zu. Schweigend blieb dort der Sturm zurück.

2. Die Hexe
„Nein", sagte die Hexe und ihr Blick lag streng auf den Schultern der Meerjungfrau. Das kalte Meerwasser strich durch die langen Strähnen ihrer seetangdurchflochtenen Haare.
„Bitte", flehte die Meerjungfrau leise, doch mit sturem Willen und dem ganzen Mut einer entschlossenen Frau. „Gib' mir die Füße, die ich brauche um zu stehen; gib mir die Beine, die ich brauche, um eigene Schritte zu gehen."
Die Hexe seufzte.
„Was glaubst du nur dort oben zu finden?"
„Hilfe."
Sie würde es alleine versuchen, würde sich über alle Grenzen hinwegsetzen, wenn sie nur Lungen und Beine und Füße hätte, wie die Menschen dort oben. Sie würde ersticken, wenn nötig.
„Das Meer liegt im Sterben und das weißt du", fuhr das Mädchen fort, das sich entschieden hatte, zur Frau zu werden. „Blutige Spuren durchziehen die Wellen, streifen die Korallen in der Tiefe und hüllen die Körper der Haie ein, die erstickend zurück ins Meer geworfen werden."
Die Hexe bedachte die Meerjungfrau mit dem Blick einer Mutter, die wusste, dass sie gegen das Herz ihrer Tochter verloren hatte. Sie strich sich eine Strähne ihrer langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. In den Augen der Meerjungfrau begann die Hoffnung zu leuchten.
„Woraus ziehst du deine Entschlossenheit, Lexa?", wollte die Hexe leise wissen.
Lexa lächelte traurig. „Ich stahl dem Meer ein Leben, das es forderte, Kiana. Wohin sonst sollte mich mein Weg führen?"
„Du setzt deine ganze Hoffnung in dieses eine Leben?"
Lexas Augen wurden kalt und hart. „Ich habe meine Entscheidung in dem Moment getroffen, in dem ich ihn zurück an den Strand brachte. Wenn ich im Meer bleibe, wird es mein Leben für das seine fordern."
Lange betrachtete Kiana sie. Sie legte den Kopf schief, während ihre Fingerspitzen über die Kette aus Muscheln wanderten, die sie um ihren Hals trug. Rau und uneben lagen die Schalen unter ihren Händen. „Ich könnte mich für dich verbürgen, und dein Verrat wäre nach drei Jahren in meinem Dienst gesühnt. Das Wort der Hexen wiegt noch immer viel."
Eine kühle Strömung fuhr durch die Höhle der Meerhexe. Für einen kurzen Moment verdeckte etwas das Licht der Sonne, brach die dünnen Strahlen, die bis unter die Wasseroberfläche drangen. In der Ferne erklangen die Gesänge eines Wals, der mit anderen durch das Wasser glitt, und die Spuren, die eine Delphinschule hinterließ, wurden durch die schwarzblaue Tiefe getragen. Ein Zittern wanderte über die Haut der Meerjungfrau, aber ihr Blick blieb stur und unerschüttert.
„Ich begab mich nicht in die Gefahr dieses Verrats für drei Jahre in Dienerschaft", sagte sie mit kalter, klar geschliffener Stimme und reckte das Kinn nach vorn. „Ich bin Herrin meines Lebens und verband mit dieser Schuld, die ich auf meine Schultern lud, die Hoffnung auf eine Chance. Das Meer verlangt für jeden Mord an seinen Bewohnern das Leben des Schuldigen. Doch ist es längst blind vom Schmerz des Verlustes. Es reißt jedes pochende Herz der Menschen in die Tiefe, das es zu fassen bekommt, so tief wurden ihm die Wunden ins Herz geschlagen."
„Und du willst versuchen, diese Wunden zu schließen?", fuhr Kiana der Meerjungfrau streng ins Wort.
Ihr Blick wurde finster, Wut über solche Unvernunft spielte um ihre Mundwinkel. Aber Lexas Entschluss konnte sie damit nicht brechen.
„Ich will einen Anfang wagen und vielleicht mag er zu spät sein, aber ich möchte nicht sterben, ohne etwas versucht zu haben."
Ein erneutes Seufzen glitt über die Lippen der Hexe, als sie das Gesicht der Meerjungfrau musterte, ihre zu Fäusten geballten Hände, und sie konnte das Rufen des Meeres hören nach einem Leben, das ihm nicht gelassen worden war. Für Lexa würde es keinen Weg zurück geben, wenn sie sich weigerte, drei Jahre in ihrer Dienerschaft zu verbringen.
„Drei freie Jahre", flüsterte sie schließlich und in ihren Augen erhob sich drohend der Tod, doch die Meerjungfrau begegnete ihm ohne Angst. „Drei freie Jahre kann ich dir geben. Wenn du es schaffst, die Augen des Menschen in dieser Zeit für die Wunden des Meeres zu öffnen, werde ich mein Wort für dich geben, und du kannst ins Meer zurückkehren. Doch ich lade mit deiner Verwandlung eine große Schuld auf mich, und wenn du es nicht schaffen solltest, werde ich mit deinem Leben und dem des Menschen meine eigene Schuld tilgen."
Die Gesänge der Wale verebbten. Die sterbenden Strahlen der Sonne streiften die Augen der Meerjungfrau und verwandelten sie in klares Eis. „Dann gebt mir die Feder, um diese Geschichte zu beginnen."

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