Freitag, 13. September 2013

Das Porträt


Eine Perserkatze räkelt sich auf den Dielen des Salons, die von den Strahlen der Nachmittagssonne aufgewärmt sind. Vor dem Fenster weht Wind durch die Äste des Nussbaums und wirbelt Schnee zu Boden. Es ist still im Raum, nur das Schwingen eines Uhrenpendels und das Knistern des Feuers im Kamin sind zu hören. Davor sitzt mit geradem Rücken eine alte Dame. Die warme Luft streift durch die feinen Haare ihres Angorapullovers und versetzt sie in Schwingung. Erst auf den zweiten Blick sieht man die Falten an ihren Augen. Sie sieht hinüber zur anderen Seite des Salons, wo ein junger Mann mit einem Stift in der Hand vor einer Staffelei steht.
Er streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und mustert ihr Gesicht. Zu seinen Füßen liegt ein großer, lederner Koffer gefüllt mit Pinseln und Farbtuben, die den Blick des Betrachters einfangen. Die graue Farbe seines Hemdes blitzt nur noch an wenigen Stellen zwischen den bunten Ölflecken hervor. Sein Blick wandert von der Dame zur Staffelei und zurück. Dabei hinterlässt der Zeichenstift in seiner Hand dünne Linien auf der Leinwand.
„Ich mache heute die Skizze für Ihr Porträt. Es wird vier oder fünf Sitzungen dauern, bis es wirklich fertig ist … wegen den verschiedenen Farbaufträgen.“ Er spricht, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Ihr Blick ruht auf seinem unrasierten Gesicht. Sie schweigt.
Jetzt sieht er sie an. „Erzählen Sie mir etwas von sich!“
„Wie bitte?“ Sie presst ihre Lippen aufeinander.
Plötzlich sind die Falten in ihrem Gesicht deutlich zu sehen.
Er legt den Stift beiseite und lächelt sie an. „Die Qualität eines Porträts hängt davon ab, wie gut der Maler sich in die Person einfühlen kann. Ich versuche nur Sie ein bisschen besser kennen zu lernen, nichts weiter.“
„Wir bezahlen Sie zu malen, nicht dafür, dass Sie meinen Freund oder meinen Seelenklempner spielen!“
„Wie Sie wünschen.“ Er seufzt und nimmt den Stift wieder in die Hand.
Minutenlang ist nur das Kratzen der Kohlespitze auf der Leinwand zu hören.
„Früher habe ich davon geträumt zu singen.“ Ihr Einwurf ist unvermittelt.


Unbeirrt zeichnet er weiter. „Was wollten Sie singen? Oper? Chansons? Pop?“
Sie fährt sich durchs Haar, ein Lächel auf den Lippen. „Die Dietrich sagt Ihnen wahrscheinlich nichts mehr, junger Mann?“
Er hält in der Bewegung inne und schaut sie über seine Brille hinweg an. „Natürlich kenne ich die Dietrich! Was glauben Sie denn?“
„Aber das war doch lange vor Ihrer Zeit.“ Sie schüttelt den Kopf.
„Die Dietrich ist eine Leinwandlegende.“ Er zuckt mit den Schultern, grinsend beginnt er zu singen. „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor…“
Sie lacht.
„Ach, hören Sie mir bloß mit diesem Lied auf!“, winkt sie ab.
„Wieso? Was haben Sie gegen das Lied?“
„Eine junge Frau, die immer wieder zu der Laterne geht und an ihren verstorbenen Soldaten denkt? Ein wenig morbide für meinen Geschmack. Warum soll das Leben denn nicht weitergehen?“ Sie kneift die Augen zusammen.
„Vereint bis in den Tod hinein – finden Sie das nicht romantisch?“ Er zwinkert ihr zu, dann fährt er fort Linien auf die Leinwand zu zeichnen.
„Romantisch? Ich habe eine andere Vorstellung von Romantik.“
„Ich höre?“
Ihre Stirn legt sich in Falten.
„Romantik ist …“ Sie bricht ab und schaut zum Fenster hinaus. Langsam schüttelt sie den Kopf. „Nein, junger Mann, Romantik ist eine Lüge. Eine Vorstellung der man hinterherjagt nur um am Ende festzustellen, dass man für Nichts all das aufgegeben hat, woran man einmal glaubte.“
Mit der Hand fährt sie sich über die Augen.
Sein Blick versucht ihren einzufangen. „Und Liebe?“
„Liebe?“ Lächelnd sieht sie zu Boden. „Finden Sie es heraus, junger Mann. Was soll eine alte Frau wie ich Ihnen schon von Liebe erzählen?“
Es wird still im Raum, das Pfeifen des Windes, der an den Fensterläden rüttelt, übertönt das Pendel der Standuhr. Sie starrt auf die Wand hinter ihm. Die Muskeln an ihrer Wange spannen sich an. Ihre Stirn liegt noch immer in Falten, in den Augen ein Glanz.
Schließlich bricht er das Schweigen. „Welches Lied von der Dietrich gefällt Ihnen?“
Sie blinzelt.
„Wie bitte?“ Ihr Blick mustert sein Gesicht. „Achso … warten Sie …“
Sie schließt die Augen, ein Lächeln huscht über ihre Lippen. Leise beginnt sie zu singen: „Wunderschön ists in Paris auf der Rue Madleen…“
Er sieht sie an. Seine Augen leuchten. An der Stelle „Ich habe noch einen Koffer in Berlin“ fällt er mit ein. „Waren Sie schon einmal auf der Rue Madleen?“ Mit schnellen Bewegungen zieht er dicke Linien über die Leinwand.
„Aber die gibt es doch überhaupt nicht, junger Mann!“ Sie lacht, doch das Lachen stirbt sofort wieder ab. „Alle Orte aus dem Lied habe ich besucht, aber anders als Marlene bin ich wieder nach Hause gekommen und dort geblieben. Dann war Schluss mit den Seligkeiten vergangener Zeiten!“
Er legt den Stift beiseite und holt aus seinem Koffer einen Lappen und einen Radiergummi hervor. Ihre Augen ruhen auf seinen Händen, aber ihr Blick ist nach innen gerichtet. Die Anspannung ist aus ihrem Gesicht gewichen. Nachdenklich, fast verwundert sieht sie aus. Er verwischt die dünnen Linien, die er zu Beginn malte. Leise summt er eine Melodie. Das Lied „Mein Mann ist heute verhindert“. Sie sieht ihm ins Gesicht. Ihre Blicke treffen sich und er summt lauter. Wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Sie sieht ihm direkt in die Augen und singt das Lied für ihn. Er zwinkert ihr zu, ein Grinsen auf dem Gesicht. Draußen dämmert es.
„Gut, die Skizze ist fertig. Ich komme dann nächste Woche wieder?“ Er legt Stift, Lappen und Radiergummi zurück in den Koffer und sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Mit Vergnügen, junger Mann, mit Vergnügen.“ Sie steht auf und nickt ihm zu. An der Tür wendet sie sich noch einmal um. „Darf ich es sehen?“
Er zuckt mit den Schultern und nickt schließlich. „Wenn Sie wollen – es ist erst die Skizze, erwarten Sie nicht zu viel.“
Sie stellt sich neben ihn und blickt auf die Leinwand. Man kann ihre Gesichtszüge in der Skizze der Frau wiedererkennen. Aber die Frau hat ihre Augen geschlossen und lächelt. Nur sie selbst weiß, woran sie eben denkt. Die alte Dame legt dem Maler die Hand auf die Schulter. Ihre Lippen zittern.
„Ja, das ist es … ihre ganz eigene Welt.“ Kurz sieht sie ihm in die Augen. „Danke, besser hätten Sie mich nicht zeichnen können.“ Sie dreht ihm den Rücken zu und eilt aus dem Salon.
„Ich danke Ihnen!“, ruft er.
Aber sie hat die Tür schon hinter sich zugezogen. Einen Moment starrt er auf das dunkle Holz. Dann beugt er sich hinunter und schließt mit gerunzelter Stirn seinen Koffer. Die Tür schwingt wieder auf und ein Mann mit grauem Haar und Schnauzer betritt den Salon. Kurz nickt er dem Maler im Vorbeieilen zu. Dabei streift sein Blick die Skizze.
Er bleibt stehen und starrt auf die Leinwand. „Was ist das?“
Der junge Mann räuspert sich. „Ihre Frau, mein Herr.“
„Meine Frau?“ Der Alte schüttelt den Kopf. „Haben Sie meine Frau überhaupt angesehen? Sie steht mit beiden Beinen im Leben und ist eine kluge und ernst zu nehmende Person. Sie ist nicht jemand, der vor sich hinträumt. Auf ihrem Porträt soll sie dem Betrachter in die Augen sehen - haben Sie mich verstanden?“
Der Maler nickt, ohne den alten Mann anzusehen. Still verdeckt er die Skizze mit einem Leinentuch.

5 Kommentare:

  1. Die Geschichte hat es immerhin auf die shortlist mit 33 anderen von insgesamt über 600 Einsendungen geschafft.
    Die 3 Gewinner kann, wer Interesse hat, nach der Preisverleihung im Oktober hier nachlesen:
    http://www.hamburger-autorenvereinigung.de/
    Es grüßt, wie immer,
    Kryps

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  2. Das, was mir an Deinen Geschichten besonders gut gefällt ist, dass sie immer angenehm rund und leicht klingen, trotz unterschiedlichster Stimmungen.

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  3. Hallo Angela,
    vielen Dank für Deine Rückmeldung. Freue mich sehr :)
    Güße,
    Kryps

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  4. Ja, ich verfolge Deine unterschiedlichstenen Texte mit Interesse und ärgere mich, dass ich die Geschichte, die ich gerade schreibe nicht so rund hinkriege, wie Du Deine. Eigentlich wollte ich ja nicht mehr schreiben, aber diese Geschichte liegt mir sehr am Herzen und jetzt arbeite ich daran....
    Ich bin überzeugt, dass es irgendwann bei einem Wettbewerb klappen wird und du unter die ersten drei kommen wirst!
    Liebe Grüße zurück :)

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  5. Danke :).
    Auf Deine Geschichte bin ich gespannt. Ich hoffe ich darf sie lesen, wenn sie fertig ist.
    Zum Trost: Über dem "Porträt" habe ich lange gebrütet und bin immer noch nicht mit dem Einstieg zufrieden. Mir hat mein persönlicher privat "Lektor" sehr geholfen das Ganze runder, interessanter und glaubhafter zu bekommen.
    Grüße!

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