Donnerstag, 8. Januar 2009

Im Garten der Mensa II


Lasse schlenderte neben Agnes her. Das Seminar war zu Ende, aber er wollte sie noch nicht alleine lassen. Sie war so deprimiert wegen dem Experiment. Er hatte sie bei diesem Soziologieseminar kennen gelernt. Soziologie war ja eigentlich nicht sein Fach, aber über die unorthodoxen Lehrmethoden dieses Seminars wurde im vergangenen Semester viel gemunkelt, und so hatte seine Neugier schließlich gesiegt. Agnes hatte er vom ersten Augenblick ins Herz geschlossen. Er liebte es, wenn sie mit großen Augen um sich sah und alles in sich aufzusaugen schien. Ihre Angewohnheit sich beim Lächeln leicht auf die Unterlippe zu beißen erinnerte ihn an seine kleine Schwester, die er sehr vermisste. Obwohl er und Agnes eigentlich nichts gemeinsam hatten strahlte sie für Lasse deshalb so etwas wie ein kleines Stück Heimat an einem fremden Ort aus.
Während er neben ihr herlief beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Ihr Gang war schleppend, so als mache es ihr große Mühe sich überhaupt noch auf das Gehen zu konzentrieren. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und ihre sonst so großen Augen waren klein, der Blick nach innen gerichtet. Instinktiv rückte er näher an ihre Seite, bis sie sich beinahe berührten. Er konzentrierte sich auf die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, spürte einen Kloß in seinem Hals. Wusste nicht was er ihr sagen könnte, suchte nach Worten, die ihre Augen wieder glänzen ließen, fand aber keine. Die letzten Seminarteilnehmer überholten sie. Lasse bemerkte wie einige sich im Vorbeigehen zu ihnen umdrehten. Er seufzte und sah nach rechts zu Agnes, konnte aber keine Reaktion erkennen. Sie schien ganz in sich versenkt zu sein, trotzdem hatte Lasse das Gefühl, dass sie seine Nähe spürte. Oder vielleicht hoffte er einfach, dass sie spürte wie er sich bemühte irgendwie für sie da zu sein, sie zu trösten. Auch wenn er nicht begriff was sie eigentlich so bedrückte. Als sie durch die Glastür in den Garten vor der Mensa kamen schlug ihnen ein kalter Wind entgegen. Abrupt blieb Lasse stehen. Er bemerkte wie Agnes ihre Bewegungen kurz verlangsamte.
„Agnes?“, sein Herz klopfte wild als er darauf hoffte, dass sie stehen blieb. Er machte mit der Hand eine Bewegung in ihre Richtung, schien es sich dann anders zu überlegen und lies die Hand wieder fallen. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Stirn glättete sich fast unmerklich und ihre Augen wurden ein wenig größer, als ihr Blick langsam aus ihrem Inneren auftauchte, um ihm in die Augen zu sehen. Während er ihren Blick auffing und festhielt trat er einen Schritt näher, bis er ihr genau gegenüber stand. Er war gut einen Kopf größer, sie musste ihren Kopf ein wenig anheben, um den Blickkontakt aufrecht zu halten.
„Was ist los?“, seine Worte blieben zwischen ihnen hängen. Er bemerkte wie ihre Wimpern unruhig zu zittern begannen. Vorsichtig suchte sich seine Hand nun doch einen Weg zu ihr. Er legte sie sanft auf ihre Schulter und zog, wie um seine Frage zu unterstreichen, seine Augenbrauen hoch.
„Ich hab mich vor Bastian völlig blamiert … er hält mich für bekloppt … es wird nie...“, sie brach ab und senkte den Kopf. Es war mehr ein Hauchen, als ein Sprechen. Dann war es still. Die Stille hing zwischen ihnen, unerträglich. Auch wenn er nicht so genau wusste wer Bastian war, hätte er so gerne etwas gesagt, um sie zu trösten, irgendetwas. Er zog die Stirn in Falten und suchte wieder nach Worten. Aber die Worte wirbelten einfach durch seinen Kopf und ließen sich nicht greifen. Von der Straße her hörte er das Geräusch eines Besens, der über die Pflastersteine strich. Der Besen schien weniger eine Störung als ein Unterstreichen der Stille um sie herum zu sein. Dann erinnerte er sich plötzlich an den Moment an dem seine kleine Schwester entdeckte, dass die wunderschönen Schmetterlinge von den hässlichen Raupen abstammen. Unwillkürlich lächelte er, als er sich an die Überraschung in ihrem Gesicht erinnerte. Er berührte Agnes Kinn und hob es langsam wieder nach oben, während er erneut versuchte ihren Blick aufzufangen.
„Hey, kleiner Schmetterling...“, er lächelte, als sie ihn mit ihren großen Augen ansah. Jetzt waren sie plötzlich da, die Worte: „Nicht schlimm, er wird mit Dir lachen, wenn Du ihm die Bananengeschichte erzählst, da bin ich mir sicher!“
Ein Lächeln huschte ganz flüchtig über ihr Gesicht. Erleichtert atmete er aus. Er hätte nicht sagen können, wie lang er ihr so gegenüber stand und jede Regung ihres Gesichtes beobachtete, während er darüber nachdachte wie er sie weiter aufheitern könnte. Sie standen jetzt so eng beisammen, dass ihre Stirn beinahe seine berührte. Er machte einen kleinen Schritt auf sie zu und wollte sie eben in den Arm nehmen, um sie einfach fest zu drücken. Alle Traurigkeit aus ihr heraus drücken. Da unterbrach das Scheppern einer Blechdose die Stille. Agnes wandte ihren Blick zur Straße hin. Sie spannte jeden Muskel an und ihr Körper wirkte plötzlich wie versteinert. Lasse folgte ihrem Blick. Er sah einen jungen Kerl, wahrscheinlich gut 3 oder 4 Jahre jünger als er selbst. Strähnen seines wuscheligen blonden Haares verdeckten sein Gesicht, so dass man seine Augen nicht erkennen konnte. Er hielt den Kopf gesenkt, den Blick scheinbar fest auf den Boden gerichtet. Er hatte die Hände fest in den Taschen seiner Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen. Lasse kniff die Augen zusammen. Etwas an dem Gang dieses Kerles wirkte sehr aggressiv auf ihn, er konnte nicht sagen was genau es war. Noch ehe er begriff hörte er ein Flüstern neben sich:
„Bastian...“
Agnes Hand suchte seinen Arm. Ihre Finger drückten so fest zu, dass er die Fingernägel durch seine Jacke hindurch spürte. Mit großen Augen folgte sie Bastians Bewegungen. Sie schaute immer noch zur Straße, als der schon längst hinter der Mauer verschwunden war und sie nur noch seine Schritte aus weiter Ferne zu ihnen hinüber hallen hörten. Sanft löste Lasse ihren Griff von seinem Arm und seufzte.

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